Sven Wassmer: «Ich habe auf sehr viel verzichtet»

– 20. Oktober 2022
Ein überlastetes Reservierungssystem, ein emotionales Telefonat mit der Familie und zahlreiche berühmte Gratulanten: GastroJournal traf Sven Wassmer (35), den neuen Dreisternekoch, zum Interview.

Der Tag danach. Dienstagnachmittag, Grand Resort Bad Ragaz. In der Lobby scheint alles wie gewohnt zu sein. Hinter dem grossen Weinfenster sortiert Weindirektor Francesco Benvenuto Flaschen ein. Dann blickt er auf und strahlt: «Es ist so krass, so toll!» Nun grinst auch Sabrina Schmidt, die Sommelière und stellvertretende Restaurantleiterin des Verve. Sie gehörte zum Team, das 2019 das Restaurant Memories eröffnete. Zehn Minuten später trifft Sven Wassmer im grünen Salon ein. Den frischesten Eindruck macht er nicht, wäre auch unverständlich gewesen. «Viel habe ich nicht geschlafen», gibt er verschmitzt zu. Zu Hause war er noch gar nicht. Es fühle sich surreal an. Tags davor wurde sein Memories mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Andreas Caminada, Peter Knogl, Franck Giovannini – und nun Sven Wassmer (35). Weltweit sind 138 Köchinnen und Köche mit dem Maximum von drei Sternen ausgezeichnet. Das Grösste für einen Gourmetkoch.

Seine Küchenbrigade ist bereits wieder am Produzieren, das Serviceteam deckt die Tische ein, am Mittwoch erwarten Wassmer und Co. wieder Gäste. «Es geht normal weiter.» Tut es nicht... und das weiss er.

GastroJournal: Wann haben Sie vom dritten Stern erfahren?
Sven Wassmer
: Als ich auf die Bühne gerufen wurde.

Früher erfuhr man das doch vorzeitig.
Deshalb auch der totale Gefühlsausbruch auf der Bühne. Ich dachte auch, ich würde davor einen Anruf kriegen.

Sie kamen mit mehreren Mitarbeitenden an die Sterneverleihung nach Lausanne. Wussten Sie wirklich nichts?
Nein, die waren dabei, weil sie mir wichtig sind. Wir reservierten einen Tisch fürs Galadinner am Abend und ich fragte an, ob ich meine Teammitglieder auch zur Sterneverleihung einladen könnte.

Ein Hotelmitarbeiter schaut vorbei: «Herr Wassmer, gratuliere!»

Im Juli sagten Sie mir im Gespräch, dieses Jahr könnte es so weit sein…
… und am Abend vor der Verleihung sagte mir meine Mutter: «Bei den Oscars wird man ja vorgängig auch nur nominiert und dann vor Ort überrascht. Es wäre ja gar nicht emotional, wenn man es davor erfahren würde.»

Wie war der Moment, als die drei Sterne für Ihr Memories ausgerufen wurde?
Ich sackte zusammen, war wie weg für einen kurzen Moment. Dann pure Emotionen. Ich habe eine wundervolle Frau und zwei wundervolle Kinder. Das sind meine drei Sterne zu Hause. Dass ich nun auch bei der Arbeit drei Sterne habe, ist unglaublich. Wobei man die beiden drei Sterne nicht miteinander vergleichen kann.

Sie stiegen im Memories gleich mit zwei Sternen ein. Dreieinhalb Jahre nach der Eröffnung sind Sie im Olymp angelangt. Wie gross ist die Genugtuung?
Ich weiss nicht, ob Genugtuung das richtige Wort ist. Ich finde noch gar keine Worte, ehrlich gesagt. Es ist einfach unglaublich. Das Memories ist unser ganz eigenes Konzept. Schweizer alpine Küche. Damit drei Sterne zu schaffen, ist… Eben: Ich finde keine Worte. Ich bin extrem dankbar und stolz.

Welche Emotion herrscht hauptsächlich vor?
Dankbarkeit. Gegenüber den Mitarbeitenden, gegenüber allen, die an mich geglaubt haben. Gegenüber General Manager Marco Zanolari, der mir diese Chance gegeben hat, dass ich hier mein Signature Restaurant realisieren darf.

Drei Sterne – weshalb genau jetzt?
Ich habe eine extreme Entwicklung gespürt. Ich koche genau so, wie ich es will. Ich habe mich gefunden. Es fühlt sich richtig an. Das Restaurant ist sehr gut ausgelastet, wir haben viele wiederkehrende Gäste.

Das Menü ist grossartig, das Erlebnis als Gast sehr stimmig, Sie haben auf Viertagewoche umgestellt und kümmern sich besser denn je um die Zufriedenheit Ihrer Mitarbeitenden, Sie wurden zum zweiten Mal Vater und scheinen ruhig und zufrieden zu sein.
Und die Zahlen stimmen auch. Ja, das Jahr ist crazy. Es bewegt sich irgendwie alles in die richtige Richtung.

Sie wussten schon früh, wohin Sie möchten.
Schon als Lernender wusste ich, dass ich zu den besten Köchen der Schweiz oder sogar weltweit gehören will. Ich träumte von drei Sternen. Später wusste ich, dass ich dies mit Schweizer alpiner Küche erreichen möchte. Es fühlt sich nun an, als könne ich der Schweiz etwas zurückgeben, indem ich ihre Küche in die Welt hinaustrage. Die Natur, hier leben zu dürfen, das ist ein riesiges Privileg.

Welche Gratulation freute Sie am meisten?
Jene meiner Frau via Facetime. Wir weinten beide.

Was bedeuten Ihnen die drei Sterne?
Ich kann es noch nicht einordnen, ich fühle mich wie in einer Wolke. Wie viele Leute mir gerade schreiben, ist surreal. Welche international renommierten Köche mir gratulieren – unglaublich. Christian Jürgens, Christian Bau, Rasmus Kofoed, Nick Bril, Björn Frantzén – das ist doch verrückt.

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Sven Wassmer mit seinem Team nach der Sternevergabe. (Bild: Michelin)

Wie haben Sie gefeiert?
Wir waren mit dem Team am Galaabend an der Ecole Hotelière Lausanne. Danach haben wir ein wenig getanzt und getrunken. Im Hotel stiessen wir mit einer Flasche Jacquesson an. Die grosse Feier folgt noch.

Als Sie den dritten Stern erhielten, blickten Sie auf der Bühne zurück und sahen die drei anderen Schweizer Dreisterneköche.
Ich glaubte immer an unsere Idee und träumte davon, mit diesem Konzept in diese Liga aufzusteigen. Ich hoffe, damit viele junge Köche zu motivieren, genau gleich ihr eigenes Ding durchzuziehen.

Die Schweiz hat viele gute Zweisternerestaurants. Aber bei weitem zieht da nicht jedes sein eigenes Ding durch.
Dazu möchte ich zuerst sagen, dass ich bei der Sternezeremonie wieder mal realisierte, wie viel die Schweizer Spitzengastronomie zu bieten hat. Das ist schon krass. Darunter sind zahlreiche Junge, die für ihr Alter schon sehr weit sind. Ich wünsche diesen Köchen eine grosse Portion Resilienz. Die braucht es, um wirklich eine eigene Handschrift zu entwickeln. Die besten Köche kochen aus dem Herz heraus, nicht aus dem Kopf. Dazu braucht es viel Wissen und Tiefgang. Das kommt nicht von heute auf morgen. Stolpern, hinfallen, aufstehen. Sich hinterfragen, aber stets bei sich bleiben. Oder noch mehr zu sich kommen. Das dauert.

Sie haben dafür auf vieles verzichtet.
Alles was man nun sieht, ist ein tolles Restaurant und den Triumph ganz oben. Unter diesem Gipfel steckt brutal viel. Als ich gestern mit meiner Familie telefonierte, wurde ich sehr emotional. Ich realisierte, wie viel ich eigentlich verpasst hatte. Ich war bei der Hochzeit meiner Schwester und bei der Diplomfeier meines Bruders dabei, obwohl das Restaurant geöffnet war. Aber jeden runden Geburtstag, jedes Familienfest habe ich verpasst. Die Familie unterstützte mich stets und bestätigte mich auf dem Weg.

2014 begannen Sie als Küchenchef. Acht Jahre später haben sie drei Sterne. Schneller geht’s kaum.
So gesehen schon. Wenn du aber acht Jahre lang täglich an dieses Ziel denkst, sind acht Jahre lang. Acht mal 365 Tage.

Und wie geht es nun weiter?
Ganz normal. Wir haben zwar gerade ein Problem, dass das Reservierungssystem nach gestern zusammengebrochen ist, aber daran arbeiten wir nun. Morgen steht der nächste Service an und wir sind so gefestigt, dass meine Mitarbeitenden und ich ganz sicher genau gleich arbeiten werden wie davor.

Mit Ihrer Frau Amanda konnten Sie noch nicht anstossen. Passiert das heute Abend?
Erst mal muss ich den grösseren Sohn von der Kita abholen. Amanda hat gerade Rückenprobleme, ich werde deshalb zu Hause kochen. Es gibt wohl eine schnelle Pasta. Dann bringe ich die Kids ins Bett und stosse danach vielleicht noch mit meiner Frau an. Und hoffe, rechtzeitig ins Bett zu kommen. Ich muss Schlaf nachholen.