Sven Wassmer, seit wenigen Monaten sind Sie zweifacher Vater. Wie kurz sind die Nächte?
Sven Wassmer: Ich komme nicht zu viel Schlaf. Meine Frau Amanda schläft noch weniger. Aber wir klagen nicht, den Kids geht es gut. Elijah hat Freude an seinem kleinen Bruder Ezra.
Und wie läufts im Memories?
Danke, sehr gut.
Wie steht es bei Ihnen um die Work-Life-Balance? Mir scheint, als brauchen Köche einfach immer Extreme. Extrem viel arbeiten und als Ausgleich etwas anderes Extremes. Früher waren es Drogenexzesse, heute Sport.
Das hat schon was. Drogenprobleme gibt es immer noch, aber gewiss weniger als früher. Tatsächlich gibt es einige, die brutal viel Sport treiben. Manuel Masala aus meinem Team ist Triathlet. Was der schon morgens vor der Arbeit für ein Programm abspult, ist crazy. Andere Berufskollegen wurden eifrige Crossfitter, Velofahrer oder Marathonläufer. Bei manchen frage ich mich: «Seid ihr auch noch am Leben und Geniessen? Oder gibts in eurem Leben nur noch die Arbeit und den Sport?»
Da sieht es bei Ihnen gemütlicher aus, wenn Sie ein Video von Ihnen beim Skateboarden auf Instagram posten.
Ich liebe es, die perfekte Mischung aus Bewegung und Spass. Aber ich gehe auch zweimal pro Woche ins Gym zu meinem Personal Trainer. Den brauche ich, weil er mich vor Ausreden schützt und weil er mich eine Stunde lang quält.
Im Memories haben Sie von der Fünf- auf die Viertagewoche umgestellt. Weshalb?
Das schwirrte mir schon immer im Kopf herum. Wir in der Schweiz hinken etwa den Skandinaviern diesbezüglich ein wenig hinterher. Gleichzeitig sind wir aber ein Restaurant, das nur abends geöffnet ist. Und irgendwie müssen wir ja auf unsere Umsätze kommen. Als dann die Covidkrise kam, war unser Restaurant immer ausgebucht. Zu Beginn noch mit fünf offenen Tagen pro Woche. Also sagte ich mir: «Eine ausserordentliche Situation erlaubt es mir auch, ausserordentliche Dinge auszuprobieren.»
Sie sagen, das Restaurant sei stets ausgebucht gewesen. Weshalb wollten Sie dennoch etwas ändern?
Ich merkte einfach, dass das nicht nachhaltig ist, wenn meine Mitarbeiter an fünf Tagen pro Woche 12 bis 13 Stunden arbeiten. Da kommt man nicht weiter: ich nicht, meine Mitarbeiter nicht, die Qualität nicht. Also probierte ich es nach den Ferien aus: vier statt fünf Tage. Ich wollte es versuchen, um vergleichen zu können. Mich störte es schon länger, wie sich bei allen die Überstunden anhäuften. Die bauten wir teils zwar mit mehr Ferien ab, aber wir können ja nicht drei Monate ferienbedingt schliessen.
Was stellten Sie beim Ausprobieren fest?
Wir hatten noch mehr Stabilität punkto Auslastung. Während Covid war das Restaurant zwar immer voll, aber als die ersten Lockerungen kamen, half uns die Viertagewoche. Zuvor hatten wir am Dienstag und Mittwoch Schwankungen. Nun ist das Restaurant am Dienstag zu – und am Mittwoch immer ausgebucht. Das gibt Planungssicherheit. Am Dienstag sind wir seither flexibel. Er dient zum Kompensieren, für Meetings, für Events, zum Sammeln in der Natur, zum Testen in der Küche oder gibt mir die Möglichkeit, ganz alleine kreativ zu wirken oder Büroarbeiten zu erledigen, um während der anderen Tage konsequenter beim Team in der Küche zu sein.
«Wie kriegen Amanda und ich das hin, wenn beide weiter im Spitzenrestaurant arbeiten möchten?» (Foto: zVg)
Nachhaltigkeit wird im Grand Resort Bad Ragaz grossgeschrieben. Oft stehen dabei aber die Reduzierung des Food Waste und des CO2-Ausstosses im Fokus. Wird dabei die Nachhaltigkeit beim Menschen vergessen?
Ich habe im Resort so tolle Möglichkeiten. Also will ich daraus etwas Gutes machen. Ich will die Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Branche nicht weiter vorantreiben. Es ergibt langfristig keinen Sinn, die Zitrone maximal auszupressen. Lieber denke ich darüber nach, sogar noch eine Person anzustellen, damit wir hie und da in Schichten arbeiten können, einer mal nur eine Produktionsschicht hat und dann einen freien Abend geniesst. Ein Chef, der fünf Tage pro Woche sein Programm runterspulen muss, kommt wohl gar nicht auf solche Ideen. Dafür braucht es Freiraum. Den habe ich im Grand Resort.
Stellen Sie bereits mehr Frische im Team fest?
Ich finde schon. Meine Leute können nun besser herunterfahren. Zudem gibt ihnen diese Änderung ein Gefühl der Sicherheit: Sie vertrauen mir, sie wissen, dass sie mir wichtig sind und ich sie nicht ausbeuten möchte. Und sie wissen, dass es nun einen zusätzlichen Tag gibt, an dem man auch mal Verpasstes aufholen kann, ohne in einen Strudel zu geraten.
Ein spannender Punkt! Die Mitarbeitenden glauben an Sie.
Definitiv. Wir wollen weg von der Angstkultur, die man in der Branche teils kennt. Ich lasse meine Mitarbeitenden an meinen Ideen teilhaben. Lange glaubte ich, alle fänden es toll, nur einen Service pro Tag und keine Zimmerstunde zu haben. Es kann aber sein, dass es Mitarbeitende gibt, die gerne jeden Morgen früh aufstehen und einen Teildienst haben. Die Idee des Chefs ist nicht immer die beste.
Wer seinen Mitarbeitenden Vertrauen schenkt und zuhört, erntet gewiss viel brauchbaren Input und Motivation.
Das habe ich erst mit den Jahren gelernt. Ich will mich nicht als heiligen Apostel hinstellen. Ich habe früher so geführt, wie ich es von früheren Betrieben als Koch gewohnt war. Zackzack, wie ein Boss. Heute ist es täglich mein Ziel, ein besserer Leader zu werden und das Beste aus meinen Leuten herauszuholen.
Zackzack, wie ein Boss?
Wenn ich an die Zeit in den Bergen zurückdenke – meine Güte! Aber wie hätte ich es denn besser machen sollen? Ich war 27-jährig, musste auf einmal Leute führen, stand in der Verantwortung, der Erfolg war schnell da. Ich war noch nicht dreissig, da hatte ich schon zwei Sterne und 18 Punkte. Ich bin kein Übermensch. Die Situation überforderte mich.
René Redzepi, der Dreisternekoch des Kopenhagener Noma, sagte mir vor Kurzem, er sei einst ein Arschloch als Chef gewesen. Erst durch Therapie habe er zu sich gefunden und sei so zur vorbildlichen Führungspersönlichkeit gewachsen.
Das gilt auch für mich, ich war auch nicht immer der Angenehmste. Ich führte so, wie ich es teils selbst erlebt hatte: Die Schule, durch die ich ging, war ruppig und hart. Aber ich habe mich weiterentwickelt. Ich musste mit einigem klarkommen, das ich angerichtet hatte. Ich begann, an mir zu arbeiten.
Führte Andreas Caminada auch so hart?
Nein, keineswegs soll ein schlechtes Bild von Andreas entstehen. Meiner Erkenntnis liegen andere Erlebnisse zugrunde. Schauen Sie, ich stamme aus einer Generation, die nicht wie die heutige tickt. Ich wollte nur arbeiten, dabei sein, wo Grosses entsteht. Da dachte ich nie darüber nach, wie viel ich arbeitete. Nicht selten stand ich 16 Stunden in der Küche. Vier Monate lang arbeitete ich mit einer Mittelfussentzündung. Anstatt diese auszukurieren, humpelte ich drei Monate lang mit nur einem Schuh herum, damit ich die Schmerzen aushielt.
Wie haben Sie das über längere Zeit ausgehalten?
Das frage ich mich heute manchmal auch. Zumal ich nie Drogen konsumierte.
Kein Vorwurf?
Nein, ich tat es aus Passion. Ich brannte für den Job. Aber ich will das heute keinem mehr zumuten.
Wo liegen heute die Grenzen des Zumutbaren?
Arbeitstage von zehn, elf Stunden gibt es in jedem Beruf. Aber ich finde es erschreckend, wie normal für uns Köche diese ewig langen Arbeitstage sind. Als ich den Vorschlag der Arbeitsteilung in Schichten einbrachte, waren meine Mitarbeitenden überfordert.
Wie viele Stunden arbeiten Ihre Mitarbeitenden zurzeit?
Im Durchschnitt zehneinhalb Stunden pro Tag bei vier offenen Tagen pro Woche. Davor hatten wir an fünf Tagen geöffnet und arbeiteten zwölf Stunden pro Tag.
Haben Sie Freunde ausserhalb der Branche?
Ja, aber ich sehe sie fast nie. Erst recht nicht, seit ich Vater bin.
Wie hat Sie das Vaterwerden verändert?
Um 180 Grad. Ich entschied mich damals für einen Schnitt und beendete meine Zeit im 7132 Hotel in Vals GR. Leider kam es
zu einer unschönen Trennung. Ich wollte mir Zeit nehmen für unseren Sohn und wurde hierfür als Verbrecher hingestellt. Da musste ich erst mal innehalten. Nun wurde ich kürzlich zum zweiten Mal Vater – und ich drehte mich nochmals um 180 Grad.
Erklären Sie!
Ich musste mir Gedanken machen: Wie kriegen Amanda und ich das hin, wenn beide weiter im Spitzenrestaurant arbeiten möchten? Mir fiel auf, wie ich seit meiner Lehrzeit alles dem beruflichen Erfolg unterordnet hatte. Ich möchte den Erfolg nicht missen, aber diese Welt ist, wenn der Ausgleich fehlt, ungesund.
Zu welchem Schluss kamen Sie?
Die Gedanken änderten meine Definition von Erfolg. Da steht nun der Mitarbeitende sehr im Fokus. Während es mir früher nur um den Erfolg in den Gastroguides ging.
Und heute nicht mehr?
Ich träume schon so lange von den höchsten Bewertungen, die will ich nach wie vor erreichen. Aber auf humane Weise.
Wie oft denken Sie an den dritten Michelin-Stern?
Ich hoffe, wir kriegen ihn am 17. Oktober (lacht). Sorry, dass ich das so sage. Irgendwie habe ich das Gefühl, dieses Jahr könnte es so weit sein. Wieso? Weiss ich nicht.
Und falls nicht?
Dann arbeiten wir weiter. Und irgendwann würde ich auch akzeptieren, dass ich diesen dritten Stern nicht kriege. Ich habe meine eigene Handschrift immer klarer definiert und bin mit ihr happy, das Restaurant ist voll. Wir haben zahlreiche wiederkehrende Gäste, denen wir die Memories-Geschichte erzählen dürfen. Dafür arbeite ich mit einem sehr talentierten Team, und auf dieses möchte ich achtgeben, damit die Reise nachhaltig ist und sehr lange dauert.
★ Sven Wassmer (35)
Nach der Kochlehre im Swissôtel Basel prägte ihn die Zeit im Schloss Schauenstein unter Andreas Caminada sowie als Souschef im Londoner Viajante und im Park Hotel Vitznau unter Nenad Mlinarevic. 2014 wurde der Fricktaler Chef im Restaurant Silver im 7132 Hotel in Vals GR und wurde mit 2 Michelin-Sternen und 18 GaultMillau-Punkten ausgezeichnet. Seit 2019 ist er Culinary Director im Grand Resort Bad Ragaz. Seine Restaurants: Memories (2 Sterne, 18 Punkte) und Verve by Sven (1 Stern, 14 Punkte).