Gastronomie

Standards neu gedacht: «Normal oder mit Fleisch?»

Corinne Nusskern – 13. Juni 2024
Das Thema der 4th International Food Innovation Conference am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon ZH heisst: «Culture Clash – When Food Inno­vation Meets Tradition». Ja, was passiert da, und welche Rolle spielt dabei die Gastronomie? Die GDI-Trendforscherin Christine Schäfer erklärt.

Christine Schäfer, unsere Esskultur ist im Wandel: Wie gut verstehen sich beim Essen Innovation und Tradition?
Christine Schäfer
: Das Traditionelle kann im Bereich der Innovation oft eine Hürde sein. In der Schweiz sind die Menschen stark von der alpinen Landwirtschaft, die mit Kühen, Geissen und Schafen bewirtschaftet wird, geprägt. Dies spiegelt sich in unserer Esskul­tur, in der Käse, Milch und Fleisch sehr präsent sind. Auch die Werbung spielt gern mit dem Bild der grünen Alpenwiese mit glücklich grasenden Kühen – das ist Teil unserer Identität. Dass da Themen wie «Wir essen zu viele tierische Produk­te», «Kühe sind schlecht für die Um­welt» oder «Wir haben neue Foodtech-Lösungen aus dem Labor» auf Widerstand stossen, überrascht nicht. Es ist ungewohnt und fremd. Deshalb ist es wichtig, Veränderungen zu diskutieren.

 

Nicht nur Gewohntes, auch der Genuss steht für die meisten ganz oben. Wie schafft man es da, Innovationen und nachhaltigere Produkte zu etablieren?
Mit rationalen Argumenten kommt man auf einem emotionalen Gebiet wie der Ernährung nur begrenzt weiter. Wenn man es jedoch über den Genuss steuert und den Leuten zeigen kann, dass innovative oder nachhaltige Produkte aus der Region richtig fein sind und es Freude macht, diese zu essen – dann erreicht man die Menschen.

 

Kann die Gastronomie da als Akteurin etwas bewegen?
Der Gastronomie fällt eine wichtige Rolle zu, um Nachhaltiges oder Innovatives an die Konsumenten und Konsumen­tinnen zu bringen. Sie zeigt den Gästen neue und genussvolle Möglichkeiten auf, ohne dass sie sich selbst über die Produkte informieren müssen, sie selbst einkaufen oder gar wissen müssen, wie sie korrekt zubereitet werden, damit sie auch schmecken.

Jünge­re Gastronomen sind für Innovationen meist offen. Andere tun sich schwer damit, auch Gäste. Warum sind wir beim Essen so stur?
Essen ist mit vielen Erinnerungen, oft noch aus der frühen Kindheit, verknüpft. Es ist etwas sehr Persönliches und Intimes. Was ich esse, wird schliesslich zu einem Teil meines Körpers, und darüber möchte jeder Mensch selbst entscheiden können. Wir sind nun mal sehr widersprüchliche Wesen: Wir wollen uns gesund ernähren. Haben wir aber Lust auf Chips und Fastfood, dann konsumieren wir diese auch, obwohl wir wissen, dass es nicht gesund ist. Punkt. Niemand will sich da etwas vorschreiben lassen.

 

Immer wieder gehört: Der Gast will das Cordon bleu und das Schweinssteak. Kann die Gastronomie die Gäste unterschwellig zu einem gesünderen und nachhaltigerem Essverhalten lenken?
Ja, indem man umdenkt und neue Standards definiert. Eine simple Umkehrung von Standards kann etwa die Frage an den Gast «Normal oder mit Fleisch?» sein. Es wäre so einfach. Vor allem die Gemeinschaftsgastronomie hat da einen grossen Hebel, da sie in Mensen und Kantinen sehr viele Leute erreicht. Aber es gibt Dinge, die sind nicht steuerbar. Bei uns im Haus nehmen viele aus Prinzip stets das Vegimenü – aber wenn es Cordon bleu oder Schnitzel gibt, melden sich nur noch sehr wenige für das Vegimenü (lacht). Keine Ahnung, was es mit diesen frittierten Sachen auf sich hat!

 

Die Umkehrung von Standards braucht jedoch Zeit, um sich zu verankern.
Sie lässt sich zwar im Nu umsetzen, doch die Bewegung in den Köpfen der Menschen hinkt etwas hinterher. Bis sich ein gesellschaftlicher Wandel etabliert, braucht es als groben Richtwert ei­ne Generation. Bei den neuen Generationen hat schon viel Umdenken stattgefunden, sie sind sich der Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens bewusst.

 

Weniger tierische Produkte ist einer der Hebel. Doch braucht es wirklich Ersatzprodukte wie gezüchteten Zellkultur-Kaviar oder Sojaschnitzel?
Ja und nein. Das hat damit zu tun, dass unsere traditionelle Esskultur das Pro­teinprodukt, meist Fleisch, als Hauptkomponente definiert, dazu gibt es Beilagen und Gemüse. Wenn jemand fragt: «Was gibt es heute in der Kantine?», heisst es meist nicht Blumenkohl und Salat, sondern Poulet. Solange wir in diesen Strukturen denken, erleichtern Ersatzproduk­te vielen Menschen den Umstieg auf eine nachhaltigere, tierfreundlichere Alternative, damit sie ihren Lebensstil nicht zu stark verändern müssen. Doch ich denke sie sind eher eine Übergangslösung.

 

Und dann?
Um einen echten Wandel in der Ess­kultur herbeizuführen, genügt das Individuum nicht, es gilt, auf gesellschaftlicher Ebene etwas zu bewegen. Die Hauptrolle des Fleisches kann auch durch Zuwanderung und Vermischung von Esskulturen verändert werden. Das ist ein äusserst bereichernder und spannender Punkt der Globalisierung und Migration! Es muss nicht immer Gulasch sein, es darf auch ein Kicher­erbsencurry oder ein thailändisches Ge­richt sein, das vielleicht Fleisch enthält, aber nur in kleiner Menge, denn die Proteinquelle spielt da nicht mehr die Hauptrolle.

 

Für eine echte Transformation braucht es die Zusammenarbeit aller Akteure: Landwirtschaft, Industrie, Handel, Gastronomie, Konsumierende und Politik. Wie ist das umsetzbar?
Das habe ich leider noch nicht herausgefunden. Unser Ernährungssystem ist so komplex, alle Player hängen voneinander ab. Dadurch hat niemand die Möglichkeit, alleine etwas zu verändern. Deshalb sieht sich auch niemand wirklich in der Verantwortung. Es ist ein ständiges Hin- und Herschieben der Zuständigkeiten. Besonders gerne wird auf die Eigenverantwortung der Konsumenten hingewiesen, à la «Ihr müsst die Erdbeeren im Februar ja nicht kaufen!». Das ist aber zu kurz gedacht ...

 

Ich vermute, nicht jeder Konsument ist sich dessen bewusst ...
Für den «European Food Trends Report 2023» haben wir eine Konsumentinnenbefragung gemacht und ein Quiz mit fünf Fragen zu nachhaltiger Ernährung eingebaut. Obwohl wir in der Schweiz ein hohes Bildungsniveau haben, stellten wir fest, dass nur 17 Prozent die Mehrheit der Fragen richtig beantworten konnten.

 

Kann eine einzelne Gastronomin da zu einem Wandel beitragen?
Eine einzelne Gastronomin kann die Welt nicht verändern, aber sie hat eine grössere Reichweite als eine Einzelperson. Und sie kann zeigen, dass eine Verheiratung von Innovation, Tradition und Genuss möglich ist.

 

Wo geht die Reise hin – was wird in 15 Jahren auf den Speisekarten stehen?
Ich denke, wir werden weniger tierische Produkte sehen. Zudem stelle ich mir eine Verkleinerung der Speisekarte vor, mit 5 statt 50 Optionen, die den Fokus noch stärker auf Saisonalität und Regionalität oder auf eine andere Nische legen. Es gibt Studien, dass Gäste nach einem Besuch in einem Restaurant mit kleinerer Karte zufriedener mit ihrer Wahl sind und weniger das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben.

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★ Auf den Spuren von Trends:

Christine Schäfer (34) ist Forscherin und Referentin am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon ZH. Seit acht Jahren analysiert die Luzernerin ge­sellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Essen, Konsum und Handel. Sie ist Mitautorin des
«European Food Trends Report».

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4th International Food Innovation Conference:
«Culture Clash – When Food Innovation Meets Tradition»

Ort: Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon ZH
Datum: 19. Juni 2024
Infos unter: gdi.ch/events/konferenzen