«Was sich zuletzt verkauft? Das Filet!»

Corinne Nusskern – 11. Januar 2024
Bei Fleisch gehen weder Nicola Eicke von Das Fleisch noch George Tomlin vom Zürcher Restaurant Silex Kompromisse ein. Das Tier­­­wohl, eine echte Freilandhaltung und die Philosophie, Fleisch höchster Qualität vor die Quantität zu setzen, verbinden den Schwei­nez­üchter und den Küchenchef – von der Weide bis zum Teller.

Ein Hof am Dorfrand von Neftenbach ZH: Im Schweinegalopp rennen 20 Wollschweine von der oberen Weide auf eine weiter unten gelegene. Sie drücken ihre Nasen ins taufrische Gras, ein ganz glückliches findet etwas Fallobst. Die 15 Duroc­-Schweine zögern, sie brauchen länger für den Weidewechsel. Kein Problem für Nicola Eicke (38), er lässt seinen Sauen alle Zeit der Welt, beim Wachsen und Ausleben ihrer Bedürfnisse. Der Schweinezüchter, Produzent und gelernte Koch hält auf drei Partnerhöfen im Kanton Zürich 60 Duroc- und 50 Wollschwei­ne in Weide- und Freilandhaltung. Zur Sau kam Eicke durch das einst heimische Pröbeln, Speck und Schinken selbst zu produzieren. Da er jedoch nicht das Fleisch seiner Qualitätsansprüche fand, begann er, selbst Schweine zu halten. So startete er 2015 auf dem Hof seines Onkels in Neftenbach ZH mit sechs Wollschweinen, später kamen die Duroc dazu. Rund 80 Prozent seines Fleisches, das er unter dem Label «DasFleisch.ch» vermarktet, gehen in die Gastronomie, etwa ins Maison Manesse, ins Dolder Grand, in den Lindenhofkeller (alle Zürich), ins Rosa Pulver (Winterthur), aber auch in die Schlössliklinik in Oetwil am See ZH oder in die Hirslandenklinik. Und ins Restaurant Silex: Der Küchenchef und Mitinhaber George Tomlin gehört zu seinen langjährigsten Stammkunden. Mit seiner auf Produzenten ausgerichteten Küche ist der gebürtige Engländer einer der spannendsten Köche in Zürich. Er teilt die gleichen Werte wie Eicke.

Nicola Eicke, Sie scheinen sich so richtig wohlzufühlen zwischen Ihren Schweinen. Wie oft sind Sie hier?
Nicola Eicke: Es sind wunderbare Tiere! Ich bin drei bis sieben Tage pro Woche hier, liefere das Futter an und schaue nach ihnen. Ich mache alles ausser der Fütterung, die übernimmt mein Onkel, der auf dem Hof lebt. Ich bin kein Bauer, deswegen leben die Tiere verteilt auf drei Höfen.
George Tomlin, wie fühlen Sie sich zwischen all den Sauen?
George Tomlin: Ich liebe es! Ich mag es, die Tiere zu sehen und mit Nicolas zusammenzuarbeiten. Als Koch ist dies die Verbindung zu dem, was wir auf den Teller bringen. Für mich schliesst sich da ein Kreis.

Und hier haben die Schweine so richtig viel Platz!
Eicke: O ja, jedes Tier lebt draussen und hat 200 Quadratmeter. Im Vergleich: Ein Biomastschwein muss nur mindestens 1,65 Quadratmeter Platz haben. Meine Schweine haben 100-mal mehr Platz! Sie brauchen diesen auch, da sie viel Gras fressen und die Weiden wechseln. Der Rest ihrer Nahrung besteht aus Hafer, Gerste, altem Brot, Biertreber oder Apfeltrester.

George Tomlin, wie wichtig ist Ihnen als Koch, dass die Tiere ein so schönes Sauleben haben?
Tomlin: Es ist das Nonplusultra! Dank ihrem schönen Leben ist das Fleisch viel schmackhafter. Man hält seinen Hund ja auch nicht in einem kleinen Käfig! Im Silex arbeiten wir nur mit Tieren, die ein gutes Leben hatten. Unsere Philosophie heisst: Weniger Fleisch, dafür gutes Fleisch. Wir können uns glücklich schätzen, eine Klientel zu haben, die bereit ist, dafür mehr zu bezahlen. Zu Beginn war es schwer, doch heute kommen die Gäste genau deswegen zu uns.
Eicke: Leider ist dies nicht überall so. Viele möchten Fleisch von Weidetieren, sind aber nicht bereit, mehr dafür zu bezahlen.

Die Schweine wachsen hier ganz natürlich heran, was eine bessere Fleischqualität verspricht. Wie zeigt sich diese?
Eicke: Das Fleisch des Wollschweins ist röter, hat einen hohen Fettanteil und einen nussigen Geschmack. Beim Duroc macht die gleichmässige Fettmaserung das Fleisch saftig und zart.
Tomlin: Die Textur des Duroc-Koteletts mit seinem intermuskulären Fett ist der Wahnsinn! Es weist alle Farben von Weiss bis Dunkelrot auf und sieht aus wie ein Wagyu-Steak. Nicola gibt ihnen vier Wochen Dryage-Zeit, und ich lagere es nochmals zwei Wochen. Der Geschmack ist unglaublich.

Wann werden die Tiere geschlachtet – und sind Sie dabei?
Eicke: Ein Wollschwein braucht 14 bis 18 Monate bis zur Schlachtreife und wiegt am Haken 70 Kilo, ein Duroc-Schwein lebt 10 bis 12 Monate und wiegt am Haken rund 130 Kilo. Meist gehe ich mit zum Schlachter. Zusammen mit meinem Metzger des Vertrauens zerteilen wir die Tiere nach meinen Wünschen oder denen der Gastrokunden. Jedes Teil wird verwertet. Ich produziere selbst Prosciutto am Knochen, Salame, Culatello oder Lardo aus dem Rückenfett. Es war ein langer Prozess, bis ich dies auf diesem hohen Qualitätsniveau ohne E-Nummern, ohne Nitritpökelsalz oder Zucker geschafft habe. Ich bin so oft gescheitert, aber ich habe es wieder und anders probiert – denn ich möchte aus jedem Teil des Tieres das Beste machen.
Tomlin: Er macht mein Leben einfacher! (lacht) Nicola gehört zu den Leuten, mit denen ich arbeiten will. Menschen, die eine Leidenschaft haben für das Tier und das Produkt.

George Tomlin, welches sind Ihre Lieblingsstücke?
Tomlin: Mir wird schnell langweilig, deshalb verwende ich nicht nur das Wahnsinnskotelett. Schweine sind grosszügige Tiere, ihr Fleisch lässt viele Kreationen zu. Ich mag die Köpfe und die Bäuche. Der vom Wollschwein ist schön fettig, der vom Duroc extrem geschmackvoll. Aus der Duroc-Schulter machen wir Hackfleisch oder Geschmortes und aus diversen Teilen des Wollschweins auch Fleischterrinen nach alter französischer Art.

Wie beschreiben Sie Ihre Küche, was macht sie einzigartig?
Tomlin: Modern europäisch? (lacht) Wir machen alles von Grund auf selbst. Aber vor allem konzentrieren wir uns auf die Produzenten, so sollten Restaurants doch funktionieren! All unsere Charcuterie etwa kaufen wir bei Nicola.
Eicke: Und es ist toll, was sie damit machen, etwa der Lardo-Toast. Erinnerst du dich an den Lardo der älteren Wollschweinmutter? Der war zehn Zentimeter dick, gutes, leckeres Fett.
Tomlin: Oh ja, of course! Der Lardo-Toast ist heute eines unserer meistverkauften Gerichte: Ein Sauerteigtoast wird in einen Butterhonigmix getaucht, mit dünn geschnittenem Lardo belegt und mit gepickelten Bärlauchkapern vollendet.

Welches Gericht, das George Tomlin aus Ihren Sauen kreiert hat, hat Sie am meisten überrascht?
Eicke: Die Wollschweinkoteletts mit dem wahnsinnigen Fettanteil von 70 Prozent. Schön am Stück gebraten und in hal­be Zentimeter dicke Stücke aufgeschnitten. Das Gericht war verrückt!
Tomlin: Jeder mag es, es ist so lecker. Das ist die extreme Seite unserer Karte.

Ihre Gerichte sind ausgeklügelt, aufwendig, aber grundehrlich. Wie entstehen sie: Erst, wenn Sie das Produkt in Händen halten – oder vorher?
Tomlin: Das funktioniert in beide Richtungen. Manchmal sehe ich etwas und sage: «Wow! Ich möchte jetzt etwas damit machen.» Manchmal wissen wir, dass jener Bauer nächsten Monat tolle kleine Karotten haben wird, also planen wir ein Karottengericht. Wir ändern unsere Speisekarte ständig, nicht nur drei- oder viermal im Jahr.
Da kommt auch mal ein geräuchertes rohes Rinderherz auf die Karte. Sind die Zürcher dafür bereit?
Tomlin: Überraschenderweise ja. Die meisten achten nicht auf das Wort Herz, sie sehen nur das Tatar vor sich, mageres Eiweiss, welches überhaupt nicht komisch aussieht. Wir trocknen die Rinderherzen zwei Tage lang, dann werden sie während eines Tages kalt geräuchert und danach nochmals getrocknet. Nur etwa zehn Prozent unserer Gäste bitten uns darum, den Rinderherzgang im Degustationsmenü zu ersetzen. Wir versuchen immer, ein Gericht auf der Speisekarte zu haben, das etwas polarisiert.

Seit Sie das Silex vor zwei Jahren eröffnet haben, gehören Sie zu Nicola Eickes Stammkunden. Woher kennen Sie sich?
Tomlin: Ich habe damals nach Wollschweinen gegoogelt und rund 15 Leuten angefragt. Keiner hat geantwortet, nur Nicola hat mich sofort angerufen. Und als ich seine Schweine sah, habe ich mich sofort in sie verliebt. Seither ist sein Fleisch das Hauptprotein bei uns.

Wie wertvoll ist der Kontakt zwischen Produzent und Koch?
Eicke: Sehr! Ich bringe dasselbe Produkt zu diversen Kö­chen, und alle machen etwas anderes daraus. Zudem kann ich mit den besten Köchen arbeiten, die grossartige Sachen kreieren und ein noch besseres Produkt aus dem Originalstück machen.
Tomlin: Durch die persönlichen Gespräche erfahre ich viel über die Tiere und deren Fleisch, und man schätzt die Arbeit des andern so viel mehr.
Eicke: Wenn er etwas braucht, das ich nicht habe, organisiere ich es. Im Herbst hat George mehrere Damhirsche von einem Jäger aus meinem Netzwerk verkocht. Und ich habe meist gefrorenes Blut für ihn parat, weil ich weiss, dass er dies mag.

Lernt ihr auch voneinander?
Tomlin: O ja, wir lernen über die Prozesse des anderen. Oder ich erfahre von den Kämpfen, die er als kleiner Produzent hat. Was er macht, ist der blanke Wahnsinn.
Eicke: Der Erfolg stellt sich nicht am ersten Tag ein. Natürlich könnte ich viel mehr Geld verdienen, wenn ich etwas anderes machen würde, aber mein Ziel und meine Leidenschaft ist es, die beste Schweinefleischqualität auf dem Markt zu haben und immer noch besser zu werden.

Können Sie von dieser Art, Schweine zu halten, leben?
Eicke: Ich kann leben (schmunzelt). Da ich nicht nur Fleisch verkaufe, sondern eigene Trockenfleischprodukte herstelle, habe ich eine bessere Wertschöpfung aus einem Stück Fleisch. Den über mehrere Jahre knochengereiften Prosciutto verkaufe ich für 200 Franken pro Kilo, den Lardo für 80 Franken pro Kilo. Die Kunden sind bereit, den Preis für diese Qualität und die artgerechte Tierhaltung zu bezahlen. Die Kehrseite: Teilweise dauert der Prozess bis zu fünf Jahre, bis die Produkte in den Verkauf kommen. Die Bauern muss ich jedoch jetzt bezahlen. Es braucht einen langen Atem.

Fleisch ist ein kontroverses Produkt. Wie steht ihr zum Fleischkonsum?
Eicke: Niemand braucht 300 Gramm Fleisch zu essen.
Tomlin: Man darf Fleisch weiterhin geniessen, aber wir sollten weniger davon essen. Fleisch sollte wieder ein Gericht für besondere Anlässe werden, eine Art Belohnung. Es gibt so viele andere tolle Produkte! Das Green Washing der Labels ist dabei nicht hilfreich, und diese Massenproduktion und Kommerzialisierung von Fleisch ist absurd.
Eicke: Es beginnt bereits mit dem Schinkensandwich von der Tankstelle … Qualität muss bei Fleisch vor Quantität stehen.

Was sind aktuell Ihre grössten Herausforderungen?
Eicke: Viele! (lacht) Die richtige Menge an Stücken für die Res­taurants zu haben, manchmal habe ich von jenen zu viele und von diesen zu wenige. Interessant übrigens: Das Filet ist das letzte Teil, das ich jeweils verkaufe! Dafür könnte ich jedes Jahr 500 Zungen verkaufen, aber jedes Tier hat nun mal nur eine.

Was wünscht ihr euch für 2024?
Eicke: Ein bisschen mehr Beständigkeit. Und ich möchte mich vermehrt auf die Restaurants konzentrieren. Mein Ziel ist es, noch mehr Partnerschaften mit ihnen und den Köchen zu haben. Es braucht viel Zeit, dies aufzubauen.
Tomlin: Köche sind keine einfachen Leute … (schmunzelt). Ich möchte ein weiteres Restaurant, um unser Geschäft ein wenig zu erweitern. Wir sind sehr glücklich mit unseren Mitarbeitenden, und ich möchte, dass alle interessiert bleiben und ihnen mehr Verantwortung übertragen und mehr leitende Positionen schaffen. Das ist für mich ein Antrieb, bald einen zweiten Standort zu eröffnen.
Eicke: Ein zweites Restaurant? Das ist grossartig, auch für mich – I love it!