«Meine Tiere kommen direkt vom Wald zu mir ins Restaurant»

– 02. Juni 2023
In der Taverne Johann in Basel folgt Chefkoch Chris Hartmann seiner ganz eigenen Philosophie: Wild das ganze Jahr auf der Speisekarte. Mit seinen Jägern ist er eng befreundet. Ein Gespräch mit ihm und seinem jüngsten Jäger Andreas Meury über Nachhaltigkeit, Traditionen und die Vorteile der Ganztiernutzung.

Wild und naturnah, von der Nasenspitze bis zum Schwanz: Wer sich dem Konzept «Nose to Tail» verschrieben hat, geht nicht nur mit der Zeit, auch der Verarbeitung sind keine Grenzen gesetzt. Statt Edelstücke wie Filet oder Entrecôte kommen hier andere, weniger «edle» Stücke auf den Tisch. Dafür mit viel mehr Geschmack und Handwerk. «Für ein Filet muss man nicht Koch sein», sagt Chris Hartmann (35), Küchenchef in der Taverne Johann. In seinem Restaurant im Quartier St. Johann geht er einen Schritt weiter. Die Ganztiernutzung reicht ihm nicht. Wildfleisch soll es geben – und zwar das ganze Jahr über, wenn verfügbar.

«Das, was wir hier machen, kann aufgrund schlechter Infrastruktur und fehlenden Know-hows nicht jeder», antwortet er auf die Frage, was hinter seinem Konzept steht. Es ist 14.30 Uhr, die Sonne scheint auf die Aussenterrasse. Ein schwarzer SUV fährt vor. Man ahnt, was jetzt kommt. «Dieser Moment ist für mich jedes Mal aufs Neue mit grosser Freude verbunden.» Aus dem Wagen steigt ein junger Herr, sein Hund an seiner Seite. Chris Hartmann und einer seiner jüngsten Jäger, Andreas Meury (29), begrüssen sich, wie es Freunde eben tun. Mit seinen Jägern ist Hartmann eng befreundet und pflegt einen intensiven Kontakt. «Ich habe einen Jägerchat auf Whats­app», erklärt er. «So weiss ich immer, was gerade geschossen wurde, und kann ihnen auch mitteilen, was ich momentan gebrauchen kann.»

Hartmann und Meury haben sich vor drei Jahren bei einer Treibjagd kennengelernt. Damals wurde Hartmann von Daniel Nussbaumer, Projektleiter der GenussStadt Basel, zur Jagd mitgenommen. «Ich wollte mal mit dabei sein, damit ich dem Tier noch näher sein kann», sagt Hartmann. Ein Koch solle bei der Tötung der Tiere mitgehen. Nur so habe man den nötigen Respekt vor dem Tier und dem Produkt. «Ich weiss genau, woher das Tier kommt, wie es getötet wird und welche Emotionen dabei ausgelöst werden. Auch in mir.»
Nach der Jagd werden die Tiere nach Tierart und Grösse der Reihe nach auf dem Boden ausgelegt, der sogenannten Strecke. Danach wird gefragt, wer etwas vom sogenannten Wildbret haben möchte. «Anfangs habe ich mich nicht getraut, etwas zu nehmen, ich wollte den anderen Vorrang lassen», so Hartmann. Doch Andreas Meury liess nicht locker und bot ihm die geschossenen Tiere an. Seither pflegen die beiden eine enge Freundschaft. «Es macht Spass, mit jungen, innovativen Menschen zu arbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen.»

Leidenschaft mit Grenzen

Seit 14 Jahren ist Andreas Meury nun als Jäger unterwegs. Hauptberuflich ist er Wildmetzger. 2019 machte er sich mit abgeschlossener Metzgerlehre und Berufsprüfung selbstständig und eröffnete seine Metzgerei «Stachel Blauen AG». «Ich habe gemerkt, dass beim Wildfleisch sehr viel Potenzial vorhanden ist.» Gerade jetzt sei Wild für ihn unumgänglich. «Das, was wir machen, ist sehr nachhaltig.» Deshalb habe er angefangen, Erzeugnisse wie Klöpfer, Wienerli und Cordon bleu mit Wild zu machen.

Für seine Leidenschaft zur Jagd bekommt der 29-Jährige nicht nur Zuspruch. Grausames Töten heisst es von aussen. Die Jagd wird meist verpönt statt verstanden. Doch gerade in einer Zeit, wo Massentierhaltung viele Gegner findet, sollte man sich mit dieser Art der Tiertötung auseinandersetzen. Vieles spricht dafür, mehr heimisches Wild zu essen. Es ist regional, nachhaltig. Bis zum Tod hatte das Tier ein artgerechtes Leben, und der Transport zum Schlachthof bleibt ihm erspart.

Mit sieben Jahren war Meury das erste Mal auf der Jagd dabei. Da sein Grossvater schon gejagt hat, wuchs er damit auf. In der Familienbeiz wurde das Fleisch anschliessend serviert. Doch was damals guten Anklang fand, wird heute zum Teil mit kritischem Blick betrachtet. Steht Tierliebe im Widerspruch zur Jagd? «Nein. Wir wissen genau, was wir machen», betont Meury. Bei der Jagd stehen die Tiere im Vordergrund. «Wir schiessen nicht einfach, damit geschossen wurde.» Oft werden schwache Tiere geschossen. Oder eben diejenigen, die ihre Arbeit geleistet haben. Ob ein Tier schwach ist, sähe man am Körperbau. Wie auch beim Menschen werden schwache Tiere in der Natur von anderen Tieren ausgestossen. «Da kommen wir zum Zuge und erlösen das Tier.» Um die natürlichen Bestände einer Art zu erhalten, werden auch gesunde Tiere geschossen. «Viele Tiere haben keine natürlichen Feinde mehr.»

Jagd mit Hindernissen

Bei der Jagd wird grundsätzlich zwischen Patent- und Revierjagd unterschieden. In den beiden Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt gibt es die Revierjagd. «Der Unterschied ist, dass wir mit der Revierjagd das ganze Jahr jagen dürfen», erklärt Meury. Doch vielerorts in der Schweiz, vor allem in den grossen Kantonen, gilt die Patentjagd, wo die Jäger nur im Herbst schiessen dürfen. Deshalb ist der Herbst Wildzeit. Dort müssen die Jäger innerhalb von drei Wochen eine gewisse Anzahl Tiere erlegen. Es herrsche Druck, den Meury bei der Jagd nicht hat. Er kann sich mit seiner Revierjagd Zeit lassen. Immer bei der Jagd dabei ist sein deutscher Jagdterrier Calvados Rollo (2). Auf 800 Hektaren gibt es acht Jäger. «Im Jahr schiessen wir um die 30 Rehe.»

Wird einem Tier das Leben genommen, müssen einige Jagd­traditionen beachtet werden. «Ebenfalls ein Faktor, der bei der Massentierhaltung einfach ignoriert wird.» Die Jäger aber tun es. Was viele nicht sehen, hier wird dem Tier die letzte Ehre erwiesen. Stirbt ein Tier, wird es immer auf die rechte Seite gelegt. So ist die linke Seite des Körpers oben und «das Herz ist dem Himmel nah», erklärt Meury. Auch beim «letzten Bissen» gibt man dem Tier ein paar Eichel- oder Tannenzweige ins Maul. «Diese Traditionen und der Respekt dem Tier gegenüber waren für mich das Eindrücklichste», sagt Hartmann.

Gastro Journal Fleisch 020 20230515 DW WEB

Mit seinen rund zehn Jägern, die alle­samt aus der Schweiz kommen, chattet Chris Hartmann auf Whatsapp (Foto: Daniel Winkler

Verlorenes Handwerk

Ob Wildschweinlaibchen an Schokoladenjus, Damhirsch-Crépinette mit Topinambur und Multbeere oder Sommerbock­terrine im Speckmantel mit Eierschwämmli: Chris Hartmann kreiert aus Wildfleisch nicht nur besondere Gerichte, sondern gibt dem Fleisch auch ein neues Gesicht. Er will zeigen, dass Wild in vielen Gerichten funktioniert. Weg von den klassischen Beilagen wie Rotkraut, Spätzli, Preiselbeeren und Marroni. Wild kann auch leicht sein – eben mit Salat oder jungem Gemüse serviert.

Vor Kurzem sind die Tiere noch im Baselbieter Wald herumgesprungen. In seinem Restaurant Taverne Johann tischt er seinen Gästen Wild auf, egal, ob Sommer, Herbst oder Winter. Für Hartmann ist das nur konsequent. «Mir macht es keinen Spass, ein Rindsfilet, ein Entrecôte oder ein Schnitzel vom Metzger zuzubereiten.» Zu wissen, woher sein Fleisch stammt und wie das Tier bis zu seinem Tod gelebt hat, das ist ihm wichtig. «Mehr bio als beim Wildfleisch geht nicht.» Doch biozertifiziert sei es nicht. Nur wenn es aus einer Biozucht kommt.
Wenn Hartmann also seine Tiere kriegt, weiss er genau, von wem, wo und wann es geschossen wurde. «Meine Tiere kommen direkt von der Jagd hierher», erklärt Hartmann. Also auf dem kürzesten Weg. Auch hier wird Wert auf Nachhaltigkeit gelegt. Ansonsten geht das Tier vom Bauernhof zum Schlachthaus, dann zum Metzger, danach wird es zerlegt, vakuumiert und ins Restaurant geliefert. «Mit Wildfleisch erspare ich mir 80 Prozent der Transportwege, die ich ja noch zusätzlich einkalkulieren müsste.» Wenn es gerade kein Wild­fleisch gibt, dann geht Chris Hartmann auf den Bauernhof. Ganz nach demselben Prinzip: Das ganze Tier kaufen und verwerten. «Im Jahr sind das rund zwei ganze Rinder, zwei Schweine und nach Verfügbarkeit auch Lämmer und Gitzi.»

Mit seiner Ganztiernutzung liegt Hartmann im Trend. Nur Special Cuts und Edelstücke zu kaufen, war gestern. «Das Tier musste für uns sterben. Dann müssen wir sehen, dass wir das meiste davon verwerten.» Braucht er eine kurzfristige Bestellung, greift er auf Second Cuts zurück, die durch aufwendige Zubereitungsarten zu hochwertigen, schmackhaften Speisen verarbeitet werden. In der Taverne Johann kommen seine Gäste auch in den Genuss von Raritäten wie Herz, Leber, Niere oder zum Teil auch Hoden. «Normalerweise gehören diese Stücke zum Lohn des Jägers und werden von ihm mitgenommen», erklärt Hartmann. Wenn ein Jäger aber mehrere Tiere geschossen hat, bekommt er diese Teile zur Weiterverarbeitung. Filets könne jeder braten. Ein Ragout, einen Brasato, gute Hacktätschli oder eine Roulade aus dem Tier, das man selbst zerlegt hat, zuzubereiten, macht deutlich mehr Spass. Trotzdem gehen Gäste ins Restaurant, um das Filet zu essen und zahlen rund 60 Franken dafür. «Ich habe beim Braten eines Filets keine Emotionen.» Ein Butcher Cut sei genauso gut wie ein Edelstück.

Um ein Tier zerlegen zu können, braucht es ein gewisses Mass an Handwerk. Ein Handwerk, das heutzutage bei vielen verloren geht oder gar nicht erst auf dem Lehrplan steht. «Heute lernt man, wie man ein Geflügel bindet und wie man es ausbeint. Aber dort hört es auf.» Im Teufelhof Basel unter Michael Baader und damals im Biorestaurant Landhof in Pratteln durfte Hartmann in den Genuss der Ganztierverarbeitung kommen. «Dort haben wir ganze Tiere vom Silberdistelhof in Holderbank erhalten.» Cäsar Bürgi vom Hof hat ihm gezeigt, wie man die Tiere in ihre Einzelteile zerlegt und welches Stück für welches Gericht geeignet ist. Bis heute bleibt Hartmann dieser Philosophie treu. «Mit 45 Prozent Verlust muss man rechnen, wenn man Knochen und Haut wegrechnet.» Gewisse Tiere eignen sich mehr zum «Wursten», andere mehr, um daraus Schinken zu machen. In der Taverne wurden im Jahr 2022 ca. 40 Rehe, 40 Wildschweine, 2 Rothirsche, 2 Damhirsche und 4 Gämsen verarbeitet.

Günstiger und nachhaltiger

Sein Wildfleisch kommt nicht ausschliesslich aus der Schweiz, sondern auch aus dem Elsass. Oder eben aus Arisdorf, Lausen, Füllinsdorf, Seltisberg, Liestal, dem Oberbaselbiet und den Vogesen. 90 Prozent werden in einem Umkreis von 50 Kilometern geschossen. «Ich habe noch zwei Jäger, die zum Teil auf grosse Jagd nach Bayern gehen, wozu sie eingeladen werden.» Von ihnen kriegt er Damhirsche aus freier Wildbahn, die es so nur in Deutschland gibt. In der Schweiz kommen sie aus einer Zucht.

Die Nachfrage nach Wildfleisch ist in der Herbstzeit sehr gross. «Man kann nur 20 Prozent davon mit Schweizer Fleisch in dieser kurzen Zeit abdecken.» Davon seien noch einmal nur 8 Prozent aus freier Wildbahn. Der Rest kommt ebenfalls aus der Zucht. Auf vielen Speisekarten steht aber aus heimischer Jagd. «Das stimmt meiner Meinung nach oft nicht», erklärt Hartmann. «Du kannst gar nicht so viel anbieten.» Besser ist es, das ganze Jahr über Fleisch direkt vom Jagdgebiet zu bestellen und vom Jäger liefern zu lassen. «Ich gebe mit meinem Konzept weniger Geld aus, als wenn ich Fleisch verarbeitet vom Metzger bestellen würde.» Auch der Gast zahle nicht mehr für sein Fleisch. Ziel sei es, pro Tier das Vierfache rauszuholen. Kauft Hartmann ein Reh, kostet ihn das rund 300 Franken. Mit der richtigen Kalkulation soll das Tier mit dem Umsatz aus den Edelstücken bezahlt sein. «Ich verkaufe sechs Portionen Rehrücken, und das Tier ist bezahlt. Danach folgen Gigot, Hackfleisch, Rollbraten und andere Stücke, die ich zur Verfügung habe.» Kurz vor der Weihnachtszeit gibt es dann, wie bereits im letzten Jahr, Wildchinoise für seine Gäste zu Hause. Dazu reicht er Hirschknochen für die Bouillon. Eine Idee, die Anklang findet.

Das Tier durfte bis zu seinem Lebensende in freier Wildbahn herumspringen. Zum Teil sitzen die Jäger mehrere Tage für mehrere Stunden in ihrem Hochsitz, um ein einzelnes Tier schiessen zu können. «Diese Geschichten sind da, um den Gästen erzählt zu werden.» Für das Tier, die Natur und den Wald. «Es zahl sich aus.» Sein Wissen gibt Hartmann gerne an Lehrlinge und andere Gastronomen weiter. Um den Tieren in Zukunft noch ein Stück näher zu sein, möchte er nächstes Jahr die Jagdprüfung bei der Jagdgesellschaft in Muttenz absolvieren.

★ Wilder Abend

Im Sommer 2022 organisierten Chris Hartmann und sein Team in der Taverne Johann einen Jägerabend mit Traditionen und fixem Menü. Begleitet wurde der Abend durch jagdliche Exkursionen und Brauchtum. Sieben Jäger sassen verteilt im Raum mit den Gästen an einem Tisch und erzählten über die Jagd. Nach jedem Gang wechselten die Jäger ihren Tisch. Ganz nach seinem Konzept «Nose to Tail» servierte Hartmann regionales Wild und verwandelte es in kulinarische Leckerbissen. «Das Restaurant wird an diesem Abend zur Jagdstube.» Ganze Tiere werden in die Küche gebracht, ab und an wird ins Jagdhorn geblasen. 50 Gäste und Interessierte bekamen aus erster Hand Einblicke in das Handwerk der Jäger. «Die Nachfrage war immens gross.» Der «Wilde Abend» wird in diesem Jahr wiederholt. Wann der Abend in diesem Jahr stattfindet, wird auf der Homepage der Taverne bekannt gegeben.
www.tavernejohann.ch