«Ich arbeite in der Zukunft und kontrolliere die Gegenwart»

Reto E. Wild – 19. Mai 2023
«Corporate Culinary Director» Mike Wehrle ist Herr über 146 Köche in drei Hotels: Schweizer Rekord! Allein im Bürgenstock Resort verantwortet der 46-jährige Schwarzwälder sieben verschiedene Restaurants. Die Regionalität ist ihm trotz der Vielfalt sehr wichtig.

An diesem trüben, regnerischen Morgen ist Mike Wehrle, seit 2017 für die Kulinarik der Bürgenstock Resorts verantwortlich, in einem weissen Golf-Buggy unterwegs zu seinen Nachbarn. Nach ein paar Fahrminuten macht er Station bei Sepp Bircher, der auf seinem Hof in Obbürgen NW für einen der schweizweit besten Sbrinz AOP sorgt, und in seiner Karriere über 45 000 Laibe Sbrinz gekäst hat. Wehrle erklärt: «Wir beziehen bei Sepp Sbrinz, Bürgenstöckler, Mutschli, Raclette- und den Fünfsternebergkäse. Diese machen den Grossteil unseres Käse­angebots beim Frühstück aus.» Letzterer ist eine Namens­gebung des Käsers. Auf dem fünf bis sechs Monate lang gereiften Halbhartkäse – eben dem Fünfsternebergkäse – sind auf der Rinde fünf Sterne und auf dem Laib das Bürgenstock-Emblem abgebildet.

Nächster Halt ist bei Nik Amstutz, der seinen Betrieb unterhalb des Bürgenstock Resorts von einer reinen Fleischwirtschaft zu einer Mischkultur umgestellt hat. Neben den 17 weidenden rätischen Grauvieh-Mutterkühen wachsen bei der Familie Amstutz unter Folientunnels unter anderem Schnittsalate, Rucola, Kohlrabi, Kartoffeln und Zuckererbsen. Mitte Juni reifen Erdbeeren, die Wehrle direkt ab Amstutz’ Hof Obermisli einkauft – 1,5 Kilometer vom Resort entfernt. Weil der Hof nicht die erforderliche Menge des Resorts liefern kann, sind die Produkte von Amstutz oft nur als Tagesempfehlung auf der Karte.

 

Mike Wehrle, zusammen mit den Partnerhotels Schweizerhof Bern und Royal Savoy Lausanne sind Sie verantwortlich für insgesamt 16 Restaurants, Lounges und Bars sowie alle Banketteinrichtungen. Wie organisieren Sie sich?
Mike Wehrle: Ich habe in jeder Küche unserer Restaurants einen Küchenchef. Im Bürgenstock Resort arbeiten 95 Köche, in Lausanne sind es 32, in Bern 19. Im Bürgenstock Resort hat jedes Restaurant eine eigene Küche. Das ist gleichzeitig eine Herausforderung, interessant und aussergewöhnlich. Eine zentrale Küche wie in anderen grösseren Hotels gibt es nicht. Das Einzige, was wir für alle produzieren, ist die Tomatensauce auf der Kinderkarte.

Wie realisieren Sie neue Menüs?
Ein neues Gericht kochen und probieren wir gemeinsam. Wenn wir zufrieden sind, rezeptieren und fotografieren wir es. Dann geht es in den operationellen Bereich. Im August beispielsweise beschäftigen wir uns mit den Weihnachtsmenüs. Ich gehe permanent in die Restaurants und schaue, ob die Qualität unserem Standard entspricht. Oder anders ausgedrückt: Ich arbeite in der Zukunft und kontrolliere die Gegenwart, indem ich jede Woche in einem anderen Restaurant esse.

Was ist neu?
Im Schweizerhof in Bern, Teil der Bürgenstock Collection, haben wir Ende April auf der «Sky Terrace» ein philippinisches Pop-up «Kasiyahan», was auf den Philippinen für Glück und Zufriedenheit steht, mit zwei philippinischen Köchen und einem Softopening eingeführt. Ab Juni starten wir mit der grossen Karte. Die Gastrobranche in der Schweiz kennt die philippinische Küche noch kaum. Sie ist sehr interessant und allgemein weniger scharf als jene im Rest Südostasiens.

Wie oft arbeiten Sie noch als Koch?
Ich bin sehr viel Manager und Coach, um das Beste aus den Leuten herauszuholen. Ich koche, wenn es brennt. Das kann auch nur mal ein Rührei beim Frühstück sein. Wenn es sein muss, putze ich in der Lobby oder übernehme den Pass. In solchen Fällen ordne ich mich unter und mache, was von mir gebraucht wird.

Welche Akzente wollen Sie auf dem Bürgenstock setzen?
Authentizität ist für mich für alle Restaurants am wichtigsten. Thailändisch soll thailändisch sein und kein europäischer Verschnitt. Bevor ich zum Bürgenstock Resort wechselte, machte ich es zur Bedingung, dass ich nur starte, wenn authentisch gekocht wird. Dabei steht für mich das Produkt immer im Mittelpunkt. Wir haben beispielsweise Wachteleier aus der Region, den Käse beim Frühstück beziehen wir von Sepp Bircher, das Trockenfleisch vom Misli-Sepp, Salate, Gemüse und diverse Beeren von Nik Amstutz. Die Erdbeeren beispielsweise habe ich morgens um 10 Uhr im Haus. Da gibt es nichts Frischeres. Wir kaufen Sorten, die im Handel nach zwei Tagen faulen würden oder ein Problem mit dem langen Transportweg hätten. Diese Beeren sind viel schmackhafter. Holzen-Fleisch aus Ennetbürgen NW für Angus, Damhirsch, Kalb, Lamm und Wollschwein ist ein weiterer Produzent. Allerdings steht bei mir die Qualität vor der Lokalität.

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Mike Wehrle (l.) zu Besuch bei Bauer Nik Am­stutz: Unter Folientunnels wachsen diesen Frühling unter anderem erstmals Schnittsalate, Rucola, Kohlrabi und Zuckererbsen. (Fotos: Reto E. Wild)

Tatsächlich ist es schwierig, für die Bürgenstock-Restaurants wie das am 6. April 2023 eröffnete persische Parisa oder das asiatische Spices Kitchen & Terrace Regionalität konsequent durchzusetzen.
Genau. Aber wir beziehen das Geflügel und Schweinefleisch aus der Schweiz, weil die Qualität besser als im Ausland ist. Die Gewürze hingegen kommen von jenen Ländern, aus denen auch die Gerichte stammen. Sonst kann ich nicht authentisch sein. Und ja, wir fliegen thailändische Mangos ein, was von unseren Gästen gut angenommen wird. Unser Spices Kitchen & Terrace mit den besten Gerichten aus Indien, Thailand, China und Japan ist gerade auch bei der lokalen Bevölkerung sehr beliebt. Wir haben mit diesem Restaurant, seiner offenen Küche und dem spektakulären Blick auf den Vierwaldstättersee den Zeitgeist getroffen. Das Sharing-Konzept kommt sehr gut an.

Wo holen Sie sich die Inspiration für Ihre Arbeit?
Ich reise sehr gerne. Und auf den Reisen gucke ich mir immer wieder neue Konzepte an. Vom vielen Reisen und Arbeiten in diversen Kontinenten weiss ich, wie es schmecken muss. Egal, wo immer ich auch bin: Bei mir sind die Reisen so angelegt, dass die guten Restaurants im Vordergrund stehen. Sightseeing ist für mich nebensächlich. Wenn mir etwas fehlt, fliege ich hin und schaue es mir vor Ort an. Durch das Internet weiss ich, was läuft. Fachmagazine sind mir ebenfalls sehr wichtig. Und ich habe via Instagram und Whatsapp ein grosses Netzwerk.

In einer Medienmitteilung heisst es, das Bürgenstock Resort möchte eine Top-Destination für einmalige kulinarische Erlebnisse und Events werden. Wie nah sind Sie an diesem Ziel?
Am Ziel sind wir sicherlich nie. Es geht immer weiter, Zeit und Gegebenheiten ändern sich. Denken Sie nur an die Pandemie. Jetzt fahren wir wieder hoch und haben das Glück, dass mein Team fast komplett ist. Vor knapp einem Monat haben zehn weitere Köche angefangen. Momentan sind vier Positionen frei. Nur bei 95 Köchen allein auf dem Bürgenstock geht immer jemand. Wir führen permanent Bewerbungsgespräche.

Punkte und Sterne sind noch immer bei vielen ambitionierten Köchen ein Thema. Als Top-Destination müssten Sie eigentlich in mindestens einem Restaurant mit einem Stern ausgezeichnet sein.
Nun, das Ritzcoffier hatte 17 GaultMillau-Punkte und einen Stern, wurde aber in der Pandemie geschlossen und als Brasserie Ritzcoffier wiedereröffnet – mit 16 Punkten. Wir servieren authentische Brasserie-Gerichte mit Bœuf bourguignon, Café de Paris, Austern, Caneton à la presse oder Perlhuhn aus der Bresse. Wir haben uns bewusst für dieses Sharing-Konzept und à la carte entschieden. Das ist der richtige Weg. Was aber in zwei Jahren ist, weiss niemand. Dazu nur ein Beispiel: Während der Pandemie hatten wir 70 Prozent Schweizer Gäste, jetzt noch gut 45 Prozent. Als ich startete, begrüssten wir in unseren Restaurants rund 70 Prozent externe Gäste und 30 Prozent Hotelgäste. Jetzt müssen wir teilweise externe Buchungen stoppen, damit wir in unseren Restaurants Platz für die Hotelgäste haben. Mit all unseren Küchen sind wir jetzt schon das kompletteste Resort in der Schweiz.

Eine neue Herausforderung sind die steigenden Produkte- und Personalkosten: Wie gehen Sie damit um?
Wir haben uns zu diesem Thema Ende April in Lausanne getroffen. Als Bürgenstock Collection können wir unsere Kräfte beim Einkauf bündeln und erzielen so ein grösseres Volumen und einen entsprechend besseren Preis. Diese Stärke spielen wir auch bei Verträgen mit Firmen aus. Wir sind nicht die grösste Hotelgruppe, aber eine der grösseren in der Schweiz. Unsere Abläufe und unsere Personalkosten sind viel besser geworden. Wir haben Küchenchefs, die seit der Wiedereröffnung hier arbeiten. Sie wissen, wie wir ticken. Da kann es sein, dass der iranische Chef Ravan vom persischen Restaurant mal in einem anderen Lokal aushilft. Und übrigens sagen uns die Lieferanten, dass sich die Preise im Sommer stabilisieren werden.

Wenig bekannt ist, dass Sie ein Kochbuch herausgebracht haben. Wieso dieser Schritt?
Wir haben als Bürgenstock Resort sieben verschiedene Restaurants. Deshalb heisst das 303-seitige Buch «Seven Kitchens». Wir wollen zeigen, was wir am Berg seit Januar 2017 geschafft haben: italienisch, «Vitality Cuisine», Schweizer Küche, Brasserie, Grill, asiatisch und persisch. Im Juni 2022 haben wir mit dem Buch über unsere sieben Küchen angefangen, im Dezember ging das Werk in den Druck. Fotografiert hat Michael ­Wissing. Bewusst ist jede Stufe der Kochkunst abgebildet. Es gibt einfache Rezepte wie einen Saisonsalat oder ein Tiramisu. Den Auftakt bilden Bilder vom Resort, dann geht der Leser durch die Restaurationen und am Schluss des Buches, welches zweisprachig, Deutsch und Englisch, erhältlich ist, befinden sich die Rezepte.

Wie erfolgreich ist das Buch?
Wir haben gegen 1000 Exemplare verkauft. Der Rücklauf ist sehr gut. Wir verkaufen das Buch nur im Resort oder online und einzig in der Schweiz.

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Mike Wehrle im Speisesaal der Brasserie Ritzcoffier: «Das Einzige, was wir für alle produzieren, ist die Tomatensauce auf der Kinderkarte. Eine zentrale Küche für alle Restaurants wie in anderen grösseren Hotels gibt es bei uns nicht.»

★ Von Chicago zum Bürgenstock

Mike Wehrle (46) ist seit 2017 «Culinary Director» des Bürgenstock Hotels & Resort und damit Chef von 95 Köchen. Zusammen mit den Partnerhotels Schweizerhof Bern und Royal Savoy, die zur Bürgenstock Collection gehören, hält er mit insgesamt 146 Köchen schweizweit die wohl grösste Brigade. Der in der Nähe des Schluchsees aufgewachsene Schwarzwälder verfügt über 29 Jahre Erfahrung in Michelin-Sterne­restaurants und Luxushotels in Europa, Südostasien und den USA. Von 2008 bis 2016 arbeitete er beispielsweise als Executive Chef in den The Peninsula Hotels in Bangkok, Chicago und Manila. Seine Ausbildung zum Küchenchef absolvierte Wehrle bei der Hotel & Gastro Formation in Weggis LU.