«Mein Essen ist im ­Geschmack sehr stark – wie mein Charakter»

Reto E. Wild – 26. Oktober 2023
Ana Roš aus Slowenien gilt als die beste Köchin der Welt und hat kürzlich in ihrem Restaurant Hiša Franko in Kobarid einen ­dritten Michelin-Stern erhalten. Im Exklusiv-Interview mit dem GastroJournal spricht sie über lokale Produkte, feminine Balance, alpines Terroir, Sven Wassmer und Andreas Caminada – und ihr neuestes Restaurantprojekt.

Die Erfolgsliste von Ana Roš (50) wird immer länger: 2015 war die Slowenin «Talent of the Year 2015» der Jeunes Restaurateurs d’Europe (JRE), zwei Jahre später «World’s Best Female Chef 2017», 2020 gab es den zweiten Michelin-Stern sowie seither jährlich den Grünen Michelin-Stern und nun also den dritten. Erstaunlich dabei, dass sie das Kochhandwerk komplett autodidaktisch erlernte. «Kochen ist nichts für dumme Leute, seid offen und hört niemals auf zu lernen!», lautet ihr Motto. Entscheidend sei, sich selbst auszudrücken, ohne allen gefallen zu wollen, so die Spitzenköchin.

Nach einer Karriere in der Ski-Nationalmannschaft Jugoslawiens studierte Ana Roš, die sechs Sprachen spricht, in Triest Diplomatie und internationale Wissenschaften. Im Restaurant Hiša Franko startete sie im Service, bereits 2003 zeichnete sie im Betrieb für die Küche verantwortlich, und übernahm so mit ihrem damaligen Mann, dem Sommelier Valter Kramar, das einst gutbürgerliche Wirtshaus im Dorf Kobarid. Es befindet sich nahe der Grenze zu Italien und wurde zuvor von ihren Schwiegereltern geführt. Das heutige Spitzenrestaurant im Alptal (geöffnet von Mittwoch bis Sonntag) ist umgeben von Wiesen, Bergen, Wäldern und Flüssen und beschäftigt 35 Angestellte aus 15 Nationen. 15 Tische bieten Platz für 45 Gedecke. Als Gast fühlt man sich, als ob man bei Freunden essen würde – keine Spur von überkandidelter Atmosphäre. 10 Doppelzimmer laden zum Übernachten ein (nur für Restaurantgäste). Die neueste Menükreation nennt sich «50 Shades of Life», passend zum runden Geburtstag der Starköchin, die sich sehr bodenständig gibt.

Ana Roš Stojan, Michelin Slowenien hat Ihnen vor einem Monat den dritten Stern verliehen. Was bedeutet dieser für Sie?
Ana Roš Stojan: Der dritte Stern ist bereits Vergangenheit. Er ist eine Belohnung für unser Teamwork und das Team, das jung und talentiert ist und mit hoher Motivation arbeitet. Wir sind in der Spitzengastronomie Pioniere in Slowenien. Diese grosse Plattform gibt uns nun recht; wir können unsere Arbeit fortsetzen. Aber am wichtigsten ist mir: Wir dürfen uns nicht auf dem dritten Stern ausruhen, wir müssen fokussiert bleiben. Schon morgen ist ein anderer Tag. Wir können uns in der Küche und im Service weiter steigern. Unsere Entwicklung muss weitergehen – nicht wegen uns, sondern für die Kunden.

Wie waren die Reaktionen der Kunden?
Normalerweise ist bei uns von November bis Februar Tiefsaison. Die Gäste wollen dann eher an die Sonne oder Ski fahren. Nun aber stellen wir für den Winter plötzlich eine grosse Nachfrage fest. Für mich ist es dann hier die schönste Zeit: Der Himmel und die Sicht sind klar. Teilweise sieht man bis zum Golf von Triest. Wir befinden uns auf dem Land, 45 Minuten von der österreichischen Grenze und 1,5 Stunden von Venedig entfernt. Aber unser Tal hier hat nur wenige Einwohner. Wir sind deshalb auf ausländische Gäste angewiesen. Bereits die Präsenz bei den 50 besten Restaurants der Welt gab uns eine Bühne. Aber ein dritter Stern ist schon magisch.

Der Schweizer Dreisternekoch Sven Wassmer schrieb, Ihr Einfluss auf die Branche sei überwältigend. Sie hätten hervorragende Arbeit geleistet, um das Bewusstsein für alpines Terroir zu schärfen. Was lieben Sie daran?
Das alpine Terroir ist sehr unterschiedlich. Ich kenne Andreas Caminada sehr gut. Wir sind so gute Freunde, dass wir auch gemeinsam in die Ferien fahren könnten. Er ist ein grosser Freund und Unterstützer, und wir akzeptieren bei uns die Kandidaten seiner Stiftung Uccelin. Aber Andreas lebt in einer anderen Welt wie auch Norbert Niederkofler in den Dolomiten. Meine alpine Welt ist stark beeinflusst vom Meer, von der Erde und der Textur der Pflanzen. Aber letztlich bieten wir alle drei das Gleiche an: supersaisonal, superlokal.

Saisonal ist in der alpinen Welt nicht einfach.
Das stimmt. Sie müssen sich auf das fokussieren, was in der Nähe wächst. Klar, im Winter ist es schwierig. Aber inzwischen gibt es eine breite Auswahl an Produkten aus der Natur, selbst im Winter. Auch Sven ist ein grosses Beispiel, wie er einen anderen Zugang zur Küche findet. Mein Traum ist, dass die alpine Küche eines Tages zu einem Muss wird. Wir verdienen das.

Welche Produkte schätzen Sie am meisten?
Es ist schwierig, über ein einzelnes meiner «Babys» zu reden. Am berühmtesten sind wir für unsere Marmorataforellen, einen Klassiker von Hiša Franko (die geräucherten Forellenrogen bilden im aktuellen Menü den ersten Gang nach den Amuse-Bouches, Anmerkung der Redaktion). Am Anfang meiner Kochkarriere, um 2006, kreierte ich eine Pasta, die ich mit flüssigen Kartoffeln füllte und in einer Forellenbrühe servierte. Die Marmorataforellen beziehen wir aus dem Bohinj-See und töten sie nach der japanischen Methode mit einer Nadel. Die Forelle ist für mich ein toller Fisch, besser als der Wolfsbarsch. Ich liebe aber auch Wild, Lamm, Ziege und Kefirjoghurt. Sie sind meine liebsten Produkte.

Was haben Sie letzthin entdeckt?
Die Kraft reifer Früchte in salzigen Gängen. Die meisten Gänge haben in unserem Menü als Hauptbestandteil Früchte. Sie funktionieren auch als Gemüse und sind so feminin. Letztlich widerspiegeln sie unsere Sensibilität: Wir sind reifer und Mütter. Wir lieben intensive Geschmackserlebnisse, aber mit einer Balance. Mein Essen ist im Geschmack sehr stark – wie mein Charakter. Jährlich symbolisiert ein Hauptgang meine Reisen. Dieses Jahr ist es Dosa aus Sri Lanka, wo meine Tochter lebte.

Den zweiten Stern schafften Sie bereits im Juni 2020. Was brauchte es für den dritten?
Eine Journalistin sagte, sie kenne kein anderes Restaurant, das sich von Jahr zu Jahr so schnell entwickelt. Hiša Franko ist eine konstante Evolution – nicht für den dritten Stern, sondern weil wir konstant besser werden wollen. Dazu ein Beispiel: Wir engagierten einen Professor vom Theater, der mit den Serviceleuten deren Stimme schulte. Oder wir waren mit unserem Getränkeangebot nicht so recht zufrieden. Ich wusste, dass die Slowenin Anja Skrbinek ein grosses Talent ist. Sie entwickelte fermentierte Getränke und stellte zu unserem Menü neben der Saftbegleitung auch zwei mit Weinen zusammen – eine «classy» und eine «funky». Sommeliers haben oft ein grosses Ego. Anja, die nun unsere Getränkechefin ist, findet die richtige Balance. Die Gäste sind im Himmel.

Und Sie haben eine neue Chef­köchin.
Ja, die Kalifornierin Yvonne Simon ist jünger als ich und war zuvor Souschef im Restaurant Queens in San Francisco. Sie kam zu uns nach Kobarid für eine Stage. Ich wusste nicht, ob sie Führungsqualitäten hat. Aber sie hatte genau das, wonach ich Ausschau hielt: die feminine Balance zwischen funkig und Rock’n’Roll. Die emotionale Feminität steht bei uns an erster Stelle. Und ein weiteres Beispiel: Unsere Angestellten tragen keine klassischen Uniformen wie in Gourmetrestaurants. Unsere Stoffe sind aus Naturmaterialien und mit bunten Designs, die alle unterschiedlich sind.

Wählen Sie bewusst mehrheitlich Frauen aus?
Ich achte auf die besten Leute. Die Getränkeverantwortliche, unsere Chefsommelière, die Chefköchin, die Chefin der Wäscherei, die PR-Chefin: Ich habe sie nicht ausgewählt, nur weil sie hübsch sind. Sie sind schlichtweg super.

Frauen in Ihrer Liga sind aber noch immer selten.
Die Gastronomie ist eine von Männern dominierte Branche. Meine Kinder sind wie bei einer «Gipsy Mama» aufgewachsen und schliefen teilweise in der Küche, als ich arbeitete. Etwas anderes konnte ich mir nicht leisten. Ich liebe meine Kinder. Wir sind uns sehr nah. Wir reisen manchmal sogar gemeinsam. Hinter einem erfolgreichen Mann ist oft eine starke Frau. Das Umgekehrte zu sagen, ist schwierig. Ich hatte meine Chance. Die meisten Frauen sind aber in solchen Situationen nicht glücklich und geben mit 40 Jahren die Karriere in der Küche für die Familie auf.

Sie hatten in Ihrer Karriere immer wieder Zweifel. Das passiert ausgerechnet der besten Köchin der Welt?
Als ich 2017 zur besten Köchin der Welt gewählt wurde, hatte ich ein komplettes Burnout. Ich arbeitete Tag und Nacht und verbrannte viel Energie. Ich fühlte mich wie eine leere Schale. Ein Jahr später realisierte ich, dass der Erfolg nicht nur von mir abhängt, sondern vom gesamten Team. Ich stellte gleichzeitig fest, wie fragil ich war. Ich war so neu in der Gastronomie und musste dennoch eine Leaderposition einnehmen. Sie dürfen nicht vergessen: Sie unterhalten sich mit jemandem, der sich das Handwerk in der Küche selbst beigebracht hat – ohne eine Lehre oder eine Schule.

Stichwort Burnout: Wie viele Stunden arbeiten Sie heute?
Ich bin eine Köchin, aber auch eine Geschäftsfrau. Ich habe keine Investoren im Hintergrund und muss das Geld selbst verdienen. Das ist also etwas komplexer, als nur Koch zu sein. Nun, ich bin eine Langschläferin. Heute habe ich bis 9 Uhr geschlafen. Ich war erschöpft. Selbst wenn ich schlafen gehe, kreisen meine Gedanken. Sonntag ist für meinen Mann und mich ein freier Tag. Aber wir haben dieses Versprechen nicht immer einhalten können. Er ist noch mehr Workaholic als ich ...Diesen Sommer schafften wir es immerhin für drei Tage nach Santorini. Klar, ich habe in Momenten wie diesen den Computer eingeschaltet. Aber ich sehe das Meer. Im Winter gehen wir Ski fahren und zum Arbeiten nach Mexiko. Hoffentlich haben wir etwas Zeit für den Urwald.

Zurück zu Slowenien: Wo steht die Gastronomie in Ihrem Land heute?
Wir haben gewaltige Schritte vorwärts gemacht. Das Restaurant Milka hat nun einen zweiten Michelin-Stern erreicht. Unser Team verbindet mit dem Milka-Team eine Freundschaft. Wir verstehen uns sehr gut. Es ist wichtig, Hand in Hand zu arbeiten, das Wissen über wilde Pflanzen zu teilen und nicht in ein Konkurrenzdenken zu verfallen. Das hilft der Gastronomie in ganz Slowenien. Ein anderer super talentierter Chef und Freund von mir ist Luka Kosir, der einen Michelin-Stern und eine eigene Entenzucht hat. Ich fragte ihn auch schon, wie er die Enten zubereitet.

Sie eröffneten kürzlich ein zweites Restaurant, das erste in Ljubljana.
Ja, ich nenne den Stil «young dining» und nicht Bistro. Bistro ist ein dummer Trend, den alle kopieren. Wir bieten Essen zum Teilen an und wiederum mit starkem Geschmack, und es ist ein wenig egozentrisch, was ich selbstverständlich auch bin. Das Lokal heisst Jaz by Ana Roš. Jaz bedeutet auf Arabisch Augen, aber es steht auch für Qualität. Es befindet sich in der Nähe unseres Pop-ups, das wir während sieben Monaten bis im September 2023 im Stadtzentrum betrieben haben.

Was sind die Herausforderungen?
Wir haben lokale Kochtraditionen verloren. Dieses Tal hier ist ein gutes Beispiel dafür: Mein Ex-Mann führt im Zentrum von Kobarid die Hiša Polonka. Ein typisches Restaurant wie das Polonka sollte es in jedem slowenischen Dorf geben – mit Spezialitäten wie Frika aus Tolminkäse und Kartoffeln oder traditioneller Pasta. Wir sollten unsere Vergangenheit nicht vergessen; sie ist die Basis für die Zukunft.

Der Fachkräftemangel ist wohl für Sie mit diesem Renommée kein Problem?
Damit hatte ich tatsächlich noch nie ein Problem. Dabei hat mir der Auftritt in der Serie «Chef’s Table» auf Netflix sehr geholfen. 2016 wollte die ganze Welt zu uns kommen. Junge Köche schauen auch auf die Rangliste von «The World’s 50 Best Restaurants», wo wir auch dabei sind. Aber der Fachkräftemangel ist nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt ein Problem. Deshalb vermitteln HR-Spezialisten Kontakte zu Fachleuten von den Philippinen oder aus Indien. Covid richtete ein Desaster auf dem Stellenmarkt an.

Wie wichtig sind soziale Medien und Netflix für Sie?
Ich hatte früher keine Ahnung von Netflix, weil ich kein TV schaute. Als ich von Netflix eine Anfrage erhielt, gab ich zuerst keine Antwort. Mit der Ausstrahlung änderte sich mein Leben. Bei den sozialen Medien ist es ähnlich. Sie helfen, unsere Arbeit in die Welt zu tragen. Wenn ein Restaurant kein Instagram-Konto hat, existiert es für viele Menschen nicht.