Ist die klassische Sternegastronomie am Ende?

Benny Epstein – 07. Dezember 2023
Personalmangel, wirtschaftliche Unsicherheit und verändertes Gästeverhalten führen vermehrt zu Schliessungen von klassischen Sternerestaurants. Urbane, alternative Restaurants, in denen man ­ungezwungen geniessen kann, funktionieren hingegen gut – und Restaurants mit Hotels im Rücken.

«Wow, schon wieder eines.» Mitja Birlo ging ein Ruck durch den Magen, als er von der Schliessung des Restaurants Pavillon hörte. Nicht irgendein Einsternerestaurant auf dem Land. Nein, das Gourmetlokal des ehrwürdigen Zürcher Luxushotels Baur au Lac. Zwei Michelin-Sterne, 18 GaultMillau-Punkte, zentral gelegen, 179 Jahre Tradition. Wenige Monate zuvor beerbte Maximilian Müller seinen vormaligen Chef Laurent Eperon als Küchenchef und bestätigte dessen Bewertungen mit Bravour. In der Szene gilt er als grosses Talent. Für die perfekte Weinbegleitung sorgt Marc Almert, Sommelierweltmeister 2019. Ende Jahr ist Schluss. «Das Restaurant läuft weiterhin sehr erfolgreich, man könnte es gut so weiterführen», so Christian von Rechenberg, General Manager des Hotels. «Wir sind jedoch der Meinung, dass eine stetige Weiterentwicklung zentral ist, um auch den Innovationsgedanken beizubehalten.»

Sogar das ikonische, noble Baur au Lac erkennt die Zeichen der Zeit. Und spült Punkte und Sterne, von denen viele Betriebe und Köche nur träumen, die Limmat runter. Ab Juni 2024 soll ein mediterranes Konzept «in entspannter Atmosphäre, begleitet von hervorragendem Service und exquisiter Küche» die Gäste begeistern. Von Rechenberg: «Unsere Gäste suchen vermehrt eine entspannte Dining Experience und gleichzeitig ein dynamischeres, lebendigeres Gesamterlebnis.» So wie in der 2019 eröffneten Baur’s Brasserie. Wer will, gönnt sich hier 450 Gramm Chateaubriand mit Gemüse und Pommes frites für 162 Franken. Oder aber Pasta mit Kaninchenconfit und Taggiasca-Oliven für 36 Franken, einen Salat und eine Cola Zero oder einen Viergänger und eine Flasche 1997er-Cristal-Champagner für 2100 Franken.

Tresen statt Tischtuch

«Modernere Konzepte sind gefragt», glaubt Mitja Birlo. «Keine gebügelten Tischtücher, kein steifer Service. Moderne Spitzengastronomie darf auch frech daherkommen.» Gebügelte Tischtücher kennt er bestens. Anfang dieses Jahres verliess er das 7132 Hotel in Vals GR. 2 Sterne, 18 Punkte, Koch des Jahres 2022. Jetzt will er es wieder wissen. In wenigen Tagen eröffnet Birlo den «Counter» im Zürcher Hauptbahnhof, Teil des neuen Gastrokonzepts von Nenad Mlinarevic und Valentin Diem. «Wir wollen gehobene Gastronomie bieten, wir haben Ambitionen, vorne mitzuspielen», sagt der Deutsche. «Aber mit einem coolen Erlebnis.» 20 Plätze, die meisten davon rund um den Tresen, hinter dem die fünf Köche vor dem Gast Gerichte zubereiten. Den zweiköpfigen Service leitet Birlos Gattin Florentina. «Die Idee eines Konzepts eines Thekenrestaurants schlummert schon lange in mir», verrät Birlo. «Der Gast will Unterhaltung, etwas Besonderes. Das eine oder andere Gericht wird er mit den Händen essen.» Das Lokal kommt frisch und leicht daher, der empathische Koch will je nach Gast situativ mehr oder weniger unterhalten und erklären. «Das Konzept passt nach Zürich.» 295 Franken fürs Menü und 185 Franken für die Weinbegleitung sind eine Ansage: Cool soll es sein, aber gehoben. In dieser Preisklasse spielen nur Zweisterne- und Dreisternerestaurants.

Auch in der «Rose» in der Zürcher Seegemeinde Rüschlikon gehören die weissen Tischtücher der Vergangenheit an.
1 Stern, 16 Punkte: Im Sommer entschied sich Pächter und Küchenchef Tobias Buholzer, das Kapitel zu schliessen. «In ländlichen Regionen wird es schwierig», meint der 43-Jährige auf die Frage nach dem Schlüssel für eine wirtschaftlich funktionierende Spitzengastronomie. In den Städten könne es eher klappen. «Die Leute verdienen besser, gehen eher aus, das Einzugsgebiet ist grösser. Man geht von Rüschlikon in die Stadt, aber nicht von der Stadt nach Rüschlikon. Auch wenn man innert zehn Minuten bei uns ist.» Was funktioniere, seien urbane, alternative Restaurants, in denen man ungezwungen gut essen könne. «Gute Quartierbeizen. Und dann natürlich Restaurants mit Hotels im Rücken. Da funktioniert auch High-End und Schickimicki.»

Pont de Brent: erhebliche Schulden

Wo bis vor Kurzem noch Noix gras – so heisst Buholzers vegane Stopfleberalternative – mit Mispeln, Pistazien, Dörrfeigen und Brioche serviert wurde, finden nun Bankettanlässe für bis zu 50 Personen statt. «Klar, im Gourmet steckte mein Herz drin. Aber wenn der Bereich nur noch Stress verursacht und kaum mehr Freude bereitet, muss es einfach nicht mehr sein.» Das letzte Jahr sei ein innerer Ablösungsprozess gewesen. «Mittlerweile fühle ich mich befreit. Ich bin froh, dass wir uns dabei nicht verschuldet haben, wie etwa das Pont de Brent.» Das Waadtländer Restaurant erhielt vor zwei Wochen den richterlichen Brief: Konkurs! Einst in der Dreisterne- und 19-Punkte-Liga, fehlten dem Restaurant unter der neuen Führung von Küchenchef Antoine Gonnet (1 Stern, 17 Punkte) und Partnerin Amandine Pivault 200 Gäste pro Monat im Vergleich zum Vorjahr. «Wir haben erhebliche Schulden. Es wird Jahre dauern, bis wir alles zurückbezahlt haben», gibt das Duo im Interview mit GaultMillau zu. «Vielleicht würden wir das Pont de Brent heute nicht mehr übernehmen. Wir haben das Gefühl, dass wir in wenigen Monaten um zehn Jahre gealtert sind. Vielleicht waren wir zu ehrgeizig. Wir haben auch zu viel in Material und Personal investiert.»

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Mitja Birlo: «Wir bieten im Counter im Zürcher Hauptbahnhof gehobene Gastronomie – aber in leichtem, coolem Ambiente.» (Bild: zVg)

Als die Restaurants in der Coronakrise wieder öffnen durften, suchte Buholzer vergeblich Mitarbeitende. Die alten wechselten die Branche oder kehrten in ihre Heimat zurück, eine Mitarbeiterin war schwanger. Neue Bewerbungen? Erst mal keine. Er schaltete teure Stelleninserate, es bewarben sich – kein Witz – Maurer. «Nichts gegen Maurer, aber ja, die wollten natürlich nur ihr RAV-Geld und mussten sich bewerben. Das eine Restaurant konnten wir nach Corona aufgrund des Personalmangels zwei, drei Monate gar nicht öffnen. Dann fanden wir Mitarbeitende, aber die blieben jeweils maximal ein halbes Jahr. Es kam keine Konstanz mehr rein. Kaum waren sie eingearbeitet, gingen sie wieder.»

Habe ich versagt?

In der Taverna Rosa, der italienisch angehauchten Beiz im Erdgeschoss, sei dies nicht tragisch. Hier ist Buholzer zugegen, bewegt sich zwischen Küche und Gastraum, kocht, organisiert. «Aber im Gourmet braucht es Mitarbeitende, die den Stammgast kennen und meine Idee verstehen.» Eine Zeit lang versuchte er, auf die neuen Wünsche der Mitarbeitenden einzugehen: Die einen wollten nur mittags arbeiten, andere nur abends. «Aber eben: Alles wurde komplizierter und aufwendiger.» Er besprach sich mit seinem langjährigen Buchhalter und seinem Umfeld. «Letztlich kamen wir alle zum gleichen Schluss.» Auch der Verpächter zeigte sich einsichtig und liess die Veränderung vom Restaurant mit regulären Öffnungszeiten zur Bankett­location zu.

Auf Vorbestellung kocht Buholzer für Gruppen hie und da wie früher, das Kochen auf Sterneniveau fehlt ihm aber nicht. «Ich will gutes Essen zubereiten. Richtig wichtig waren mir der Michelin-Stern und die GaultMillau-Punkte nur eine Zeit lang. Ich will einfach Gäste glücklich machen.» Die Bekanntgabe zur Schliessung der Rose war ein unangenehmes Gefühl. «Es kratzte ein wenig. Wie muss ich das jetzt kommunizieren? Habe ich versagt?» Buholzer stiess auf viel Verständnis.

Gastronomie muss umdenken

Vor Kurzem dinierte er im Kle und im Dar, den beiden veganen Restaurants von Zizi Hattab in Zürich. «Vor allem das Dar gefiel mir sehr, ein sympathischer, cooler Betrieb.» In drei Jahren läuft der Vertrag in Rüschlikon aus. «Ich kann mir vorstellen, danach wieder in der Stadt zu arbeiten. In einem kleinen Betrieb, einfach, möglichst wenig Personal, möglichst nah an den Gästen. Ich bin erst 43-jährig, die Lust ist noch da.»

Gourmetgastronomie – quo vadis? Sind Weisse-Tischtücher-Restaurants auf Sterneniveau in diesen Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit und des Fachkräftemangels überhaupt noch überlebens­fähig, sofern sie nicht durch ein Hotel unterstützt werden? «Ich glaube, die klassische Sternegastronomie stirbt eines Tages aus», meint Buholzer. «Sie hat keine Zukunft. Drei Sterne, High-End, das ist dann wieder was anderes. Da geht man für ein ausserordentliches Gesamterlebnis hin, taucht für ein paar Stunden in eine andere Welt ein.» Wie er es zuletzt im Memories in Bad Ragaz SG bei Sven Wassmer erlebt hatte. «Service, Essen, Getränke – alles auf höchstem Niveau, genial. Alles andere wird schwierig. Der Gast will fein, gesund, nachhaltig essen. Es soll locker sein, und man will schnell wieder gehen können. Drei, vier Stunden sitzen, ein Gang nach dem anderen, zu jedem Gericht und jedem Wein eine Erklärung – das ist ziemlich vorbei.» Die Gastronomie müsse umdenken.

Das Ornellaia in Zürich, das Adelboden in Steinen SZ, das Epoca im Hotel Waldhaus in Flims GR, das Aqua im Hotel Alex in Thalwil ZH, das Chefs Table im Hotel Seepark in Thun und das Zum Äusseren Stand in Bern: In den letzten Monaten gaben zahlreiche klassische Spitzenrestaurants Schliessungen oder Konzeptänderungen bekannt. Weitere dürften folgen. Mitte November 2023 dann der nächste grosse Schock: Fredy und Sabine Grossauer beschlossen, die «Fernsicht» in Heiden AR (zwei Restaurants, Fondue-Chalet und vier Hotelzimmer) im Februar 2024 nach neun Jahren zu schliessen. Tobias Funke führte den Betrieb zu 2 Sternen und 18 Punkten. Wow, schon wieder eines.