«Frauen haben evolutionär bedingt feinere Nasen»

Corinne Nusskern – 04. März 2022
Brandig, buttrig, beerig – so hört es sich an, wenn Christine Brugger Lebensmittel erforscht. Die Sensorikwissenschaf­terin weiss, wie Sensorik funktioniert, wie man sie trainiert und ein Gericht zum geschmacklichen Abenteuer macht.

Christine Brugger, soll – oder muss man sogar – über Geschmack streiten?
Christine Brugger: Ja, man soll darüber streiten, weil die Ansichtsweisen so unterschiedlich sind. Für mich ist Geschmack eins zu eins mit Qualität ver­knüpft. Und Streiten im positiven Sinne ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema. In der Sensorik loten wir auch Facetten aus, die einem vorher nicht bewusst waren. Der eine findet beim Verkosten eines Produkts vielleicht einen nussigen Charakter, jemand anders nicht. Dann gleichen wir dies mit der eigenen Wahrnehmung und der Wirklichkeit ab.

Sensorik lässt sich ja nur mittels eines Menschen messen. Und die sind sehr unterschiedlich und haben erst noch verschiedene Vorlieben …
Absolut. Maschinen (elektronische Nase und elektronische Zunge) können zwar Grundeigenschaften messen, aber sie können diese nicht wie der Mensch in Zusammenhänge bringen oder gar Qualität und Beliebtheit messen. Das kann nur der Mensch. Sensorik ist eine Wissenschaft, die auch Statistik, Psychologie oder Biochemie bedingt.

Geschmack passiert nicht nur im Mund, sondern auch mittels Aromen über die Nase. Wo passiert am meisten?
In der Nase, zu 95 Prozent! Sie ist das am sensibelsten wahrnehmende Sinnesorgan. Es gibt die fünf Grundgeschmacksarten salzig, süss, sauer, bitter und umami; viel­­leicht dreissig unterschiedliche Texturen – aber eine Million Düfte!

Kann jeder Sensorik lernen?
Ja. Das Empfinden und die Kompetenz für Geschmack liegt zu 70 Prozent in den Genen, 30 Prozent lassen sich trainieren. Am besten täglich. Damit ein Gastronom weiss, wie die Wahrnehmung des Gastes ist, muss er sein eigenes Sensorium kennen, um ein Esserlebnis zu zelebrieren.

Wie lange muss man üben, um bei der Basissensorik mitreden zu können?
Bei einer Stunde Training am Tag beginnt man nach zwei Wochen, Aromen zu erkennen und zu identifizieren. Eine Hürde ist zu Beginn oft die Artikulation. Die Sensorik pflegt eine eigene produk­teübergreifende Sprache mit Hauptaromakategorien wie fruchtig, grün, blumig, würzig, röstartig, und diese werden wiederum in einzelne Bestandteile sortiert.

Gibt es eine ideale Tageszeit für das Training?
Ja. Die Sinne arbeiten morgens von 9 bis 11 Uhr am besten. Dann ist die Riechschleimhaut frisch und unbelastet und die Zunge relativ neutral. Ab 11 Uhr wird es schwierig, da kommt Hunger auf, und man empfindet vieles intensiver als sonst. Auch bei einer abendlichen Weinverkostungen sind wir eingeschränkt.

Wie kann die Sensorik im Alltag in der Küche hilfreich sein?
In allen Facetten der Lebensmittelkombination. Reden wir über Schärfe. Das ist der Reiz, der am schnellsten wahrgenommen wird, da reagiert der Körper sofort, und die anderen Sinne werden auf Sparflamme gesetzt. In diesem ­Moment wird das Aroma, etwa Zitrus, vom Gast nicht wahrgenommen – es kommt verzögert an. Also muss ich die Aromafreisetzung weiter nach hinten ziehen. Wir nehmen nie alles zur Minute null wahr. Gute Köche wissen, wie sie diese Reize für ein harmonischeres Pairing einsetzen müssen.

Und wie kann der Service profitieren?
Der Service muss dem Gast erklären können, wie etwas schmeckt und was er auf dem Teller erlebt. Steht auf der Karte «Ka­rotte, Veilchen, Crème» weiss der Gast noch nichts über Konsistenzen oder Temperatur. Da gilt es, dem Gast etwa das Aromenspektrum der Kombination von Karotte und Veilchen als einzigartig zu präsentieren, weil sie gemeinsame Aromabestandteile aufweisen.

Gibt es Tricks, um den Appetit anzuregen, damit der Gast mehr bestellt?
Ja. Alle Zitrusöle und -aromen sind appetitanregend, auch Basilikum, Bergamotte, Limette, Salbei. Säure stimuliert den Magen und macht Lust auf mehr. Röstaromen machen zuerst hungrig, etwa beim Geruch von Grilladen, aber beim Genuss dann eher früher satt.

Können Sie ein Essen auch nur genies­sen, ohne es gleich zu analysieren?
Es ist ein Spiel zwischen Herz, Bauch und Kopf. Ich muss nicht alles analysieren. Es ist die Neugier darüber, was im Gaumen passiert, wie der Koch das gemacht hat, und ich kann mein Wissen ergänzen. Aber ich empfinde es nie als Arbeit!

Stimmt es, dass Frauen bei der Sensorik den Männern überlegen sind?
Laut wissenschaftlichen Studien haben Frauen evolutionär bedingt feinere Nasen, da ihre Schutzfunktion vor Gefahrdüften stärker ausgeprägt ist, um ein ungeborenes Kind zu schützen. Simpel gesagt steigt bei höherem Östrogenspiegel die Geruchsempfindlichkeit. Die Genetik macht aber nur 70 Prozent aus. Trainiert ein Mann fünfmal die Woche, sticht er den Östrogenspiegel aus.

Haben Sie einen Lieblingsgeschmack?
Ich mag natürliche Umami-Komponenten, sie geben ein schönes, füllendes und zufriedenes Gefühl im Gaumen. Zum Beispiel Misopaste zu Blumenkohl, da öffnet sich eine ganz neue Welt! Bei den Aromen begeistern mich Zitrusdüfte von Bergamotte bis zu Kumquats.

Und was war das Absurdeste, das Sie je sensorisch verkostet haben?
Als ich bei Givaudan forschte, erkannte ich in einer Vanilleschote ein unerwartetes Aroma: nasses Stoffheftpflaster! Ich entdeckte, dass Vanilleschoten phenolische Aromakomponen­ten haben. Diese kommen in Heftpflastern und medizinischen Gerüchen vor. Das ist nicht weiter schlimm, die Krux ist nur, ich werde es nicht mehr los. Esse ich ein Vanilleeis, suche ich immer nach Heftpflaster. (lacht)