Die Nummer zwei im Schatten der Sterneköche

– 29. September 2022
Der schnelle Ruhm lockt: Viele Köche streben früh nach Punkten und Sternen. Ganz selten gibt es noch solche, die jahrelang an zweiter Position ausharren. Menschen wie Antonino Alampi, Kevin Fernandez oder Marco Böhler sind von grossem Wert für ihre Chefs.

Als Mitja Birlo im vergangenen November von GaultMillau zum Koch des Jahres gekürt wird, versammelt sich im 7132 Hotel in Vals GR die Schweizer Kochelite fast lückenlos. Nach dem offiziellen Teil gibt es Häppchen. Man stösst an, pflegt Kontakte, geniesst einen dieser seltenen Momente, in denen man die bekannten Gesichter wiedersieht. Die meisten stehen. Einer sitzt am Tisch und beobachtet das Geschehen still. Es könnte ihm unangenehm sein, dass ihn viele nicht kennen. Diesen Eindruck macht er nicht. Das Rampenlicht überlässt er gerne den anderen. Es ist Antonino Alampi, Küchenchef im Ristorante Ornellaia, 1 Michelin-Stern, 16 Gault-Millau-Punkte. Nur einen Steinwurf von der Zürcher Bahnhofstrasse entfernt. Warum ihn dennoch nur die wenigsten Berufskollegen kennen: Er ist die Nummer zwei im Schatten von Antonio Colaianni. Letzterer hat eine treue Fangemeinde, ist der grosse Name und das Gesicht des Restaurants. Er macht im Lokal die Runde, holt das Lob der Gäste ab, erntet Applaus von den renommierten Guides, sammelt Punkte und Sterne. Und Alam­pi? Der war früher auch mit Punkten im GaultMillau und im Guide Michelin, etwa als er im Il Casale in Wetzikon ZH kochte. Seit sieben Jahren arbeitet er Seite an Seite mit Colaianni. Den Platz an der Sonne überlässt er diesem gerne.

Der 47-jährige Alampi ist einer der wenigen Spitzenköche im Land, die über viele Jahre im Hintergrund an zweiter Position bleiben. Die nicht die Überholspur wählen. Die ihre Bestätigung nicht in Punkten und Sternen und in möglichst vielen Followern auf den sozialen Medien suchen. Höchste Zeit, diese loyalen Schattenleute auf ein Podest zu hieven.

Alampi bestellte 22 Gerichte

Das Ornellaia ist bis auf den letzten Platz gefüllt, ein ganz gewöhnlicher Mittag. Hinter der Glasscheibe kochen Colaianni, Alampi und Co. Die Gäste können ihnen dabei zuschauen. Das Ensemble scheint zu funktionieren, die zwei Chefs tauschen Blicke aus, mehr nicht. Nur einmal enerviert sich Colaianni kurz. «Die Sauce war nicht kontrolliert», erklärt er später. «Wir haben einen neuen Saucier. Deshalb gab ich Antonino die Anweisung, er solle die Saucen kontrollieren. Als ich sah, dass die Konsistenz trotzdem nicht passte, war ich genervt. Das teilte ich Antonino und dem Saucier klipp und klar mit.» Alampi nickt und lächelt. Er erinnert sich an frühere Zeiten im Restaurant Gustav. Damals teilte Colaianni verbal noch anders aus. Hinter verschlossener Tür, nicht vor dem Gast. «Ich bin der, der flucht», gibt Colaianni zu. «Antonino ist der Ruhige. Ich habe diesbezüglich viel von ihm gelernt und bin froh darum. Wenn ich heute mit meinen Köchen so umgehen würde wie früher, hätten wir keine Leute mehr.»

Die beiden lernen sich kennen, als Colaianni im Schloss Rapperswil SG kocht. Alampi und ein Berufskollege sind zu Gast, bestellen 22 Gerichte. Eine Freundschaft entsteht. Sie gehen gemeinsam aus, feiern 2006 den Fussball-WM-Titel «ihrer» Italiener gemeinsam. Colaianni: «Wir grillierten und zogen nach dem Sieg an die Langstrasse.» Als er fürs Gustav eine Führungskraft für die Küche sucht, denkt er an Alampi. «Ich war zuvor ein paar Mal bei ihm im Restaurant und schlug ihn ja auch schon als meinen Nachfolger im Il Casale vor.» Das zweiminütige Einstellungsgespräch besiegeln die beiden per Handschlag. Klar ist von Beginn weg: Colaianni ist die Nummer eins. Alampi: «Für mich passte es so. Die eigenen Punkte und Sterne waren schön, aber die bedeuteten mir nie so viel wie manch anderen Köchen.»

Colaianni kümmert sich um die Rekrutierung, die Menügestaltung, das Kreative. Alampi ist dafür verantwortlich, dass die Küche funktioniert, die Hygiene, das Bestellwesen. Colaianni: «Ich bin zudem näher bei den Gästen. Wir ergänzen uns perfekt.» Alampi nickt.

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Die Gerichte im Ornellaia tragen die Handschrift von Antonio Colaianni. Er weiss genau, wie sein Chef es haben möchte. (Foto: Valeriano Di Domenico)

«Mamma mia, wenn der mir mal davonläuft ...»

Er liebt es, am Herd zu stehen, zu produzieren. Das Büro mag er nicht. Regelmässige Sitzungen? «Nein, wir arbeiten neben­ein­ander. Wenn etwas nicht passt, reden wir», sagt Alam­pi. Dass die Gerichte hier nicht seine Handschrift tragen, macht dem gebürtigen Tessiner und Sohn italienischer Eltern nichts aus. «Das ist Antonios Stärke.» Colaianni weiss um sein Glück, einen so erfahrenen Koch seit Jahren an seiner Seite zu wissen: «Ich versuche, Antonino in jedem Interview zu erwähnen. Ich hätte ihn auch gerne an mehr Anlässen dabei. Er lehnt fast immer ab. Aufs Gourmetschiff kommt er mit. Und ja, zuletzt dachte ich gerade mal wieder: ‹Mamma mia, wenn der mir mal davonläuft ...›» Alampi schmunzelt: «Ich laufe nicht davon.»

Neid kennt die Nummer zwei im Ornellaia nicht. «Viele Gäste kennen mich, grüssen und loben.» Mehr braucht Alampi nicht, auch keine ständigen Danksagungen vom Chef. Respekt, darum gehe es. «Wir haben uns noch nie ‹Tubel› gesagt oder gestritten.» Einzig, dass Alampi mit ihm nach Feierabend nicht um die Häuser zieht, stört Colaianni. Alampi: «Ich wohne nicht in der Stadt. Und ich bin älter geworden.» Colaianni: «Hey, ich bin älter als du.» Er ist 53-jährig. Alampi nickt.


Gar seit elf Jahren arbeitet Kevin Fernandez am selben Ort, im Restaurant Talvo in Champfèr GR. Vor sechs Jahren ist er zum Souschef von Martin Dalsass aufgestiegen. Ein bemerkenswert loyaler Werdegang für einen so jungen Koch. «Er ist jung und ehrgeizig, muss noch ein wenig reifen, aber er kann Menschen führen», lobt Dalsass, dessen Betrieb mit 1 Michelin-Stern und 18 Punkten ausgezeichnet ist. «Ich habe immer mit sehr jungen Köchen zusammengearbeitet. Meistens ziehen sie nach spätestens fünf Jahren weiter.» Nicht so der Sohn spanischer Einwanderer. Vom Chef erntet er Wertschätzung und viel Vertrauen. Die Menükarte schreiben sie mittlerweile gemeinsam, beim Anrichten lässt ihm der Südtiroler Spitzenkoch den Vortritt. «Kevin hat das bessere Auge für den feineren Stil.»

Dalsass bedauert, dass nicht mehr Jungköche einen solchen Weg wählen. «Viele wollen mit 22 oder 23 Küchenchef werden. Ihnen fehlt die Erfahrung.» Fernandez’ Verbleib ist ein Glück für beide Seiten. Und für die Gäste. In zwei Jahren will Dalsass in den Ruhestand treten, der Souschef darf übernehmen. «Wir haben mit den Besitzern des Hauses Gespräche geführt. Wir sind alle glücklich darüber, dass mein Nachfolger der Linie treu bleibt. Wobei Kevin natürlich mit der Zeit seinen eigenen Stil einfliessen lassen wird.»

Dalsass glaubt aber nicht, dass Fernandez aufgrund der Perspektive, Küchenchef zu werden, schon so lange die Nummer zwei ist. Dafür braucht es ein stimmiges Arbeitsumfeld und einen Menschen, der sich nicht von falschen Reizen irritieren lässt. Nicht von Instagram und Gleichaltrigen, die nach dem schnellen Ruhm streben. Nicht von Netflix-Serien und Guides, die manch einen über Nacht zum Star hochjubeln. Dalsass: «Kevin versteht mich.»

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Marco Böhler: «Tanja und ich ­pflegen einen familiären Umgang. Man muss einander schätzen und ­respektieren. Und direkt und ehrlich kommunizieren.» (Foto: Daniel Winkler)

«Eigene Sterne brauche ich nicht»


Marco Böhler ist die bekannteste Nummer zwei des Landes – zu­mindest in der Gastroszene. Der Küchen­chef von Tanja Grandits hält der Star­kö­chin seit 14 Jahren den Rücken frei.


Alleskönner, wandelndes Küchenlexikon, Schattenmann, zweiter Star am Herd, Souschef, wichtigster Mann, Stellvertreter – immer wieder findet die Presse neue Begriffe und Titel für Marco Böhler. Der 37-Jährige ist seit einer gefühlten Ewigkeit Tanja Grandits’ Küchenchef im Restaurant Stucki in Basel. Abwerbungsversuche prallen an ihm ab. Er ist der Gegenpol zu all den Köchen, die nach wenigen Jahren in der Spitzengastronomie nach eigenen Punkten und Sternen streben. Wie und weshalb widersetzt er sich diesem Drang nach Ruhm in den renommierten Guides und auf Social Media?

 

Marco Böhler, seit 16 Jahren arbeiten Sie im Basler Zweisternerestaurant Stucki. Tanja Grandits ist seit 14 Jahren die Chefin und Sie ihr Küchenchef. Wie oft wollten Sie den Betrieb schon verlassen?
Marco Böhler: In so vielen Jahren gibt es hie und da mal einen Tag, an dem es nicht läuft. Da hat man vielleicht mal kurz so einen Gedanken. Aber nein, so richtig war das nie ein Thema für mich. Wieso denn auch? Ich habe hier so viele Möglichkeiten. Diese Woche stand – vom Alltag abgesehen – ein Kochkurs mit Kin­dern in St. Gallen an. An den beiden freien Tag durfte ich nach Spanien reisen und erhielt sehr exklusive Einblicke in eine tolle Thunfischzucht. Stamm­­gäste kommen mit spannenden Spezialwünschen. Kürzlich kam aus dem Elsass einer mit zwölf Kilogramm Steinpilzen.

Viele gleichaltrige Berufskollegen haben längst ihre eigenen Sterne und Punkte. Wann begriffen Sie, dass Sie keine brauchen, um glücklich zu sein?
Vor 17 Jahren hatte ich andere Ansichten vom Leben. Ich wollte Gas geben, so viel wie möglich sehen. Über die Jahre bin ich in meine Position und in dieses andere Denken reingewachsen. Und bin mittlerweile quasi der Chef, habe 22 Mitarbeitende in der Küche. Von ihnen kommt so viel zurück. Die meisten bleiben viele Jahre. Das ermöglicht ein anderes Arbeiten als sonstwo. Ich muss nicht alles ständig neu aufbauen.

Mit dieser Kontinuität sorgen Sie dafür, dass Ihr Betrieb den Fachkräftemangel kaum spürt.
Wir ticken einfach anders. Wir bilden aus, aktuell sechs Leute. Auf unserem Niveau ist das nicht selbstverständlich. Bei uns werden alle Mitarbeitenden gleichermassen geschätzt und respektiert. Das war schon immer so, wir müssen uns nicht jetzt plötzlich ändern. Ich sage den Lernenden immer wieder: «So wie hier läuft es in anderen Betrieben nicht.» Mit unserer Art kriegen wir es hin, dass die Lernenden von sich aus motiviert sind, über sich hinauszuwachsen.

Haben Sie diesen Drang nach eigenem Ruhm nicht mehr in sich?
Sterne und Punkte sind ein schnelllebiges Geschäft. Ich finde, manchmal kriegt man sie zu schnell. Oder Betriebe verpflichten ihren neuen Küchenchef sogar vertraglich, innerhalb einer bestimmten Frist Sterne zu erkochen. Das gefällt mir nicht. Ich stehe auf Konstanz. Wir waren zu fünft in der Küche, haben alles kontinuierlich und wirtschaftlich aufgebaut. Darauf bin ich stolz. Eigene Sterne brauche ich nicht als Bestätigung.

Tanja Grandits ist der Star, Sie stehen in Ihrem Schatten. War die Aufteilung von Anfang an klar?
Ja, und an dieser hat sich kaum was geändert. Ich bin für die Bestellung und den Einkauf verantwortlich. Ein Büro oder einen Computer habe ich nicht. Ich stehe am Herd, alles andere erledige ich per Telefon. Tanja verantwortet das gesamte Konzept und sorgt für das perfekte Erlebnis der Gäste. Sie ist kreativer. Ich bin froh, dass ich das Besteck nicht auswählen muss.

Worin unterscheiden Sie sich sonst?
Ich bevorzuge Fisch und Fleisch, sie ist im vegetarischen und veganen Segment zu Hause. Ich weiss vielleicht noch etwas mehr Bescheid bezüglich der Produkte.

Geschäftlich oder freundschaftlich – wie beschreiben Sie die Beziehung zu Tanja Grandits?
Wir pflegen einen familiären Umgang. Ich bin ja quasi der nicht verwandte Onkel ihrer Tochter Emma. Ich kann mich noch an ihre Zeit in der Spielgruppe erinnern, heute fährt sie Roller. Wir haben viel zusammen erlebt.

Wann streiten Sie mit Tanja Grandits?
Das klingt vielleicht langweilig: Wir hatten noch nie Streit.

Nur wenige Duos funktionieren über Jahre so. Was ist das Geheimnis?
Man muss einander schätzen und respektieren. Und direkt und ehrlich kommunizieren. Wenn zwei so ticken, ist es einfach.

Sind Sie nie neidisch?
Ich wüsste nicht, worauf. Ich bin extrem zufrieden.

Wer schreibt das Menü?
Wir beide zusammen. Ich telefoniere viel mit den Lieferanten. So entscheide ich, welche Produkte wir nehmen. Dann fragt Tanja mich nach diesen, und wir besprechen, wie wir die Gerichte gestalten. Das Gemüse dazu gibt die Farbe an, darum herum basteln wir dann. Sie fragt mich, ob etwas geht oder zu teuer ist. Unsere Souschefs Fabian Wehrli und André Kneubühler sowie Garde-Manger Mar­le­ne Schläffer reden mit. Und natürlich Chef-Pâtissier Julien Duvernay.

Wie nimmt die Brigade Sie wahr? Wessen Wort zählt?
Tanja und ich sind beide die Chefs. Für die Lernenden bin ich der Ansprechpartner, ich bin der einzige Ausbildner hier. Es kann mal sein, dass Tanja involviert wird, aber grundsätzlich kommen die Lernenden mit ihren Fragen zu mir.

Vor drei Jahren zeichnete GaultMillau Tanja Grandits zum «Koch des Jahres» aus und würdigte die Küche erstmals mit 19 Punkten. Sie sagten damals: «Wir sind auf dem Höhepunkt.» Wo sind Sie heute?
Immer noch auf dem Höhepunkt. Wir haben noch mehr Mitarbeitende, die Auslastung des Restaurants ist wahnsinnig. Bis Ende Jahr sind nur noch wenige Tische frei. Die Gäste sind sehr happy. Sogar am Mittag sind es stets 48 bis 60 Gäste.

Wie lange bleiben Sie noch?
Keine Ahnung. Darüber denke ich kaum nach. Es stimmt für mich, es könnte nicht besser sein.