«Anfangs ­stiessen wir viele Gäste vor den Kopf»

– 24. März 2022
Andreas Caminada tut es, Norbert ­Niederkofler noch viel radikaler: Die beiden Dreisterneköche kochen regional. Im Interview geben sie Tipps für jeden Koch, der mitziehen möchte. Denn wer will, der kann.

Restaurant AlpiNN, auf dem Südtiroler Berg Kronplatz, 2275 Meter über Meer: Die extravagante Architektur lässt die Blicke der Gäste über 270 Grad auf über spektakuläre Bergwelt schweifen (siehe Bild der Woche auf S. 38). Hier lässt Dreisternekoch Norbert Niederkofler nur das servieren, was die Region hergibt. Ausser an diesem Abend. Ausnahmsweise teilt er die Küche mit dem Bündner Andreas Caminada – ein Four-Hands-Dinner der Extraklasse. Gastro­Journal unterhielt sich im Rahmen des Anlasses gemeinsam mit den beiden Spitzenköchen. Bei beiden spielt Regionalität und Nachhaltigkeit eine grosse Rolle.

Norbert Niederkofler, Ihre Küchenphilosophie lautet «cook the mountain». Erklären Sie.
Nobert Niederkofler (NN): 2008 wurden wir mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet. Damals kochten wir ganz anders: Alles, was ich auf der Welt gesehen habe, liess ich einfliegen. Dann suchte ich das Gespräch mit unseren Gästen und fragte sie: «Was sucht ihr eigentlich, wenn ihr hierher kommt?» Die Antwort war das Gegenteil von dem, was wir taten. Sie wollten die Berge sehen, die gute Luft einatmen, das lokale Essen geniessen. Ich realisierte: Wir machen alles falsch.

Eine brutale Erkenntnis. Wie reagierten Sie?
NN: Eben, mit «cook the mountain». Ich schrieb die Idee nieder, und wir setzten sie um: keine Produkte aus Gewächshäusern, kein Olivenöl, keine Zitrusfrüchte. Im Zeichen des Respekts gegenüber dem Berg versuchen wir auch, keinen Abfall zu produzieren. Bis wir die gesamte Versorgungskette aufgebaut hatten, dauerte es vier, fünf Jahre. Heute kaufen wir keine Fleischstücke mehr ein, sondern nur noch ganze Tiere beim Bauern. Wir verarbeiten alles. Ein sehr bodenständiges Konzept im Einklang mit den Produzenten und der Natur.

Wie kommen Sie mit ausschliesslich regionalen Produkten durch den Winter?
NN: Mit Einlegen, Einkochen und Fermentieren.

Woher holten Sie sich das nötige Wissen, um eine Küche auf höchstem Niveau anbieten zu können, bei der Sie nur auf regionale Zutaten zurückgreifen?
NN: Wir haben sehr viel von den Bauern gelernt. Dadurch, dass wir fast keine Zwischenhändler haben, reden wir viel mit den Bauern. Wir suchten Leute, die für uns Kräuter sammeln, Mykologen, die uns bei den Pilzen helfen. Und letztlich merkst du, dass du gar nichts Neues machst, weil alles schon da war.

Wie waren die Rückmeldungen der Gäste nach der Umstellung?
NN: Anfangs irritierten wir damit zahlreiche Gäste. Man muss sich vorstellen: Ich habe vor 28 Jahren im Rosa Alpina angefangen. Da war eine Pizzeria, kein Restaurant. Allmählich bauten wir dieses auf, erhielten im Jahr 2000 den ersten Stern. Über all die Jahre entstanden viele Klassiker, die wir heute nicht mehr anbieten, weil sie nicht zu unserer Philosophie passen. Damit stiessen wir sehr viele Gäste vor den Kopf. Gäste, die Jahr für Jahr kommen. Und plötzlich gibt es diese Rotbarbe oder die Variation von der Gänseleber, die sie so liebten, nicht mehr.

Machten die Gäste die Umstellung mit, oder sind es heute andere Gäste?
NN: Dank der Arbeit der Familie Pizzini haben wir extrem viele internationale Gäste, extrem viele Wechsel. Für diese Gäste ist unser Konzept interessant. Wir haben nur drei, vier Prozent Südtiroler Gäste. Das ist ein bisschen schockierend. Ich bin dennoch heilfroh über die damalige Entscheidung. Wir machen es gut.

Würden Sie es also wieder so machen?
NN: Puh! Ich weiss nicht, das Konzept ist einengend. Ich bin aber happy, dass wir es durchgezogen haben. Es zeigt jungen Gastronomen, dass man mit einer regionalen Küche auf Drei­sterneniveau kochen kann, egal in welcher Region, sogar hier am Berg, wo vier, fünf Monate nichts wächst. Das ist sehr wichtig, denn nur so bewahren wir die regionale Esskultur. Keine Frage: Auf diesem Level funktioniert das natürlich nur mit einem grossen, motivierten Team.

Weshalb ist das wichtig?
NN: Zum einen, weil es schade wäre, wenn wir irgendwann überall dasselbe essen würden. Zum anderen aber vor allem, um die Weltbevölkerung auf lange Frist ernähren zu können. Eine Studie des Schweizer Entwicklungsexperten Hans Rudolf Herren zeigt auf, dass acht, neun Milliarden Menschen auf lange Frist nur mit kleinen Produzenten ernährbar sind. Die müssen wir unterstützen und nicht jene, die mit der Monokultur die Böden kaputt machen.

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Kohl / Kohl: So simpel preist Caminada diesen Teller an. Roh, fermentiert, gepickelt, als Sorbet, ein wahres Kohl-Bouquet. Das beste Gericht des Abends – aus diesen bescheidenen Zutaten (Fotos: Luca Dal Gesso)

Andreas Caminada, auch Sie kochen mittlerweile regional und verzichten auf die gängigen Luxusprodukte. Stiessen Sie durch die Umstellung Ihre Gäste ebenfalls vor den Kopf?
Andreas Caminada (AC): Nein, bei uns gab es nicht diesen radikalen Wechsel von heute auf morgen. Es war eine laufende Entwicklung.

Regional kochen: Tun Sie dies, um eine einzigartige, unverwechselbare Geschichte erzählen zu können, oder aufgrund der Nachhaltigkeit?
AC: Die Gesellschaft entwickelt sich und wir uns mit ihr. Nach der Regionalität kommt nun der Vegan-Trend. Die Frage ist immer, wie weit man Trends und Entwicklungen mitmachen möchte. Wie Autohersteller, die einerseits ihre DNA beibehalten möchten, aber jetzt schon oder in Zukunft Elektroautos produzieren werden.

Sehen Sie sich als bekannter Koch in der Pflicht, ein Vorbild zu sein?
AC: Wir Sterneköche sind in einer speziellen Position. Ja, wir haben eine gewisse Verpflichtung, eine Vorreiterrolle. Wir wollen nicht erst nach fünf Jahren auf einen fahrenden Zug aufspringen. Wir sind Vordenker.

Vieles, das Sie machen, geht wohl nur auf Sterneniveau und mit einer grossen Brigade. Was funktioniert für ein einfaches Restaurant?
NN: Wer will, der kann. Keiner muss mit Flugware kochen. Die Produkte sind da.
AC: Das ist keine Frage der Sterne, sondern des eigenen Antriebs, des eigenen Anspruchs. Möchte ich einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten oder nicht? Und will ich beliebig sein oder etwas Eigenes anbieten können? Klar, kann nicht jeder wie wir einen eigenen Garten betreiben, aber den Bauern aus der Region berücksichtigen und für den Winter dessen Gemüse einmachen kann jeder.

Andreas Caminada, Ihr Kohlgericht ist ein Vorzeigebeispiel – natürlich eines auf Gourmetniveau – für die spannende, regionale Gemüseküche.
AC: Da ist Federkohl, Rosenkohl, Weisskohl, Rotkohl in verschiedenen Texturen drin. Roh, fermentiert, gekocht, als Sorbet. Ein einfaches Gemüsegericht, aber mit Säure und Spannung. Kohl ist oft langweilig und fühlt sich schwer und stumpf an. Dieses Gericht ist aber sehr anregend, ein erfrischender, farbiger Starter.

Norbert Niederkofler, welches Ihrer Gerichte vom Four-Hands-Dinner heben Sie hervor?
NN: Ich mag sie alle (lacht). Aber lassen Sie mich die Geschichte von unserem Tatar von der Renke (schweizerisch: Felchen; Anmerkung der Redaktion) erzählen.

Gerne.
NN: Wir haben den Fisch auf den Tisch gelegt und sagten uns: «Wir hören erst auf, wenn alles verarbeitet ist.» Haut, Schuppen, Kopf, Gräten – alles ist verarbeitet, trägt zur Nachhaltigkeit bei und veredelt letztlich das Gericht.

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Für das Felchentatar mit Beurre Blanc verwendet Niederkofler alles vom Fisch. Der Kopf und die Karkasse verleihen der Sauce Kraft, die Schuppen werden zur knusprigen Überraschung.