«Es gibt keine israelische Küche»

– 12. Januar 2023
Israelische und arabische Köche begegnen sich am St. Moritz Gourmet Festival, das am 20. Januar 2023 startet – eine brisante Konstellation. Es geht um Stolz, Tradition und Missverständnisse.

Treffen sich ein libanesischer, ein israelischer und ein palästinensischer Koch in St. Moritz – es könnte der Beginn eines Witzes sein. Ist es aber nicht. Mutig, mutig. In einer weltpolitisch höchst angespannten Lage lädt St. Moritz zu einer brisanten Ausgabe seines Gourmet Festivals. 2016 hiess das Motto Japan, 2017 USA, 2022 Swiss Made. Nicht immer stand das Event unter einem klar definierten Thema. «Das braucht es unbedingt», findet Rolf Fliegauf (42), Zweisternekoch im edlen Boutiquehotel Giardino Mountain. Der Süddeutsche freut sich jedes Jahr auf seinen Gastkoch.

Middle East, zu Deutsch Naher Osten, heisst das diesjährige Motto. Zwar erweitern die Organisatoren diese Region um Länder wie Marokko, die Türkei oder Griechenland, doch im Grunde genommen fasst diese die arabischen Staaten Vorderasiens sowie Israel zusammen. Während in der Vorwoche Politik- und Wirtschaftsgrössen nur 34 Kilometer Luftlinie weiter nördlich anlässlich des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos über die Zukunft des Planeten debattieren, steigt am 24. Januar im St. Moritzer Badrutt’s Palace die beliebte Kitchen Party. Kein gesperrter Luftraum, keine Bodyguards, während Gal Ben Moshe, Raz Rahav (beide Israeli), Sami Tamimi (Palästinenser) und Alan Geaam (Libanese) die Gäste mit feinsten Häppchen verwöhnen.

«Ja, es ärgert mich»

Ein brisantes Gipfeltreffen oder alles nur eine hochstilisierte Journalistengeschichte? Die Antwort liefert der in einer muslimischen Familie in Ostjerusalem aufgewachsene Palästinenser Sami Tamimi (54) gleich selbst: «Es gibt keine israelische Küche!» Den zweiten Giftpfeil schiesst er gleich hinterher: «Ja, es ärgert mich, wenn ein Koch mit polnischen Wurzeln in Tel Aviv palästinensische Gerichte zubereitet und er als bester israelischer Koch gefeiert wird.» Soll noch einer sagen, Essen sei unpolitisch und Essen bringe Menschen zusammen. Jener Koch mit polnischen Wurzeln ist Raz Rahav (31)! Sein Restaurant OCD fasst 19 Sitzplätze. Wer sich einen solchen ergattern will, muss ein halbes Jahr im Voraus buchen. Gault Millau kürte Rahav zum israelischen Koch des Jahres 2018. Die renommierte Liste The World’s 50 Best Restaurants führt das OCD als drittbestes Restaurant des Jahres 2022 in der zusammengefassten Region Nahost und Nordafrika. Rahav gastiert vom 25. bis 27. Januar – also in der zweiten Festivalhälfte – im St. Moritzer Fünfsternehotel Carlton und will seine Gäste mit Gourmetgerichten verwöhnen, die an seine Heimat und die Herkunft seiner Familie erinnern. Israelische und polnische Küche also? «Nein, es gibt keine israelische Küche.» Eine auf den ersten Blick überraschende Antwort.

 

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Sami Tamimi ist in der Altstadt von Ostjerusalem aufgewachsen. Heute lebt der palästinensische Koch und Bestseller-­Co-Autor («Jerusalem», «Falastin») in London (Foto: ZVG)

Säure, Bitterkeit, Rauch

Jahr für Jahr – die Coronakrise ausgenommen – pilgern Millionen Touristen ins Heilige Land, 2019 waren es knapp fünf Millionen. Viele wählen diese Destination nicht (nur) aus religiösen oder kulturellen Gründen aus. Israel, insbesondere Tel Aviv, erlebt seit Jahren einen spektakulären Foodboom. Die zahllosen Restaurants in der Wirtschaftsmetropole am Mittelmeer sind auch an Wochentagen rappelvoll, kaum eine Beiz entpuppt sich als Touristenfalle, was sich am grossen Aufkommen des einheimischen Publikums zeigt. Man zelebriert Teller zum Teilen, geniesst die langen Abende im Restaurant, Gastfreundschaft und Geselligkeit. Rahav erklärt: «Die Dichte an guten Betrieben macht es aus. Man isst überall gut, überall wird frisch gekocht. Wir gehen bei der Säure, der Bitterkeit und bei Raucharomen ans Limit, die Leute lieben es.» Dann tritt er auf die Euphoriebremse: «Aber von israelischer Küche zu reden, wäre falsch. Die gibt es nicht. Noch nicht.»

Gal Ben Moshe (37), der Israeli, der in Berlin das Sternerestaurant Prism führt und in St. Moritz im Giardino Mountain kocht, pflichtet bei: «Tel Aviv ist eine der leckersten Städte der Welt. Die Konkurrenz ist riesig, die Qualität eines jeden simplen Restaurants ist sehr gut. Wer vom Food-Erlebnis in Tel Aviv schwärmt, denkt dabei ans geniale Ambiente. Man sitzt gemeinsam unter freiem Himmel und geniesst. Der Tisch ist voll mit tollem Essen. Aber eine israelische Küche? Nein.»

Die wenigsten arbeiten zusammen

Die Staatsgründung Israels liegt erst gut 74 Jahre zurück, das Land ist ein Schmelztiegel. Juden aus aller Welt brachten unterschiedliche Kulturen aus ihren Herkunftsländern mit, aus West- und Osteuropa, aus Amerika, aus dem arabischen Raum. Spätere Einwanderungswellen aus afrikanischen Ländern erweiterten das Spektrum. Das Land, in dem gemäss der Bibel «Milch und Honig fliesst», ist fruchtbar. Das Angebot an einheimischen Früchten und Gemüse ist rund ums Jahr gewaltig, Meeresfische und Seafood von hoher Qualität, hochwertige Weine, die im internationalen Vergleich bestehen. «Aber von einer eigenen, israelischen Küche sind wir vielleicht noch 100 Jahre entfernt», glaubt Rahav. «Er und ein paar wenige Berufskollegen legen dafür derzeit den Grundstein. Geben sich mit Hummus, Shakshuka, mutig gewürzten Grillspezialitäten, variantenreichen, geschmacksintensiven Salaten und einem coolen Ambiente nicht zufrieden. «Leider tun das die wenigsten gemeinsam, viele Köche arbeiten für sich allein. Nach aussen treten wir allerdings gerne gemeinsam auf.»

Doch wie erfindet man denn die eigene, israelische Küche? Einen gewichtigen Beitrag hierzu liefert die Tel Aviver Weinbar Brut. «Die beiden Macher vom Brut gehören zu meinen besten Freunden», erzählt Ben Moshe. Yair Yosefi und Omer Ben Gal zelebrieren das lokale Terroir und forschen pausenlos. Rohstoffe, Kultur, Gemeinschaften und auch Konflikte – alles, was dem Land seinen Charakter verleiht, ist Teil des Bildes, das sich das Duo macht. «Sie betreiben ein eigenes Foodlabor, suchen nach Produkten und den passenden Techniken», so Ben Moshe. «Sie sind mutig, clever und kreativ. In zwanzig Jahren wird man auf die jetzige Zeit zurückblicken und sagen: Hier begann die Geschichte der israelischen Küche.»

Auf der Brut-Speisekarte finden sich derzeit lokale Salate, libanesische Kibbeh (Hackfleischgebäck mit Bulgur), spanische Makrelen, pochierter Ziegenkäse aus der Gegend, ein Bonito-Tatar, Lammspiesse, ein Kohlsteak mit Linsenragout an einer Demi-Glace, ein Rührei mit Krabbeninnereien. Die Weinkarte präsentiert nebst internationalen Spitzenweinen zahlreiche lokale Produzenten, die mit naturnahem Schaffen brillieren. Manche Weine werden exklusiv fürs Brut hergestellt und abgefüllt. Ein weiteres Mosaiksteinchen auf dem Weg zur eigenen Identität.

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Raz Rahav gilt als bester Koch Israels. Sein Restaurant OCD in Tel Aviv wurde von der renommierten «50 Best»-Liste zur Nummer 3 in der Region Nahost und Nordafrika gekürt. Am St. Moritz Gourmet Festival sind seine Gerichte im Hotel Carlton zu geniessen (Foto: Haim Yosef, ZVG)

Mehr als Shawarma und Falafel

Als Ben Moshe 2012 sein erstes Restaurant in Berlin eröffnete, distanzierte er sich vorerst bewusst von der israelischen Küche. «Ich möchte nicht als israelischer Koch, sondern als Gourmetkoch angeschaut werden. Und ich wollte im ‹Glass› keine Gäste im Restaurant, die fragen, weshalb wir keine Pita servieren.» Heute widerspiegelt Ben Moshes 2018 eröffnetes Prism die Wege, durch welche sein Leben führte. Israel ist ein Teil davon. «Die levantinische Küche verdient mehr Respekt. Sie ist mehr als nur Falafel und Shawarma. Deshalb hebe ich sie auf ein Fine-Dining-Niveau. Toll, dass wir dies in St. Moritz einem neuen Publikum zeigen dürfen.» Als Levante wird die Ostküste des Mittelmeeres und ihr Hinterland, also das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien sowie der palästinensischen Autonomiegebiete und der türkischen Provinz Hatay bezeichnet.

Ben Moshe liebt weisse Tischtücher und Kristallgläser. «Ganz klassisch», sagt er lachend. «Als in Europa gerade mal noch ganz simpel gekocht wurde, ging es im arabischen Raum schon sehr luxuriös zu und her. Was ich damit sagen möchte: Die jüdische und arabische Küche hat eine grosse Tradition im Gourmetbereich. Es gibt Geschichten aus dem 11. Jahrhundert, die von grossartigen Festmahlzeiten in Damaskus erzählen.» So serviert er im Prism zwar Khubeza, jedoch auf Sterneniveau. «Traditionell würde die palästinensische Grossmutter Khubeza, ein wildes Grün, mit Bulgur und weiteren Zutaten vermengen, im Ofen backen und als Beilage servieren. Wir aber machen ein Pulver daraus und servieren es als Tempura.»

Magische Momente

Der Koch aus Rishon Letzion, einer Stadt südöstlich von Tel Aviv, freut sich auf das Zusammentreffen mit seinen arabischen Berufskollegen im Engadin. «Es wird grossartig. In den vergangenen Jahren kochte ich oft in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Alle libanesischen und syrischen Köche, die ich traf, wurden sogleich zu Freunden. Erst recht, wenn wir nun weit weg von Hause aufeinandertreffen: Es wird sofort klick machen. Wir haben so viele Gemeinsamkeiten.» Libanon und Syrien gelten als Erzfeinde Israels, doch Ben Moshe berichtet lieber von magischen Momenten. «Vor einem halben Jahr sassen am selben Abend ein israelischer (Yaacov Oryah, Weingut Oryah) und ein libanesischer (Maher Harb, Weingut Sept) Winzer bei mir im Restaurant. Am Ende des Abends tranken sie jeweils vom Wein des anderen und genossen die Zeit zusammen. So schön, es wirkte so natürlich.»

Rahav zeichnet indes ein anderes Bild. Als der Spitzenkoch vor einem Jahr zum 50-Best-Anlass nach Dubai eingeladen wird, erlebt er Unterschiedliches: «Mit manchen arabischen Köchen stehen wir seither in einem engen Austausch. Andere mieden uns. Ich hatte mit einem arabischen Koch ein Gespräch. Er hatte Angst, mit mir fotografiert zu werden. Er befürchtete, dass Leute danach sein Restaurant boykottieren würden.» Wie blickt er nun auf die Woche in St. Moritz? «Sehr positiv. Ich habe nicht die Möglichkeit, diese Köche in ihren Ländern zu besuchen. Es wird spannend. Beängstigend oder gefährlich? Vielleicht, aber wir fürchten uns nicht. Zumal unsere Küche auf vielen arabischen Küchen basiert, wird mich dieses Treffen zu einem besseren Koch machen. Ich hoffe, die arabischen Köche sind auch an uns interessiert.»

Sami Tamimi ist interessiert. Als er von GastroJournal hört, wie Gal Ben Moshe und Raz Rahav über die noch nicht existierende israelische Küche denken und dass beide die palästinensische Kochkultur loben, ist er erfreut. «Schön zu hören, dass sie unsere Küche anerkennen.» Er, der gemeinsam mit dem israelischen Koch Yotam Ottolenghi unter anderem die Kochbücher «Jerusalem» und «Falastin» publizierte, will seine Herkunft mit erdigen, schmackhaften Gerichten präsentieren. Mal frisch, mal spannend konserviert. Stets feierlich, wie wenn zu Hause Gäste am Tisch sitzen würden. Nur diesmal eben im noblen Suvretta House. «Und ich freue mich auf ein Glas Wein mit den israelischen Köchen.»

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Gal Ben Moshe strebt in seinem Berliner Restaurant Prism nach dem zweiten Michelin-Stern. In St. Moritz kocht er im Giardino Mountain im Restaurant Ecco (Foto: ZVG)