Zum Sparen in die Beiz

Corinne Nusskern – 11. März 2022
Traut ein Stammgast seinem Wirt etwa mehr als der Bank? Ein Relikt aus vergangenen Zeiten, der Sparverein im Restaurant, scheint wieder etwas aufzuleben. Ein Augenschein im aargauischen Vogelsang – dort wo Limmat, Reuss und Aare zusammenfliessen.

Früher waren sie in den Beizen quer durch das Land so populär wie Kegelbahnen. Heute kennt sie kaum noch jemand: Spar­vereine in Restaurants. Deren Mitglieder verpflichten sich, wöchentlich einen in den Statuten festgelegten Betrag in den Schlitz des im Gastraum aufgehängten Sparschranks (Cagnomatic) zu stecken. An der jährlichen Generalversammlung wird das angespar­te Geld wie­­der ausbezahlt. Was ist der Zweck davon?

Carlo Lo Ponte, Pächter des Ristoran­te Pizzeria L’Assaggio zur Brücke im aargauischen Vogelsang, lächelt. «Damit erfüllen wir vor allem eine soziale Funk­tion», erklärt er. In seinem Betrieb hängt ein Cagnomatic. Er gehört dem 1978 gegründeten Sparverein Brüggli. Kurt Feuz (60) ist seit über 35 Jahren dabei. «Früher war dies hier eine Arbeiterbeiz, die meisten Stammgäste waren Mitglied im Sparverein, und auf Kapital gab es noch bis zu sechs Prozent Zins», sagt Feuz. «Damit und mit den Bussen für säumige Zahler unternahmen wir Reisen.» Bussen? Feuz erklärt: «Bei unse­­rem Sparverein muss man als Einzelmitglied im Minimum 10 Franken wöchentlich einzahlen, bei einem Dop­pelfächli (Paare) 20 Franken. Wer die Frist verpasst, zahlt 5 Franken Busse.»

Zum Einzahlen kommen die Mitglieder ins Restaurant, stecken den Betrag in eines der 60 nummerierten Fächer des Cagnomatic. Einmal wöchentlich leeren die Kassiererin und die Aktuarin des Spar­vereins Brüggli den Kasten, führen Buch und deponieren das Geld auf einem Konto. Auf den Einwand, man könne das Geld direkt zur Bank bringen, schmunzelt Feuz. «Wer macht das schon mit diesen kleinen Beträgen? Hier muss man! Ich habe so meine Hochzeit finanziert!»

Von der Basilicata nach Vogelsang

Die Vorteile für den Wirt liegen auf der Hand: Kundenbindung und mehr Umsatz. «Die Mitglieder müssen herkommen, um das Geld einzuzahlen», sagt Lo Ponte. Da setzt sich jeder hin und trinkt einen Kaffee oder Apéro, viele kehren zum Mittag- oder Abendessen ein. «Das Schönste ist aber, dass der Sparverein die Menschen zusammenbringt», ergänzt er.
Lo Ponte übernimmt das L’Assaggio zur Brücke Ende 2020, den Sparverein hätte er auch ausquartieren können. Er schüttelt den Kopf. «Der Sparverein Brüggli war schon immer hier. Es sind Leute aus Vogelsang und alte Stammkunden vom Restaurant.» Er bringt gern Menschen zusammen, und er mag vor allem ältere Leute, man lerne immer etwas, und sie erzählten Geschichten von früher. Lo Ponte stammt aus der Basilicata und kam 2014 eigentlich nur für zwei Wochen Ferien in die Schweiz. Eigentlich.

«Es gefiel mir hier», sagt der 31-Jährige. «So blieb ich.» Er lernt Deutsch, macht 2017 das Wirtepatent, schliesst die Handelsschule und jene zum eidgenössischen Betriebswirtschafter ab, führt nebenbei die Sport-Bar in Wettingen AG und arbeitet zeitweise im L’Assaggio, das damals noch einem Kollegen gehörte. Als dieser in Pension geht, sagt Lo Ponte zu seiner Schwester Angela (32): «Wir führen es weiter». Das war mitten im zweiten Lockdown. Sie renovieren und feiern im Juni 2021 Neueröffnung.

Lo Ponte gibt ganz schön Gas, er kennt es nicht anders. Aktuell nimmt ihn sein Hauptjob als Produktmanager in einem Elektrotechnik-Unternehmen ein. «Angela führt das Restaurant als Geschäftsführerin, sie hat einen Uni-Abschluss als Bankfachfrau, und ich zahle als Inhaber die Rechnungen», sagt er lachend. Er selbst springt oft am Wochenende ein. «Unter der Woche braucht das Team von drei Festangestellten und einer Aushilfe meine Unterstützung nicht.»

Den Zahltag vertrinken

Das Brüggli-Quartier schaut auf eine lan­­­ge Industriegeschichte zurück, geprägt von der Metallwarenfabrik Straub-Egloff, der das Restaurantgebäude heute noch gehört. Sie ging 1967 in der BAG Turgi auf, damals einer der grössten Leuchtenhersteller Europas. Das L’Assaggio hiess noch zur Brücke und fungierte auch als Kantine für die bis zu 650 BAG-Arbeiter. Heute führen die Lo Pontes den Betrieb mit 52 Plätzen innen und 40 aussen.
Von der Decke baumeln BAG-Lampen im Retrostil. Eigentlich wollte Lo Ponte die Lampen wechseln, bis er von Adrian Schatzmann, dem Geschäftsführer von Straub-Egloff, deren Geschichte hörte. «Es gibt Werte, die müssen erhalten bleiben», führt Lo Ponte aus. «Es ist schön, wenn eine geschichtliche Verbundenheit mit dem Dorf besteht.»
Dass Sparvereine sich in Restaurants niederlassen, ist sinnvoll. Früher erhielten die Arbeiter am Freitag ihr Gehalt bar im Lohnsäckli ausbezahlt. Der erste Gang führte die meisten in die Beiz. Damit sich der Zahltag nicht im Bierglas auflöste, wurden Sparvereine etabliert.
Es gibt heute zwar weniger Sparvereine, aber nicht weniger Vereine als früher – eher mehr. 44 Prozent der Schweizer Bevölkerung beteiligen sich aktiv in Vereinen, Gesellschaften oder Parteien. Verschwunden aber sind in den letzten Jahren leider viele jener Dorfbeizen, in denen Vereine willkommen sind.

Auch der Wirt gewinnt

Ende Februar hat der Sparverein Brüggli im L’Assaggio seine GV abgehalten und das angesparte Geld ausbezahlt. War es viel? Feuz druckst herum. «Eine hohe fünfstellige Zahl zwischen 50 000 und 99 000 Franken.»

Laut Feuz dauert die GV 15 Minuten, das Essen jeweils bis um Mitternacht. Bezahlt wird dieses mit dem angehäuften Bussengeld und den Mitgliederbeiträgen (25 Franken jährlich). Und auch der Wirt profitiert: Jeder hat an diesem Abend Geld im Sack, das nicht selten in einen teureren Wein investiert wird. «Und dank des sehr guten Essens hier», führt Feuz aus, «ist die GV zugleich beste Werbung für das L’Assaggio.»

Carlo Lo Ponte empfiehlt allen Gastgebern, bei der Anfrage eines Sparvereins zuzusagen. «Wenn die Frauen jeweils die Fächli leeren, fragt mancher Gast: Was treiben die da?», sagt er schmunzelnd. Er geht die Sache proaktiv an und erzählt allen, die es hören wollen, davon. Lo Ponte ist selbst Mitglied im Sparverein, auch seine Frau, seine Mutter und seine Geschwister, die heute alle in der Schweiz leben. Teilweise machen auch seine Mitarbeitenden mit.

«Zu oft wird heute nur noch online kommuniziert», sagt der Wirt nachdenklich. «Der Sparverein aber, führt zu persönlichen Kontakten und Interaktionen, das ist wichtig und sehr schön!» Fast ein bisschen so wie früher, als es noch die Dorfgemeinschaft gab.