«Du wirst auch schlaflose Nächte haben»

– 10. März 2022
Rudi Bindella jr., Michel Péclard und Silvio Germann: Gastronomen, die ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit neue Projekte starten. Hoffnungen, Ängste, Zahlen – zwei Routiniers und ein Neuling im Kreis der selbst­ständigen ­Gastronomen geben Einblicke.

Michel Péclard, wie oft wachen Sie in der Nacht auf, denken an einen Ihrer Betriebe und fragen sich: Hilfe, wie kriege ich das hin?
Michel Péclard (MP): Wer selbständig ist, hat ab und zu schlaflose Nächte. Auch wenn man etabliert ist. Das grösste Problem ist der Personalmangel. Wir suchen gerade fürs Portofino einen neuen Küchenchef und probieren es auf allen Kanälen – ohne Erfolg. Wir suchen sogar in Italien, haben soeben zwei Köche aus Amsterdam einfliegen lassen. Ich bezahle die Flüge, die Unterkunft, Hauptsache, wir finden einen. Wir überlegen uns nun, jemanden einzustellen, der eine interne Kochschule macht. So kochen wie Silvio – das will noch der eine oder andere. Aber simpel, gut kochen, dafür finden wir keine Leute mehr.

Rudi Bindella jr., auf Ihrer Website sind derzeit 63 Stellen ausgeschrieben und doch eröffnen Sie einen neuen Betrieb.
Rudi Bindella jr. (RB): Ein Riesenproblem. Das hätten wir nie gedacht. Wir dachten, dass nach der Zeit der Kurzarbeit die allermeisten in den Beruf zurückkehren. Aber ja, eigentlich ist es logisch: Nach zwei Jahren, in denen die gesamte Gastronomiebranche infrage gestellt wurde – da hätte wohl auch ich mich als Koch oder Servicemitarbeiter nach einem anderen Job umgesehen.

Wie lösen Sie das Problem?
RB: Wir haben ein Riesenglück mit vielen langjährigen Mitarbeitenden, die uns vertrauen. Wir vermitteln ihnen Sicherheit, sie glauben an uns. Einzelne Betriebe hätten keine Chance. Viele Restaurants müssen nach drei Jahren wieder schliessen. Wie will man da Sicherheit vermitteln? Das ist unser grosses Plus. So können wir sicher Mitarbeitende aus eigenen Betrieben holen – je nachdem, wo es wie viele gerade braucht.

Es droht nun aber der Preiskampf um Arbeitskräfte.
RB: Kurzfristig sicher. Es wird unschöne Geschichten zwischen Branchenkollegen geben. Da werden die Fetzen fliegen. Ich hoffe aber, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt wieder beruhigt. Vom Service in den Retail wechseln, liegt längst nicht jedem. Wer ein offener, aufgeschlossener Mensch ist, wird doch im Retail verkümmern.

Silvio Germann, sind Sie von diesem Problem weniger betroffen, weil noch immer viele für die Caminada-Betriebe arbeiten wollen?
Silvio Germann (SG): Da fällt mir eine lustige Geschichte ein. Vorletzten Sonntag um 18 Uhr bereitete ich mich auf den Service vor, da kam eine junge Frau in die Küche und drückte mir ein Couvert in die Hand. «Ich möchte sehr gerne für Sie arbeiten», sagte sie. Ich fragte, ob dies eine Bewerbung sei. Sie bejahte. «Ich stelle dich gleich ein», schoss es aus mir heraus. Ihr Effort imponierte mir. Danach stellte sich heraus, dass sie seit vier, fünf Jahren in einem Spitzenrestaurant arbeitet und bei mir schon mal gegessen hat. Ich nehme sie mit Handkuss. Serviceleute zu finden, ist schwieriger. Sogar bei uns. Andreas Caminadas Stiftung Uccelin zur Förderung junger Talente hilft uns. Doch wir Köche müssen uns damit abfinden, dass wir mehr und mehr selbst mitservieren.

Wie lief das eigentlich mit dem Mammertsberg ab?
SG: Letzten September kam Andreas auf mich zu, fragte mich nach meinen Plänen. Er habe vielleicht ein Projekt am Laufen, es sei aber noch nichts spruchreif. Ich antwortete, ich sei offen und hätte grossen Spass an der Zusammenarbeit mit ihm. ­Andreas bringt mich weiter, ist mein Mentor. Ich wollte wissen, wo das neue Projekt ist. «Eine halbe Stunde von Bad Ragaz entfernt», sagte Andreas. Also ging ich nach Hause und schaute mit meiner Freundin auf der Landkarte nach – fand aber nichts.

Und dann?
Eine Woche später wollte ich es wissen. Dann verriet mir ­Andreas, dass es sich um den Mammertsberg handle, 45 Minuten von Bad Ragaz entfernt (lacht). Ich ging vorbei, als der Betrieb geschlossen war: ein wunderschönes, renoviertes Haus mit toller Umgebung. Ich musste mir Gedanken machen, denn das ist eine höhere Liga. Sechs Zimmer, Teilinhaber, mehr Mitarbeiter. Aber als uns der Besitzer durch das Haus führte, war klar, dass ich es machen will. Im Dezember unterschrieben wir.

Wie lautet das Konzept?
Wir werden mittags und abends öffnen. An welchen Tagen wir den Mittag auch bespielen, ist noch nicht klar. Mehr kann ich noch nicht sagen, wir arbeiten erst gerade am Konzept.

Andreas Caminada und Sie als Pächter – zu gleichen Teilen?
Nein, Andreas hat den grösseren Anteil als ich. Ich durfte entscheiden, wie hoch meiner ist. Er hätte mir auch mein komplett eigenes Projekt gegönnt, aber ich arbeite sehr gerne mit ihm zusammen, lerne noch immer viel von ihm. Er bringt mich nicht nur kochtechnisch, sondern auch menschlich weiter.

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Michel Péclard, Rudi Bindella jr. und Silvio Germann (v. l.) im kollegialen Austausch oberhalb von Zürich: «Beim Preiskampf um Arbeitskräfte wird es unschöne Geschichten zwischen Branchenkollegen geben.» (Foto: Linda Pollari)

Immer wieder heisst es, Spitzengastronomie funktioniere nur mit einem Sponsor, Gönner oder mit der Querfinanzierung durch Hotelzimmer. Michel Péclard, wie denken Sie als gelernter Buchhalter über Silvio Germanns Projekt?
MP: Ich habe höchste Achtung vor Menschen wie Silvio. Ich finde es fast masochistisch. Da muss man gerne 20 Stunden arbeiten und Spitzengastronomie leben. Ich weiss nicht, wie das zahlenmässig aufgeht. Was er macht, ist viel schwieriger als Fischknusperli und Spaghetti zu verkaufen, nicht wahr, Rudi?
SG: Gut, auch eure Gastronomie hat ihre Tücken. Aber ich habe meiner Freundin gesagt: «Zu Beginn werden wir uns selten sehen.» Ich habe mir ein Zimmer in der Nähe vom Mammertsberg genommen. Es wird hart, aber ich bin motiviert.

Hand aufs Herz: Wie soll die Rechnung aufgehen?
SG: Irgendwie geht es schon auf. Sarah Caminada hat die Sache durchgerechnet. Wir rechnen mit 2 Millionen Franken mehr Umsatz als unsere Vorgänger. So sollte es aufgehen.
MP: Da kommen gewiss auch auf dich schlaflose Nächte zu.
SG: Die habe ich jetzt schon (lacht).

Silvio Germann, was beschäftigt Sie derzeit am meisten?
SG: Das Zusammenstellen eines guten Teams, damit wir das stemmen können, was wir uns vorstellen. Ich rechne mit 18 Stunden Arbeit für mich. Ich bin der Patron und werde auch Glühbirnen austauschen.

War für Sie klar, dass auch das nächste Engagement im Gourmetbereich sein wird? Wie wäre es mit einer einfachen, guten Beiz gewesen, mit der Sie richtig Geld hätten verdienen können?
RB: Eine fiese Frage!
SG: Mir war nichts klar. Ich hatte keine Pläne. Die Chance fiel mir in den Schoss. Ich träumte auch schon von einem kleinen Restaurant mit fünf, sechs Tischen und drei, vier Mitarbeitern, ganz easy (lacht).
MP: Schon wieder so einer … (lacht). Das sind so Traumvorstellungen, gell?
SG: Ja, natürlich. Da könnte man mit ganzer Leidenschaft das tun, was man am liebsten tut. Aber ja, ich weiss, dass das nicht realistisch ist. Es wird streng und hart werden, doch ich will etwas dazu beitragen, dass der eine oder andere wieder Lust hat, in der Branche zu arbeiten.

Sie als langjährige selbständige Gastronomen. Welchen Tipp haben Sie für Silvio Germann?
MP: Das Wichtigste ist die Leidenschaft und der Spass bei dem, was man tut. Dann kommt es gut. Erst gestern hatte ich mit meinem Geschäftspartner Florian Weber eine grosse Diskussion. Es ging um ein mögliches Projekt. Letztlich entschieden wir, dass es sinnlos ist, dieses anzugehen, da es sich um einen Betrieb handeln würde, in dem wir beide privat nicht verkehren. Wenn ich etwas nicht lebe, lasse ich die Finger davon. Silvio merkt man die Freude an. Es ist diese Freude, die ich auch dem Gastgeber eines Bindella-Restaurants ansehe. Da steht jeweils eine Person vor mir, die dieses Unternehmen regelrecht verkörpert. Und bei uns ist Baba, der Chef beim Pumpstation-Grill, das beste Beispiel. Seine Lebensfreude, seine Passion – er macht den Erfolg aus.
RB: Silvio ist sehr bescheiden, das zeichnet ihn aus. Zudem, da pflichte ich Michel bei, spüre ich seine Leidenschaft. Er arbeitet gerne. Ich kenne das von mir selbst: Ich stehe morgens gerne auf, bin rund um motivierte, junge Leute, das tut extrem gut und hält jung. Ich bin überzeugt, dass der Mammertsberg laufen wird. Wenn ich Silvio reden höre, macht mich das gluschtig. Ich muss zugeben: Ich war im Igniv in Zürich und St. Moritz, aber noch nie in Bad Ragaz. Schande, ich weiss. Silvio braucht unsere Tipps nicht – Lebenserfahrung hin oder her.
SG: Doch, doch, ich bin um jeden froh.

Abgesehen vom Personalproblem: Rudi Bindella jr. hat es bereits angetönt – die Lieferschwierigkeiten. Michel Péclard, betrifft Sie das auch?
MP: Ja, massiv. Es kommen keine Möbel, zum Glück haben wir ein grosses Lager.
RB: Zudem steigen die Warenkosten im Restaurant.
SG: Ich bin auch noch nicht sicher, ob ich die von mir und Andreas gewünschten Teller bis zur Eröffnung kriege.

Personalproblem hier, Lieferverzögerungen da, steigende Warenkosten dort: Weshalb gehen Sie denn nun dennoch neue Projekte an?
MP: Die Chance muss ich ergreifen. Ich finde die Insel toll, sie passt zu uns. Ich bin überzeugt von der Insel. Das wird boomen. Wir holen die Gäste mit dem Boot ab, dort wartet ein einfaches, cooles Angebot. Der Messwein vom Papst, die Mönche vom Kloster: Das ist meine Spielwiese. Ohnehin investierten wir trotz Coronakrise immer weiter. Die Wirtschaft muss am Leben erhalten bleiben, irgendwann endet ja die Krise. Und die Schweiz hat es mit der Verteilung der Gelder auch ziemlich gut gemacht. Wer aufhört zu investieren, stoppt die Wirtschaft und schadet sich letztlich selbst.

Was ist in der aktuellen Situation der Schlüssel zum Erfolg?
MP: Man muss es leben, man muss Gastronom sein. Einfach irgendein Restaurant zu eröffnen, bringt nichts. Die Zeiten von «Wer nichts wird, wird Wirt» sind vorbei. Gastronomen müssen ein gutes, klares Konzept haben und rechnen können.
RB: Noch etwas: Der Mensch liess sich zuletzt einschüchtern und verkroch sich zu Hause. Wer weiterkommen wollte, brauchte Mut, Unverfrorenheit, Zuversicht und Weitblick. Dessen bedarf es auch jetzt. Wer die Chancen der Coronakrise verschlafen hat: Spätestens jetzt gilt es aufzuwachen. Besser wird es nicht. Jetzt ist der Moment, um durchzustarten. Schade, dass uns nun der Krieg in der Ukraine beschäftigt, er dämpft die Gemüter. Aber die Leute wollen raus, konsumieren, geniessen, feiern.