«Erwartet das Unerwartete», heisst es auf dem ersten von 13 Kärtchen, die auf jedem Tisch stehen und über Gänge und Getränkebegleitung informieren. Wir befinden uns in der Nähe des Escher-Wyss-Platzes in Zürich, genauer im Untergeschoss des alten Löwenbräu-Silos. Hier ging am 5. Oktober 2022 das Gourmetrestaurant Elmira mit 26 Plätzen an den Start. «Schön, seid ihr da. Wir haben für euch aus regionalen und saisonalen Zutaten ein kreatives, alle Sinne verwöhnendes und nachhaltiges Menü zusammengestellt», steht weiter geschrieben. Nicolas «Nici» Bernet (26), Gastgeber und Sommelier aus Zürich und Student an der Hotelfachschule Luzern, ist mit den Gästen meist per Du. Denn offen ist nicht nur die Küche, wo man Chefkoch Vilson Krasnic (34) und seinem Team bei der Zubereitung zuschauen kann. Offen und herzlich ist genauso der Umgang mit den Gästen, ja die gesamte Atmosphäre in diesem Restaurant. Die Kunden – meist zwischen 30 und 50 Jahre jung, viele Paare – fühlen sich bereits beim ersten Mal, als ob sie bei Freunden zu Besuch sind.
Lehren aus negativen Erfahrungen gezogen
Schnell wird klar: Das Konzept des Betriebs in Zürich ist bis ins letzte Detail durchdacht. Ideengeber, Gründungsmitglied und Verwaltungsratspräsident ist Loïc Mesqui (39). Der gelernte Elektromonteur, heutige Unternehmensberater und leidenschaftliche Gourmet verrät: «Ich sagte mir immer: Wenn ich ein Restaurant eröffne, soll es einen Mädchennamen haben. Elmira hat etwas Gutmütiges und Menschliches und ist auch eine Apfelsorte.» Er besuche rund zehnmal pro Jahr Sternerestaurants und habe mit Koch und VR-Mitglied Lukas Alder, den er seit der Primarschule kennt, alles Negative aufgeschrieben, was sie in der gehobenen Gastronomie erfahren haben. Etwas, das den VR-Präsidenten der Mirabelle AG, zu der das Restaurant Elmira gehört, störte: «Die mangelnde Transparenz. Sie wissen als Gast oft nicht, ob ein Glas Champagner 12 oder 27 Franken kostet. Sie trauen sich in dieser Liga von Restaurants nicht, nach dem Preis zu fragen. Im Elmira möchten wir aber das Herzliche und Freundschaftliche anstreben. Und so sind wir auf die Paketlösung gekommen. Wenn Sie ins Theater gehen, ist es völlig normal, dass Sie die Leistung vor dem Besuch bezahlen. Weshalb soll das im Restaurant nicht auch so sein?»
Paketlösung heisst: Der Gast bezahlt im Vorfeld 290 Franken für einen Siebengänger mit Getränkebegleitung, wahlweise mit Wein oder hausgemachten fermentierten Getränken. Der Siebengänger entpuppt sich als Zehngänger, die aufwendigen Amuse-Bouche mit Gemüseblumen, Tartelette mit Dillemulsion, gebackene Tofu mit fermentierten Tomaten und Jalapeño sowie Spitzkohlkimchi, den Brotgang vom Eigenbrötler sowie das Prédessert mit Dillsorbet, grünem Apfel und bereits im Sommer in Zuckersirup eingelegten Melonengurken mitgerechnet. «Dank unserer Paketlösung können die Kunden nach dem Essen aufbrechen und müssen nicht mehr zum Portemonnaie greifen, egal ob Sie bei einem Gang noch zusätzlich einen Birnen-Shrub mit Tonic Water, einen oder drei Kaffee bestellten oder ein zweites Glas Wein wünschten.»
Gastgeber und Sommelier Nicolas «Nici» Bernet (links) und Chefkoch Vilson Krasnic tauschen sich zur Getränkeabstimmung aus. In den Einmachgläsern befinden sich Produkte für zukünftige Menü- kompositionen (Foto: Daniel Winkler)
Synergien mit dem guten Heinrich, Problem Trinkgeld
Weil die Gäste im Voraus buchen und bezahlen, entsteht für das Küchenteam um Krasnic Planungssicherheit und kein Food Waste. Einen Tag vor dem Restaurantbesuch erhält der Gast eine E-Mail, in der er gefragt wird, ob er das Menü mit oder ohne Fleisch möchte. Und noch etwas reduziert Lebensmittelverschwendung: Zur Mirabelle AG gehört an gleicher Lokalität das Catering zum guten Heinrich. Das Start-up kauft Bauern dreibeinige Rüebli, krumme Gurken oder riesige Kartoffeln ab. Alles, was sich über den Detailhandel nicht absetzen lässt. Krasnic erklärt: «Wir nutzen Synergien und bereiten aus diesen Produkten beispielsweise Eintöpfe zu.»
Die Paketlösung habe allerdings einen Nachteil, räumt VR-Präsident Mesqui ein: «Von den Gästen erhalten wir sehr positive Rückmeldungen. Die Meldungen vom Elmira-Team sind hingegen kontrovers. Denn wenn die Gäste nach dem Besuch das Portemonnaie nicht mehr zücken müssen, fehlt in der Regel das Trinkgeld. Das ist eine Schwachstelle des Konzepts.»
Viertagewoche, flache Hierarchien, finanzielle Beteiligung
Doch wie stehen die Chancen für einen kommerziellen Erfolg der Mirabelle AG? Der Unternehmensberater antwortet auf diese Frage erneut offen und ehrlich: «Wenn man richtig Geld machen möchte, ist die Gastronomie nicht wirklich die passende Branche. Im Gegensatz zu anderen Betrieben achten wir hingegen auf gute Anstellungsbedingungen. Die Belegschaft ist erfolgsbeteiligt.» Zu diesen Anstellungsbedingungen gehört die Viertagewoche; das Elmira ist bewusst nur von Mittwoch- bis Samstagabend geöffnet. Die Mitarbeitenden haben entsprechend von Sonntag bis Dienstag frei. «Das ist wichtig für die Branche. So ist unsere Motivation extrem hoch, selbst wenn wir täglich zwölf oder mehr Stunden arbeiten müssen. Wir wollen ein Beispiel sein, dass es auch anders geht», bilanziert Gastgeber Bernet. Und Loïc Mesqui zählt weitere Vorteile auf: «Wir gewähren direkte finanzielle Beteiligung und flache Hierarchien. Das war notwendig, um erfolgreich gegen den Fachkräftemangel zu kämpfen. All das macht heute einen modernen Arbeitgeber aus.»
Die flachen Hierarchien fallen den Gästen auf: In der Küche stehen zwar Chefkoch, Sous-Chef und Chef de Partie mit klar definierten Aufgaben. Aber sie alle servieren die Gerichte. Wer Krasnic nicht kennt, stellt deshalb nicht fest, wer nun der Chef ist. Der Gedanke dahinter: «Ich persönlich finde es lästig, wenn am Schluss des Abends der Chefkoch vorbeikommt und fragt, wie das Essen war», sagt Mesqui. In diesem Punkt hat das Elmira-Team ebenfalls verbessert, was der VR-Präsident bei anderen Gourmetrestaurants als Schwachstelle einstufte. Und der Koch sagt dazu: «Ich bin mir das Arbeiten mit Gästen gewöhnt. Die Tatsache, dass wir hier näher am Gast sind, macht Freude. Mir gefällt es, unsere Gerichte und Gedanken zu beschreiben.»
Im Restaurant Elmira ist die offene Küche Teil des Erlebnisses: Küchenchef Vilson Krasnic (links) mit Sous-Chef Dominik Schmitz (Foto: Reto E. Wild)
Regional und saisonal statt Scampi und Foie gras
Dem Fine-Dining-Restaurant Elmira ist mit Vilson Krasnic ein prominenter Zuzug gelungen. In den letzten zwölf Jahren hat er in verschiedenen Restaurants auf Michelin-Stern-Niveau gekocht. Bereits mit 25 Jahren war er Küchenchef im Dal Mulin in St. Moritz GR. «Dort habe ich eine von der Region geprägte, alpine Küche zubereitet.» Für Furore sorgte Krasnic später im Musigny im Zürcher Seefeld. «Den Namen Vilson Krasnic sollte man sich merken», meinte GaultMillau Schweiz. «Im Elmira gehe ich einen anderen Weg», erläutert der gleichermassen erfolgreiche wie talentierte Koch. «Ich habe aus der klassischen und modernen französischen Küche mit allen möglichen Luxusprodukten wie Scampi oder Foie gras gekocht. Doch es ist zeitgemäss, umweltbewusst zu arbeiten, mehr im Einklang mit der Natur zu sein», sagt Krasnic. Es sei nicht sinnvoll, Produkte aus aller Welt auf einem Teller zu vereinen. «Wir haben in der Schweiz eine so grosse Vielfalt. Deshalb wollen wir Fine Dining bieten, dabei trotzdem Regionalität und Saisonalität hochhalten und diese mit pflanzenbasierten Gerichten kombinieren.» Für die Küchencrew kann das bedeuten, dass ein Produkt wetterbedingt kurzfristig nicht erhältlich ist. «Wir müssen flexibel sein und umdenken. Deshalb verzichten wir auch auf exotische Früchte. Wir müssen die Kreativität ganz anders denken. Sie hört nicht mehr bei Fleisch und Saucen auf.»
Bereits nach wenigen Wochen hat sich im Elmira der fünfte Akt, verkohlter Lauch mit schwarzem, fermentiertem Knoblauch, Gemüsejus sowie Geflügel- und Misocreme zum «Signature Dish» entwickelt. Der Lauch erhält durch die Kochtechnik bei 220 Grad Celsius im Ofen eine ähnliche Struktur wie einen Spargel. Das Fazit des Elmira-Chefkochs: «Dieses Gericht ist am repräsentativsten für unsere Philosophie. Aus der verkohlten Schale bereiten wir ein Pulver zu.» Auch dem erfahrenen Koch eröffnen sich neue Horizonte. Hauptlieferant ist Marinello mit seinen landwirtschaftlichen Produkten aus der Region. Teilweise bezieht das Elmira Produkte direkt, etwa vom Enikerhof in Cham ZG.
«Vor dem Service wissen wir, welche Gäste kommen»
Hand in Hand mit dem Küchenchef arbeitet Nici Bernet als Gastgeber und Sommelier. Er präsentiert die Gänge und die Weinbegleitung, als ob er das schon seit Jahren machen würde: eloquent, mit Charme und einem freundschaftlichen Unterton. «Zwei Stunden vor dem Service wissen wir genau, welche Gäste kommen und ob sie mit oder ohne Fleisch bestellt haben. Wir sorgen dafür, dass vom Gast leere Teller in die Küche zurückkommen, weil wir bei den Portionen darauf achten, dass es stimmt. Unsere Biotonne füllt sich so zum Glück nur sehr langsam», erklärt der Stadtzürcher. Obwohl erst 26 Jahre jung, ist er mit viel Talent gesegnet, die passenden Weine zu den Gängen auszuwählen. Etwa einen Fendant 2008 von der Domaine de Beudon zum dritten Akt (Bild Seite 15 unten) oder einen Rieslaner Auslese vom Weingut am Stein aus Franken zum Pré-Dessert. «Wenn wir neue Gerichte kreieren, gehen wir oft an Degustationen, und wir haben enge Kontakte zu Weinhändlern. Ich besitze ein Notizbuch voll von Namen von Winzern und ihren Weinen», sagt Bernet. Wer es alkoholfrei mag, stösst im Elmira mehrheitlich auf selbst gemachte Säfte wie Sirup auf Essigbasis.
Bernet zeigt sich von den ersten Kundenreaktionen überwältigt. Die Gäste hätten ein echtes Bedürfnis, ihm und seinem Team nach dem Abendessen jeweils persönlich für das Erlebnis zu danken. «Wir bauen mit diesem Konzept eine persönliche Beziehung zu den Besuchern auf. Wir reden viel übers Essen und was hinter unserer Philosophie steckt.» Am 29. Januar 2023 plant das Restaurant einen zusätzlichen Anlass, mit Pascal Steffen, dem mit zwei Sternen dekorierten Koch vom Roots in Basel, später mit dem Winterthurer Winzer Stephan Herter. Die Elmira-Philosophie dürfte in manchen Punkten zum Vorreiter für die Branche werden.
«Signature Dish»: verkohlter Lauch mit Geflügel- und Misocreme, dazu Gemüsejus (Foto: Reto E. Wild)
Elmira-Konzept: zur Nachahmung empfohlen
• Das Restaurant Elmira hat nur von Mittwoch bis Samstag (18.45 bis 23.30 Uhr) geöffnet und gewährt so den Mitarbeitenden eine Viertagewoche.
• Der Gast kauft und bezahlt bereits im Vorfeld einen Siebengänger inklusive Saft- oder Weinbegleitung, Wasser und Kaffee zum Pauschalpreis von 290 Franken.
• Die Küche richtet den Fokus auf Nachhaltigkeit: saisonal mit bewusst begrenztem Umkreis der Zutatenherkunft.
• Bei der Buchung wählt der Gast auf www.elmira.zuerich seinen Tisch aus: beispielsweise nahe der offenen Küche oder eher diskret am Rand. Insgesamt gibt es 26 Stühle.
• Dank der Bezahlung im Voraus entsteht Planungssicherheit: ein Statement gegen Lebensmittelverschwendung.