«Gastfreundschaft, Humor und eine ehrliche Küche sind das Fundament eines guten Betriebs»

Oliver Borner – 18. Januar 2023
Seit mehr als 20 Jahren schreibt Martin Jenni über die Schweizer Gastronomie und rückt Betriebe in den Fokus, die vielen verborgen bleiben. Was ihn an der Gastronomie fasziniert, wie er seine Betriebe auswählt und wie er die aktuelle Situation der Branche einschätzt, sagt er im Interview mit dem GastroJournal.

Martin Jenni, seit letztem November ist Ihr neuer Restaurantführer «Aufgegabelt» erhältlich. Worauf dürfen sich die Leserinnen und Leser freuen?
Martin Jenni: Im Genuss-Guide sind über 800 Betriebe aufgeführt. Davon sind über 130 Adressen neu. Wer das Unkomplizierte und Spezielle, wer keinen Firlefanz sucht, wird in «Aufgegabelt» fündig.

Restaurantführer gibt es in der Schweiz einige. Was hat Ihrer anderen voraus?
Wir suchen und finden Persönlichkeiten an Nebenschauplätzen weit weg vom Mainstream. Adressen, die überraschen und einladen, den Tag in ihnen zu verbummeln.

Der Restaurantführer erscheint bereits seit mehreren Jahren. Wie verändert sich Ihre Arbeit dahinter von Ausgabe zu Ausgabe?
Die Gastronomie ist so kurzlebig wie noch nie. Spannend ist, zu sehen und zu spüren, dass junge Gastronomen den Mut hat, in das Wagnis Selbstständigkeit einzutreten. Diese gilt es zu begleiten. Als Gast, als Journalist, als Freund.

Was treibt Sie an, so viel Arbeit in den Restaurantführer zu stecken?
Einen verregneten Sonntag in der Wirtschaft zu vergeigen gefällt mir. Oder zu einer Berg-Beiz hinzuwandern und einige Stunden in ihr den Alltag zu vergessen, ist Seelenbalsam. Oder Fremde im unerwarteten Gespräch bei einer Flasche näher kennenlernen. Das sind Momentaufnahmen, die gut tun. Kurz: Beizen, Land und Leute zu entdecken, ist eine Passion von mir. Damit meine ich vornehmlich Gasthäuser, die ihre soziale Funktion wahrnehmen und alltagstauglich sind.  

Inwiefern ist das manchmal auch stressig?
Wenn der Gürtel spannt und der Abgabetermin drückt, dann wird’s wortwörtlich eng. Fasten und Beizen passen nun einmal nicht zueinander. Dann helfen Spaziergänge und der eine oder andere Apfeltag. 

Sie sind seit mehr als 20 Jahren in der Gastrobranche unterwegs. Was fasziniert Sie an der Branche?
Meine Grosstanten, die Bäuerinnen waren, und meine Grossmutter haben mich fürs Essen und Kochen begeistert. Ich liebte ihre einfachen Gerichte, den «Moscht» dazu, das Brot aus dem Holzofen, der Speck, Käse, die Rösti, – und mit Vater ging’s am Sonntag hin zu Schnecken, Terrinen, Forellen aber auch zu Flusskrebsen, Austern, Milken und anderen Schleckereien. Ich war also schon als Knirps oft im Gasthaus. Das hat mich zweifelsohne geprägt.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Betriebe, die Sie empfehlen, aus?
Nach meinen subjektiven Vorlieben, die ich mit vier Scouts teile.

Welche Ansprüche stellen Sie an einen guten Betrieb?
Gastfreundschaft, Humor und eine ehrliche Küche mit guten Zutaten bilden für mich das Fundament.

Gute Zutaten spiegeln sich auf der Speisekarte. Wie sollte eine solche aufgebaut sein?
Ich freue mich immer über Lokale, die traditionelle Gerichte leicht interpretieren oder einem die Möglichkeit geben, die Gerichte zu teilen. Ich lasse mich auch sehr gerne überraschen, was sich in der Schweiz bis heute leider nicht durchgesetzt hat.

Wo haben Sie das schon erlebt?
Unvergessen ist meine erste kulinarische Stippvisite in den Achtzigern im Ristorante Ponte di Nava an der Grenze zum Piemont und zu Ligurien. Da gab es sieben kalte und sieben warme Vorspeisen, drei Primi, ein Secondo vor dem ich kapitulierte, Dolce und ganz zum Schluss einen Brachetto zum frisch trinken. Auf dem Tisch standen je eine Flasche Weiss- und Rotwein – ohne Etikette. Zuerst gab’s Favorita und Rossese danach wurden Pigato und Nebbiolo ausgeschenkt. Was war das für ein grossartiges Erlebnis.

Die Wirte in der Schweiz können also durchaus noch etwas lernen. Was macht für Sie ein erfolgreiches Restaurant aus?
Ein moderater Mietzins oder - noch besser - das Wirtshaus gehört den Gastgebern, langjährige und routinierte oder junge und motovierte Mitarbeitende. Ein Angebot zwischen Innovation und Tradition, eine Weinauswahl, die überrascht, mit Provenienzen zu fairen Preisen, die animieren, sie zu trinken und sie nicht nur auf der Karte zu bestaunen. 

Sie empfehlen Betriebe, verzichten aber komplett auf ein Rating. Warum?
Gefällt mir ein besuchtes Lokal nicht, kommt es nicht in mein Buch, was ja somit auch eine Bewertung ist. Ich muss nicht über Restaurants schreiben, die mir nicht gefallen oder bei denen ich nicht zufrieden war. Auch wäre es bei einem einmaligen Besuch nicht seriös, durch ein negatives Erlebnis eine negative Bewertung zu schreiben. Das überlasse ich den Inquisitoren auf den Internet-Plattformen.

Und dennoch zeichnen Sie die besten Betriebe des Jahres aus. Wie läuft dieser Prozess ab?
Wir, das heisst eine fünfköpfige Jury, zeichnen nicht die besten Betriebe aus, sondern Betriebe die mir und den Scouts im Speziellen durch eine längere Zeitspanne aufgefallen sind. Aktuell ist die Beiz des Jahres das La Fourchette in Basel, das von Laetitia Oser und Valentin Brotbek geführt wird. 25 Plätze, zwei herzallerliebste Gastgeber, die alles zu zweit bewerkstelligen und bei denen sich die wachsende Stammkundschaft entspannt wohlfühlt. Das sind Argumente, denen ich mich nicht entziehen kann. Apropos Entscheidung: Zwei von Aufgegabelt ausgezeichnete Beizen in der Kategorie (es gibt total deren sechs, Anmerkung der Red.) «Die etwas andere Beiz» - die Metzg in Zürich und die Jazzkantine in Luzern wurden im jeweiligen Nachfolgejahr von Gault Millau zu ihrer POP-Beiz des Jahres gekürt.

Sie haben im Engel in Rodersdorf SO die Vereinigung für kulinarische und geistige Nahrung gegründet. Welchen Zweck verfolgt diese?
Die lose Vereinigung widmet sich der Pflege und der Förderung der Ess- und Trinkkultur. Der Engel ist eine Begegnungsstätte, in der sich Mitglieder im lockeren und persönlichen Rahmen begegnen. Dazu finden an diversen Freitagen und Sonntagen Mittagstische statt, und an verschiedenen Wochenenden werden Jazz-Matineen oder kulturelle-kulinarische Abende mit unterschiedlichen Themen zelebriert.

Wie beurteilen Sie den momentanen Zustand der Schweizer Gastronomie?
Fragil. Die einen Gastronomen appellieren an die Innovation, die anderen sehen einfach nur noch schwarz. Ich denke, wenn die Besitzer und somit Vermieter von Wirtschaften den Gastgebern finanziell nicht entgegenkommen und die zum Teil horrenden Mieten nicht reduzieren, wird es für diverse Beizen schwierig. Auch das fehlende Personal ist ein weiterer Knackpunkt. Wer klein bleibt, fein kocht und ohne grossen Personalaufwand auskommt, ist heute sicher im Vorteil.

Was bringt die Zukunft für die Branche?
Ich kann leider nicht im Kaffeesatz lesen. Das können nur die Auguren - und die sagen nichts. Ich glaube, dass es wieder vermehrt zum Einfacheren hingehen wird. Ganz nach dem Sprichwort «Weniger ist mehr». 

Aufgegabelt, 472 Seiten, Fr. 29.-, erhältlich im Buchhandel oder unter www.aufgegabelt.ch