«Welches Gericht von Mama war dein Liebling?»

– 01. September 2022
Das Parkhotel Bellevue in Adelboden BE greift in die Trickkiste: Montags serviert es Kindheitserinnerungen der Gäste. Damit geht das Viersternehaus einen Schritt weiter als andere Köche, deren Gerichte von eigenen Erfahrungen von zu Hause erzählen.

Rindsschmorbraten mit Kartoffelpüree. Ein Klassiker, deftig, sättigend, Hausmannskost. Und vielfach mit schönen Erinnerungen verbunden. Erinnerungen ans Familienglück, an Sonntage, an denen die Zeit stehen blieb. An die Grossmutter und ihren Schmortopf, den sie in die Tischmitte stellte. Ans «Mmmmmh», das durch den Raum klang. An den Duft, der in die Nase strömte. An den ersten Bissen, an die Sauce, an die Reste, die es tags darauf gab.

Kindheitserinnerungen beim Gast wecken – ein altbekanntes, oft genutztes Werkzeug in der Gastronomie. «Nach Grossmutters Art», «alla nonna» oder «nach dem Rezept meiner Mutter» liest man immer wieder auf den Speisekarten. Das Parkhotel Bellevue in Adelboden BE hebt das Thema nun auf ein neues Niveau. Im letzten Winter wurden die Gäste nach eben jenen beglückenden Momenten befragt. Die meistgenannten Antworten: Wiener Schnitzel mit Pommes, Rahmschnitzel mit Nudeln, Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti, Spätzli mit Zwiebeln und Käse überbacken. Bei den Desserts schwangen Waffeln mit Vanilleglace, Schwarzwäldertorte, Erdbeertörtchen und Süssmostcrème obenaus. Der Küchenchef Jürgen Willing verwöhnt seine Gäste diese Sommer- und die kommende Wintersaison mit deren Erinnerungen. Ein Jahr lang steht der Montag jeweils unter dem Motto «Der Geschmack der Kindheit – Ihre Lieblingsgerichte nachgekocht».

 

 

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Bodenständig wie einst von der Mutter: Die Bio-Forelle vom Blausee kombiniert Jürgen Willing klassisch mit Salzkartoffeln und Karotten. Es ist eines der Lieblingsgerichte seiner Gäste und seiner Köche. Die Zubereitung bedeutet keine Hexerei (Foto: Marco Zanoni)

Blätterteig-Pastetchen mit Adelbodner Pilzen

Diese Woche auf dem Menü: Tomatencrèmesuppe mit Basilikum, Blätterteig-Pastetchen mit Adelbodner Pilzen und Petersilienschaum sowie die Bio-Forelle vom Blausee nach Müllerin Art mit Salzkartoffeln, Blattspinat und Karotten. Zum Dessert gibt es eine gebrannte Crème mit Beeren. Willing kocht die Favoriten und stellt die Reihenfolge saisongerecht zusammen. Vielleicht verfeinert er mal eine Kreation, bleibt dabei aber stets nah am Original von zu Hause. 14 GaultMillau-Punkte hin oder her – der Koch kennt keinen falschen Stolz und stellt seine Küchenkenntnisse in den Dienst der Sache. Im Parkhotel Bellevue in Adelboden ist Künstlerei und Selbstverwirklichung ohnehin nicht gefragt. Die Mitarbeitenden zeigen Nähe, das Essen ist nahbar, die meisten Gäste buchen genau deswegen trotz vielfältigem Angebot in der Umgebung Halbpension. Das weiss im Haus kaum einer besser als Willing. Der Düsseldorfer steht hier seit 18 Jahren am Herd.

Mit seinem Souschef Jiri Urban spricht er viel über die eigenen Familiengeschichten. Klar, dass es da immer wieder ums Essen geht. Genau wie an den Tischgesprächen im Speisesaal. «Die Gäste kommen ins Erzählen», beobachtet die Direktorin Franziska Richard. «Es ist interessant, zu sehen, dass sich viele – zum Teil langjährige – Paare nie über dieses Thema unterhalten haben. Das geschieht dann erstmals bei uns am Tisch.» Was gab es früher bei dir zu Hause? Was musstest du essen, das dir gar nie schmeckte? Welches Gericht von Mama war dein Favorit? Richard stellt anhand der Rückmeldungen sogar fest: «Ein Wiener Schnitzel in diesem Kontext mundet unseren Gästen besser als eines ohne entsprechendem Storytelling.»

Für das Küchenteam ist das Konzept ebenso ein Segen wie für die Gäste: Die schönen Kindheitserinnerungen stammen nie von elaborierten, komplizierten Rezepten. «Da können wir simpel kochen», verrät Richard, die das Hotel seit acht Jahren führt. «Das gibt auch immer etwas Luft in die Küche. Es handelt sich auch um Saisonales und Regionales. Früher hat man ja noch ausgeprägter jene Produkte gegessen, die regional und saisonal waren. Hier agieren wir umweltbewusst, es hat sich wunderbar so ergeben.» Die Produktkosten seien jedoch nicht tiefer als an anderen Abenden.

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Noah Rechsteiner spielt mit asiatischen Einflüssen und Geschichten von den Grosseltern: Sein Grossvater stammt aus Indien (Foto: zVg)

Wichtig ist, was die Gäste mögen – und nicht die Köche

Wie gut der Trick mit den Erinnerungen von zu Hause funktioniert, weiss auch Noah Rechsteiner (22). Der Jungunternehmer und Küchenchef im veganen Restaurant Anoah in Zürich lernte von Stefan Wiesner, dem Hexer vom Entlebuch, dass man allerlei Emotionen beim Gast auslösen kann. «Man kann ihn glücklich machen, ihn zum Weinen bringen, zum Nachdenken anregen und noch viel mehr. Gastronomen haben da ziemlich viel Macht», so Rechsteiner. «Als ich klein war, bereitete mein Vater zu Hause Thunfisch an einer asiatischen Marinade zu: Sojasauce, Limette, Koriander, Minze. Dazu gab es Reis. Es war mein Lieblingsgericht. Nun koche ich halt vegan, also lasse ich den Tuna weg und baue ein Gericht rund um den Reis mit dieser Marinade auf. Einzig Sesamöl fügte ich noch hinzu.» Lange kämpfte Rechsteiner gegen sich selbst an, wollte nicht asiatisch kochen. «Das war mir irgendwie zu einfach: Sojasauce, Säure, schon ist der Gast happy.» Bis er realisierte, dass seine Speisen mit asiatischem Einfluss stets die Lieblinge der Gäste waren. «Und darum geht es letztlich. Nicht um mich.»

Rechsteiner, der parallel zur beruflichen Tätigkeit die Hotelfachschule Zürich absolviert und soeben das fünfte Semester in Angriff genommen hat, erwähnt jenen persönlichen Bezug zur Marinade gerne vor dem Gast. Ein anderes Gericht nennt er sogar «Grandmother’s Kitchen» – Grossmutters Küche. «Es ist ein herzhaftes Wintergericht mit indischen Gewürzen – mein Grossvater kam aus Indien.» Aber Grossmutter liest sich halt auf der Speisekarte noch ein wenig besser. «Childhood Memories» – Kindheitserinnerungen – nannte er den Gang mit den selbst gemachten Fischstäbli. «Natürlich vegane», hält Rechsteiner fest. «Kaum ein Tisch, an dem nicht darüber diskutiert wurde, ob man den Spinat, den es dazu gab, aufessen musste, oder jener gefeiert wurde, der als Beilage zu Hause Pommes frites erhielt.»

Kindheitserinnerungen als Inspiration für die Küche

Das Küchentalent, das sein Handwerk im Zürcher Hotel Widder erlernte, bindet seine Servicemitarbeitenden wie ein Routinier ins Gesamterlebnis ein. Er weiss genau: Gut kochen können viele, Emotionen wecken hingegen nicht. «Ein Koch darf nicht glauben, dass er alleine den Gast glücklich machen kann.» Erzählt der Service jene Geschichte von der Marinade des Vaters oder vom herzhaften, grosselterlichen Gericht, beginnt es in den Köpfen am Tisch zu rattern. «Dann kommen Geschichten von früher. Zudem kriegt der Gast das Gefühl, er kenne uns ein wenig. Wir können ihn an uns binden.

Inwiefern die eigene Kindheit die Philosophie eines Küchenchefs prägen kann, zeigt auch Dominique Gauthier (55). Der Sternekoch aus dem «Le Chat-Botté» im Hotel Beau Rivage in Genf bietet rund ums Jahr ein Pflanzenmenü an. Der Gemüsegarten seiner Eltern war früher die Grundlage der Küche seiner Mutter. «Der Duft der Suppe aus jenem Gemüse verbreitete sich im ganzen Haus», erinnert sich der Koch des Jahres 2009 von GaultMillau, der seit dreissig Jahren im selben Betrieb arbeitet. Der hausgemachte Kartoffelstock seiner Mutter inspirierte den Franzosen sogar bei der Berufswahl.

Kindheitserinnerungen als Inspiration für die eigene Küche sowie als Werkzeug für die emotionale Bindung des Gasts – ein Kniff, der in der Beiz ebenso funktioniert wie im Gourmetlokal.