«Es ist diese brennende Flamme fürs Kochen»

– 03. Juni 2022
Für seine überragende Leidenschaft im Beruf zeichnet GastroSuisse Franck Giovannini mit der «Flamme de l’accueil» aus. Der Dreisternekoch vom Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier über Druck, Intoleranzen und die 1000 Teller, die ­täglich seine Küche verlassen.

Franck Giovannini, GastroSuisse zeichnet Sie mit der «Flamme de l’accueil» aus, einem Preis für Ihre heraus­ragende Leidenschaft für die Gastronomie. Was bedeutet Ihnen diese Würdigung?
Franck Giovannini: Für mich ist das eine grosse Ehre, ich bin sehr berührt. Ich sehe diesen Preis als Bestätigung für das, was alle hier im Haus täglich leisten. Für das, was ich hier seit fast 30 Jahren mache.

Sie haben bereits unter Frédy Girardet, Philippe Rochat und Benoît Violier gearbeitet. Wie hat sich das Restaurant de l’Hôtel de Ville von jener Zeit bis heute entwickelt?
Oh, da hat sich vieles bewegt. Was geblieben ist, ist die klare Linie Girardets: die Arbeit mit den allerbesten Produkten und den klaren, nachvollziehbaren Aromen. Wir vermählen nie 15 verschiedene Ingredienzen auf einem Teller. Der Gast soll die Produkte im Gaumen erkennen. Was sich weiterentwickelt hat, sind die Einzigartigkeit und die Präsentation. Die Gerichte sind heute leichter und gesünder.

Jede Karte, die Sie schreiben, ist komplett neu. Da findet sich kein Gericht, das Sie schon auf einem früheren Menü hatten. Ein enormer Aufwand.
Wir orientieren uns immer an den Produkten der Saison, kochen aber nie dasselbe wie in den Jahren davor. Auf dem À-la-carte-Menü bieten wir allerdings immer Klassiker von Monsieur ­Girardet und Monsieur Rochat an, das ist uns ebenso wichtig.

Woher nehmen Sie die Inspiration für neue Gerichte?
Ich weiss es nicht. Die Kreativität ist mein Ding. Ich folge der Linie des Hauses und der Saison. Und komme dabei auf Ideen.

Das Restaurant de l’Hôtel de Ville ist eines der wenigen Gourmetlokale, die neben dem Menü ein grosses À-la-carte-Angebot haben. Toll für den Gast, extrem herausfordernd für Ihre Köche.
Wir haben Gäste, die nicht wählen möchten und sich gerne auf unser Menü einlassen. Aber wir haben auch Stammgäste, die 20-mal pro Jahr bei uns essen. Sie kriegen dank dem breiten Angebot immer etwas anderes serviert.

Sie kochen regionaler als Ihre Vorgänger.
Ich will keine Spargeln aus Südamerika kaufen, keine Morcheln aus Kanada. Die Produkte sollen möglichst aus der Schweiz stammen. Und sonst aus Ländern in der Nähe: Frankreich, Italien, aber nicht weiter weg. Ich sehe es heute als meine Aufgabe an, da ein Vorbild zu sein. Auch wenn die Produkte sehr gut sind, sollten wir keine Flugware aus Asien, Peru oder Australien kaufen. Vanille oder Pfeffer – okay. Aber die muss ich ja nicht täglich neu einkaufen. Mit dieser Einschränkung zwinge ich mich dazu, wirklich saisonal zu kochen. Eine Tomate 25 000 Kilometer weit reisen zu lassen, ergibt keinen Sinn.

Da verzichten Sie lieber auf die beste Tomate.
Nein, ich habe die beste Tomate hier. Während ihrer Saison. Die ist hier halt kurz. Aber während der Saison ist sie die beste.

Zurück zur Herausforderung für Ihre Brigade: Sie schreiben pro Jahr fünf Menüs, hinzu kommen die Klassiker.
Keine Frage: Damit fordere ich meine Leute ziemlich. Aber wir lieben dieses Konzept. Schauen Sie: In der Weihnachtswoche gibt es jeweils nur ein Menü. Das ist für die Küchenbrigade einfacher, aber monoton. Jetzt haben wir fünf verschiedene Fischgerichte im Angebot, das ist spannender für die Köche.

Wie funktioniert das logistisch? Sie können ja kaum für 50 Gäste 50 Seezungen in der Küche haben für den Fall, dass jeder dasselbe bestellt.
Natürlich nicht. Wir haben ein geschriebenes Menü und ein Überraschungsmenü. Das gibt mir Spielraum. Viele Gäste wollen sich überraschen lassen, schauen keine Karte an. Dann bieten wir noch einen Tisch in der Küche an. Für diesen bestimme ich das Menü. Ungefähr die Hälfte der Gäste weiss nicht, was sie kriegt. Unser Konzept erfordert eine gute, ständige Kommunikation zwischen der Küche und dem Maître. Nur so verkauft er dem Gast keine Gerichte, die nicht mehr verfügbar sind. Wir schmeissen nichts weg, wir verkaufen alles.

Apropos Maître: Wie wichtig ist Ihnen der Service, also alles, was sich ausserhalb Ihres Küchenreichs abspielt?
Sehr wichtig. Hier hat sich viel geändert im Laufe der Jahre. Ich bin selbst sehr ruhig, schreie nicht herum. Gäste können in der Küche essen. Und im Gastraum herrscht heute eine viel entspanntere Atmosphäre als früher. Der Service lacht mit den Gästen, man bewegt sich mit ihnen auf Augenhöhe. Das war früher anders. Wir sind professionell wie eh und je, aber lockerer. Damit ziehen wir mittlerweile auch viel jüngere Gäste an. Es spricht sich herum, dass es bei uns nicht mehr steif zu und her geht.

Wie wichtig ist es für den Gast, Sie persönlich zu sehen?
Es gibt keinen Tag, an dem ich mich den Gästen nicht zeige. Ich gehe an jeden Tisch. Das ist für mich eine Frage des Respekts.

Sie sagen, Sie schreien nicht herum. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Mitarbeitenden?
Wir sind uns sehr nah. Es ist mir wichtig, dass sie sich wohlfühlen. Das überträgt sich auch auf den Gast.

Seit wann gibt es diesen Tisch in der Küche?
Seit zehn Jahren.

Seither geht es also ruhig zu und her in der Küche.
Mein Vorgänger Benoît Violier war auch ruhig. Bereits unter Monsieur Rochat konnten Gäste in der Küche speisen. Damals war es aber noch nicht möglich, diesen Tisch zu reservieren. Er war für Freunde bestimmt. Es war heiss in der Küche, heute ist es sehr angenehm.

Was motiviert Sie, täglich mit Ihrer Equipe Spitzenleistungen abzurufen?
Es ist die Liebe für meinen Beruf, diese brennende Flamme fürs Kochen. Dass die erlischt, ist meine einzige Angst. Ich liebe es, Gäste glücklich zu machen. Ich liebe es, tolle Gerichte aus diesen Produkten zuzubereiten. Wir arbeiten in einem Metier, in dem wir zweimal täglich Resultate sehen. Das ist doch genial. Mit meinen Mitarbeitenden täglich etwas zu erschaffen, motiviert mich. Mit der neuen Bäckerei kommen wir auf 85 Mitarbeitende, da bewegt sich so viel.

Was bedeutet es Ihnen, Chef dieses traditionsreichen Hauses zu sein?
Es fällt mir noch immer schwer, zu hören, dass die Leute zu mir kommen. Ich war hier so lange ein Mitarbeiter unter grossen Chefs. Dass ich 2016 übernehmen würde, war so nicht vorgesehen. Aber klar: Dieses Haus führen zu dürfen, erfüllt mich mit Stolz. Ich bin froh, wie wir die Covid-Pandemie überstanden haben. Die Gäste sind glücklich. Ich sehe mich auf einer Mission, die Linie fortzuführen, bis eines Tages der Nächste übernimmt. Ich will nicht jener sein, der hier den Schlüssel dreht.

Schaffen Sie es, diesen Spirit auf all Ihre Köche zu übertragen?
Ich arbeite mit einer sehr jungen Equipe. Und sie alle haben richtig viel Lust. Ich kommuniziere viel. So schwappt diese Begeisterung, dieser Spirit, auf das Team über.

Ihre Arbeitstage sind sehr lang, 16 Stunden sind normal. Und jene Ihrer Mitarbeitenden?
Sie arbeiten weniger. Seit diesem Jahr sind wir fünf Köche mehr. So darf jeder Koch eine Woche pro Monat abends freimachen. Er arbeitet dann nur bis 17 Uhr. Hinzu kommen die zwei freien Tage davor und danach. An neun Tagen am Stück geniesst somit jeder Koch freie Abende.

Und Sie? 16-Stunden-Tage sind doch nicht gesund. Wie lange wollen Sie das machen?
Ich werde es sicher nicht noch 20 Jahre machen, aber derzeit geht es mir sehr gut. Die Tage vergehen schnell. Am Morgen bin ich in der Küche, dann habe ich Meetings. Journalisten wollen etwas. Dann kommen die ersten Gäste, der Service geht los. Nach dem Mittag nehme ich mir einen Moment Zeit, neue Gerichte zu testen, danach geht es schon bald mit dem Kochen für den Abend los. Die Tage sind dynamisch, ich habe keine Wartezeiten, die mich merken lassen, wie lang ich eigentlich arbeite.

Wie gleichen Sie die langen Arbeitstage aus?
Mein Glück ist, dass ich zwei Wohnorte habe. Unter der Woche wohne ich hier im Haus wie bereits meine Vorgänger. Das ist sehr angenehm. Am Samstagabend fahre ich nach Hause nach Yvonand JU an den Neuenburgersee. Das liegt eine halbe Autostunde von hier entfernt. Am Sonntag und Montag bin ich dort und geniesse die Zeit mit meiner Familie. Ob in der Wohnung hier oder in Yvonand: Wenn ich nicht am Arbeiten bin, denke ich nicht ans Restaurant. Das funktioniert. Ferien sind Ferien. An die Arbeit denke ich, sobald es wieder losgeht.

Wie lebt es sich mit dem Druck, Chef eines Restaurants zu sein, das seit vier Jahrzehnten drei Michelin-Sterne hat?
Druck brauchen wir doch irgendwie. Wir kochen hier täglich für 100 Gäste. Das ergibt rund 1000 Teller, die Tag für Tag die Küche verlassen und wunderbar sein sollen. Ich denke nicht an den Druck der Sterne, sondern daran, dass 100 Gäste mit hohen Erwartungen glücklich gemacht werden müssen. Und dass die Mitarbeitenden glücklich und zufrieden sein müssen. Das kann ich beeinflussen. Die Vergabe der Sterne nicht. 

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Das Wohlergehen seiner Mitarbeitenden liegt Giovannini (r.) am Herzen. Er gilt als ruhiger Chef. (Foto: zVg)

Was ist für Sie ein gutes Restaurant?
Das kann ein Bistro, eine Pizzeria sein. Hauptsache, die Speisen sind hausgemacht. Es geht nicht um Sterne. Der Gast will gut essen, egal wo. Frische Produkte, gutes Handwerk, Liebe – das macht ein gutes Restaurant aus. Während der Ferien esse ich gerne in Sternerestaurants, am freien Sonntag oder Montag mag ich es simpel. Eine Pizza am See, ein schönes Eglifilet.

Welche Sternerestaurants haben Sie zuletzt besucht?
Letztes Jahr ass ich bei zwei Dreisternern: bei Arnaud Donckele in Saint-Tropez und bei Andreas Caminada im Schloss Schauen­stein. Demnächst würde ich gerne bei Stefan Heilemann im Widder in Zürich essen. Seine Küche interessiert mich, und eigentlich habe ich ja keine Ausrede: Sein Restaurant ist sonntagmittags geöffnet.

Heilemann ist einer von mehreren hervorragenden Zweisterneköchen in der Schweiz. Was halten Sie von der Schweizer Gourmetszene?
Wir leben im Land mit der höchsten Sternedichte der Welt. Dennoch haben wir nur drei Dreisternerestaurants. Das irritiert mich. In Frankreich kommt jedes Jahr ein neues hinzu. Ich würde mich über Zuwachs in der Schweiz freuen. Man isst hierzulande überall gut. Vor 30 Jahren ragte die Romandie heraus. Heute ist die Qualität überall hoch. Im Tessin, in der Deutschschweiz, in der Romandie. Und überall ein bisschen anders.

Wir müssen noch über den Fachkräftemangel sprechen. Sie als Träger der «Flamme de l’accueil»: Wo brennts?
Die Zeiten haben sich geändert, die Ansprüche der Leute sind nicht mehr die gleichen wie früher. Darauf muss die Gastronomie und Hotellerie eingehen. Im Kanton Waadt verlassen 50 Prozent die Branche spätestens im Alter von 20 Jahren. Wir müssen den Jungen Lust auf den Beruf machen. Wenn der Chef ständig hadert und jammert, kann das Team nicht motiviert sein. Wir müssen doch zeigen, wie grossartig unser Job ist. Ich versuche, das täglich vorzuleben. Das war hier nicht immer so.

Erzählen Sie.
Vor 30 Jahren unter Monsieur Girardet war es anders. Da muss­te man mental stark sein. Er hat viel geschrien. Früher hatte man Angst, angebrüllt zu werden. Heute hat man Angst, mich zu enttäuschen. Das ist etwas anderes. Auch die Arbeitszeiten haben sich vielerorts verbessert. Es gibt jedoch eine Entwicklung, die mich beunruhigt.

Nämlich?
Die Intoleranzen und Allergien der Gäste. Es 100 Gästen am Tag rechtzumachen, ist heute so schwierig. Manchmal habe ich das Gefühl, ich arbeite im Krankenhaus, nicht im Restaurant. Die Nussallergie, die gab es früher schon. Heute gibt es alles: Man ist sogar auf Karotten und Sellerie allergisch, die in der Sauce verkocht sind. Wenn das so weitergeht, können wir nicht mehr für alle kochen. Derzeit kochen wir auf Wunsch auch laktosefrei und vegan, aber ich mache mir Gedanken für die Zukunft. Diese Extrawünsche können Köchen die Motivation am Beruf nehmen.

Weshalb setzen Sie kein klares Zeichen?
Weil ich keine Lust auf schlechte Gäste-Feedbacks im Internet habe. Ich will nicht, dass es heisst, in Crissier gehe man nicht auf den Gast ein. Aber eben: Ich mache mir Gedanken.