«Wir müssen uns mit neuen Arbeitszeitmodellen auseinandersetzen»

Reto E. Wild – 19. Mai 2022
Walter Tobler ist Gastgeber des «höchsten Feiertages der ­Beizer»: Als Präsident von GastroSt. Gallen organisiert er die Delegiertenversammlung Ende Mai unter dem Abendmotto «Casino Royale und James Bond». Und er zieht Bilanz seiner 45-jährigen Branchenkarriere.

Walter Tobler, am 31. Mai fällt in St. Gallen der Startschuss für die wichtigste Veranstaltung im Jahreskalender von GastroSuisse. Wie ist die Stimmungslage beim «Tätschmeister»?
Walter Tobler: Absolut optimistisch. Wir werden drei richtig schöne Tage in St. Gallen erleben. Ich hoffe, dass Gastro­Suisse die Traktanden so kurz wie möglich hält, damit wir mehr Zeit für unser attraktives Rahmenprogramm und die Unterhaltung haben (schmunzelt). Die Delegiertenversammlung ist der höchste Feiertag der Beizer. Wir setzen alles daran, diesen entsprechend umzusetzen.

Worauf freuen Sie sich besonders?
Bereits am Montagabend, also am 30. Mai, treffen sich die Delegierten an ihren Kantonalabenden. Es ist schön, dass es wieder möglich ist, die Kollegen bei einem gemeinsamen Abendessen zu sehen. Richtig los geht es vor dem Mittag des 31. Mai mit dem Apéro für alle Delegierten. Parallel dazu findet ein attraktives Programm für die Partnerinnen und Partner der Delegierten statt. Nach der Delegiertenversammlung kommt es zu einem schönen Apéro und einem Galaabend, der unter dem Motto «Casino Royale und James Bond» steht. Die Eventmoderatorin Nadja Bischof führt durch den Abend. Passend zum Motto servieren wir ein royales Abendessen. Auf den Stimmungskiller Losverkauf verzichten wir. Ich wollte das Geld anders investieren: Es kommt dank Sponsoren zu einem mehrere Meter langen Käsebuffet. Wer will, kann sich in Casino­atmosphäre an den Spieltischen unterhalten oder an der Weinbar das Netzwerk pflegen. Dort schenken wir exklusiv St. Galler Weine aus.

Sie sind nun seit 45 Jahren Beizer. Wie hat sich die Branche in der Ostschweiz während dieser Zeit verändert?
Das Bewusstsein für die Regionalität ist brutal gewachsen. Wenn wir beim Wein bleiben: Das Beste, was man vor 45 Jahren aus einem Ostschweizer Rotwein machen konnte, war ein Pfeffer. Unglaublich, wie sich die Weine, aber auch die lokalen Biere seither entwickelt haben. Die «Industriepfützen» haben mit dem Fall des Kartells Konkurrenz erhalten. 2002, als wir unsere Brauerei gründeten, waren wir die Nummer 134. Heute sind es schweizweit über 2000 Brauereien. In der Gastronomie gehen die Konsumenten sorgsamer mit Fleisch um. Sie haben andere Qualitätsansprüche, die wir in den Küchen dank neuen Zubereitungsarten einlösen können.

An welche denken Sie?
Das beginnt bereits bei der Fleischtemperatur, die wir dank neuen Geräten im Griff haben. Ein anderes Beispiel: Zu meiner Lehrzeit waren die Kühlräume noch mit Holztüren versehen.

Weitere markante Veränderungen?
Die Vielfalt an Angeboten und Betriebstypen hat sich vor allem in den letzten 10 bis 15 Jahren enorm vergrössert: Vorher galt Riz Casimir als ein asiatisches, exotisches Gericht. Doch erst mit der Reisetätigkeit der Gäste wurde realisiert, dass Riz Casimir nicht sehr viel mit Asien zu tun hat. Später wurden in St. Gallen die ersten Pizzerien eröffnet.

Welches sind für Sie als Branchenprofi die prägendsten Ereignisse in den letzten vier Jahrzehnten?
Ich habe während meiner Lehre an 5,5 Tagen gearbeitet. Wenn ich nach der Berufsschule nicht zur Arbeit ging, hiess es, das sei nun mein halber freier Tag. Im ersten Lehrjahr verdiente ich 70 Franken … Im Umgang mit dem Personal und bei den Arbeitszeiten ist seither viel passiert.

Wie geht es Ihren Mitgliedern heute? Schweizweit kämpfen insbesondere die Restaurants in den kleinen Dörfern ums Überleben.
Der Kanton St. Gallen ist ein Spiegel der Schweiz: Am Ende meiner Amtszeit als Präsident von GastroSt. Gallen Stadt hatten wir auf Stadtgebiet 220 Patente. Heute sind es über 500. Die Steigerung passierte innerhalb von nur 20 Jahren. Doch für den klassischen Landgasthof, der aufopfernd arbeitet, wird es immer schwieriger – nur schon, um das Personal für sechs Tage pro Woche zu finden. Wenn auf dem Land ein gut geführter Betrieb schliessen muss, ist das das Schlimmste für die Branche, weil er fast nicht ersetzbar ist. So kommt es zu Gemeinden, die gar keine Beizen mehr haben.

Wie hat sich die Mitgliederzahl im Kanton entwickelt?
In den letzten fünf Jahren hatten wir eine kleine Steigerung. Seit 2016 sind es bei GastroSt. Gallen über 1000 Mitglieder. Damit sind wir der grösste Kantonalverband in der Ostschweiz.

Wo drückt der Schuh bei Ihren Mitgliedern?
Das C-Unwort hat dazu geführt, dass viele Menschen vergessen haben, einmal pro Woche auswärts essen zu gehen. Auf dem Land ist es unter der Woche in den Betrieben derzeit ruhig, an den Wochenenden läuft es sehr gut. Das Geschäft in der Stadt zieht langsam an, aber es ist noch nicht dort, wo wir es haben möchten. Andererseits: Wenn es so laufen würde wie 2019, hätten wir das Problem, dass wir die Frequenzen nicht stemmen können, weil der Branche die Mitarbeiter fehlen. Ich weiss von Betrieben, die nicht mehr alle Bereiche öffnen, weil sie den Service bei vollem Laden momentan nicht schaffen.

Was ist zu tun?
Wir müssen uns mit neuen Arbeitszeitmodellen auseinandersetzen, beispielsweise die Viertagewoche ausprobieren. Das mag für den einen Betrieb Heil bringend sein, für den anderen ein Genickbruch. Dass die Speisekarten kleiner geworden sind und dafür öfter gewechselt werden, finde ich gut. Seit zwei Jahren stecken wir in einer schwierigen Phase. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es in den letzten 45 Jahren fast immer nur aufwärtsging.

Auch nach dem Rauchverbot oder der Promillegrenze?
Das Rauchverbot war einschneidend. Aber nur für eine kurze Zeit. Es ist unglaublich, wie schnell sich Konsumenten an neue Situationen gewöhnen. 2005, als das mit den Promille kam, dachte ich, ich könne meine Brauerei einstampfen, weil anfangs nur noch alkoholfreies Bier bestellt wurde. Aber das hat sich schon bald wieder geändert.

Sie haben in Ihrer Karriere, wie mit der Gründung einer Brauerei oder zuletzt der Pasta-Manufaktur, immer wieder neue Projekte umgesetzt, obwohl gerade diese Branche voller Herausforderungen ist. Lieben Sie diese?
Es gibt zwei Typen von Menschen: Die einen stellen fest, wie schwierig es ist, und resignieren. Die anderen versuchen, die Herausforderungen zu bewältigen. Es gibt keine Branche wie die unsere, die einen solchen Drang hat, Probleme zu lösen. Wenn ich 100 Beizer fragen würde, weshalb sie den Schritt in die Selbstständigkeit machten, sagen 80 Prozent, sie konnten den Chef nicht mehr ausstehen. Wir lieben unsere Selbstständigkeit und wollten nie in die Kurzarbeit. Es kam während der Pandemie nur deshalb so weit, weil wir nicht mehr arbeiten durften. Wir Wirte sind ein eigenartiges Volk, wir möchten arbeiten und glauben an unsere Branche. Es gibt einen guten Grund: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wo kann man besser miteinander reden als in der Beiz? Auswärts essen zu gehen, ist die beste Beziehungspflege. Wenn es mit einem Paar im Restaurant nicht klappt, dann kann es seine Zweisamkeit beenden.

Was raten Sie Ihren Berufskollegen, um gegen die aktuellen Herausforderungen – Stichworte wie Preiserhöhungen oder Fachkräftemangel– zu bestehen?
Das ist ein sensibles Thema – vor allem wenn es um die politischen Preise von Kaffee oder Bier geht, die jeder kennt. Schlimm ist es für jene, die schon vor zwei Jahren bei der Preiskalkulation im Rückstand lagen. Die haben jetzt echte Probleme. Ich kenne Kollegen, die nach den Sommerferien aufgeschlagen haben. Das kann besser sein, als einmal den Preis um 50 Rappen anzuheben. Sicher aber müssen wir nun bei der Preiskalkulation regelmässig über die Bücher. Die Gewerkschaften können übrigens sagen, was sie wollen. Wir bezahlen sowieso schon mehr als die Minimallöhne. Wir sind gezwungen, das Personal besser zu entlöhnen, um überhaupt noch Arbeitskräfte zu finden. Und so viele Produkte werden teuerer. Mir schrieb ein Händler, dass die Gläser bei der nächsten Lieferung um 10 Prozent teurer sein würden. Jetzt schlägt er nochmals um 8,5 Prozent auf. Viele nützen die Situation aus und erheben Preisaufschläge, die ich nicht nachvollziehen kann.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie werden bald 64 Jahre alt. Wie lange möchten Sie sich als Präsident von GastroSt. Gallen engagieren?
Ich bin noch für zwei weitere Jahre gewählt und befinde mich in meiner letzten Amtszeit. Danach haben wir eine Alters­guillotine.

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«Wenn auf dem Land ein gut geführter Betrieb schliessen muss, ist das das Schlimmste für die Branche, weil er fast nicht ersetzbar ist.» (Foto: Daniel Winkler)

★ Vom «Isebähnli» zu Pasta Passione

Der Thurgauer Walter Tobler (64) ist seit 2016 Präsident von GastroSt. Gallen. Seine Berufskarriere startete er mit einer Kochlehre im «Isebähnli» in Weinfelden TG, wechselte als junger Mann zu Waro ins Zürcher Seefeld und danach nach St. Gallen in einen Multishop. Seinen ersten Schritt in die Selbstständigkeit ging er mit dem Bierfalken in St. Gallen ein. Im Goldenen Leuen in St. Gallen, auch als National oder NAZ bekannt, wirtete er 18 Jahre lang und führte zusätzlich das Altenrhein Airport Catering. 2002, weit vor dem Boom der Mikrobrauereien, gründete Tobler als Initiant die Huus-Braui in Roggwil TG, wo er heute als VR-Präsident verantwortlich zeichnet. Während des Lockdowns entschied sich der erfahrene Gastronom, den Ochsen in Roggwil vor dem Abriss zwischenzunutzen und produziert seither unter Pasta Passione eigene Pasta. Der GastroSt. Gallen-Präsident ist zudem Besitzer der Linde Roggwil. Gastgeber sind dort sein Sohn und seine Schwiegertochter.