Spitzenkoch Olivier Jean steht in Genf vor Michelin-Sternen

Reto E. Wild – 25. Mai 2022
Die Gastronomie spielt im neuen Genfer Luxushotel Woodward eine wichtige Rolle. Mit der Verpflichtung von Olivier Jean – Joël Robuchon persönlich hatte damals den Deal eingefädelt – ist es für die ersten Michelin-Sterne angerichtet. Ein exklusives Interview mit dem 197 Zentimeter grossen Franzosen.

Der französische Spitzenkoch Olivier Jean (35) dirigiert ein Team mit 80 Angestellten – in den Restaurants «L’Atelier de Joël Robuchon» und «Le Jardinier» im Luxusboutiquehotel Woodward der Oetker Collection in Genf. Jean arbeitet seit über 10 Jahren für Robuchon in 10 verschiedenen Ländern und ging durch seine harte Schule. Im «Le Jardinier» hat er das Konzept, Produkte im maximalen Umkreis von 150 Kilometer zu verwenden. «Das ist eine Herausforderung, bringt mich aber zu Höchstleistungen», begründet er. 85 Prozent des Gemüses stammt von einem Bauern aus der Grenzgemeinde Hermance GE, in der Luftlinie kaum 10 Kilometer vom Woodward entfernt.

Olivier Jean, wie haben Sie diesen Bauern entdeckt?
Olivier Jean: Ich machte einen Sonntagsausflug und sah, wie ein Mann sein Land mit einem Pferd beackerte. Ich war sofort begeistert von seinen Produkten wie den Karotten, die so intensiv im Geschmack sind, und wollte mit ihm ins Geschäft kommen. Der Bauer war sehr direkt und sagte, er möchte nicht mit einem Fünfsternehotel zusammenarbeiten, weil wir nur perfektes Gemüse abkaufen. Ich verneinte und fragte ihn, ob er uns nicht eine Chance geben würde. Seither erhalten wir von diesem Gemüsebauer jeden Dienstag eine grosse Ladung.

Sie verwenden nicht nur das Gemüse aus der Region, sondern auch die anderen Produkte.
Ja, das Fleisch stammt hauptsächlich aus dem Simmental und manchmal ist es Hereford-Rind. Eigentlich kommen nur die Seezunge und der bretonische Hummer, der Wolfsbarsch aus dem Atlantik sowie das pyrenäische Baby-Lamm aus dem Ausland.

Was ist Ihre Philosophie?
Als ich ein junger Koch von 23 Jahren war, überlegte ich mir, was ein guter Chef ist. Sehr wichtig sind die Finanzen, denn wenn man eine Firma nicht gut führt, kann man kein Geschäft machen und die Kunden bleiben aus. Was heisst das nun? Entscheidend ist, dass der Kunde deinen Ansatz versteht. Wenn Sie ein super Chef sind, der alle Techniken beherrsct, die Kunden aber Ihre Handschrift nicht verstehen, haben Sie verloren. Denn letztlich bezahlt der Kunde für sein Menü und kommt in einem solchen Fall nicht mehr zurück.

Wie starteten Sie Ihre Karriere?
Ich war in Frankreich und in Monte Carlo. Die Zeit in Paris war sehr intensiv. Ich arbeitete 18 Stunden am Tag und habe in eineinhalb Jahren 14 Kilogramm verloren. Ich wollte mich zur Höchstleistung trimmen.

2013 wechselten Sie nach Taiwan und erreichten zwei Michelin-Sterne. Was haben Sie dort gelernt?
Damals sprach ich nur wenig Englisch. Ich hatte eine Brigade von 90 Angestellten in drei Restaurants und war mit 27 Jahren der jüngste Chef der Robuchon-Welt. Sie müssen sich 10mal mehr beweisen und sehr hart arbeiten. Ich lernte Mandarin und konnte so wenigstens einfache Dinge sagen wie «schneller», «nicht gut» oder «nochmals». Das Geschäft lief sehr gut. Ich hörte von einer bevorstehenden Eröffnung in Miami und habe an Joël Robuchon eine Mail geschrieben, dass ich dort gerne an den Start gehen würde. Die Mail blieb, im Gegensatz zu seiner Gewohnheit, monatelang unbeantwortet. Ich war traurig. Robuchon war ein Künstler, eine Diva, ein Star. Eines Tages kam er nach Taipeh und bat mich in sein Büro. Mein Herz schlug immer schneller. Er sagte: «Ich möchte, dass Du in Genf für ein neues Projekt mit zwei Restaurants als Executive Chef verantwortlich zeichnest.»

Was haben Sie von Joël Robuchon, dem verstorbenen «Koch des Jahrhunderts» gelernt, der 2016 insgesamt 30 Michelin-Sterne vereinte?
Konsistenz, Strenge und seine Art, wie er arbeitete: den Kunden respektieren und das Produkt als Star zu sehen. Klar muss ich meine Kenntnisse und Techniken einsetzen. Aber am Produkt sollte man nicht zu viel verändern. Dennoch dauert beispielsweise der Prozess beim Auftaktgericht des Degustationsmenüs, «Le Caviar Impérial de Sologne», drei Tage. Die Geliermasse aus einer Blauen-Hummer-Bisque verlangt nach Präzision.

Geht es in den Restaurants der L’Atelier de Joël Robuchon auch darum, den verstorbenen Starchef mit seinen Gerichten zu beehren?
Die Kunden müssen überrascht werden. Das erwähne Gericht ist präzis wie eine Schweizer Uhr hergestellt und präsentiert. Ich brauchte Monate, um es auszuarbeiten und sagte damals Robuchon, dass ich eine neue Idee habe. Ich war sehr nervös, als er das Gericht testete. Er sagte, es sei perfekt, ich müsse nichts mehr ändern.

Teil des Konzepts ist es, dass die Präsentation Ihrer Gerichte sehr ästhetisch ist. Sie sehen wie Kunst aus.
Die Gerichte müssen sehr schön sein. Das beeinflusst auch die Wahrnehmung beim Geschmack. Und heute werden in den sozialen Medien so viele Bilder geteilt. Da ist ein schön hergerichteter Teller beste Werbung für uns. Ich bin nicht sicher, ob das als Kunst bezeichnet werden kann. Kunst können auch sehr einfache Dinge sein.

Sie arbeiteten in Ihrer noch jungen Karriere in zehn verschiedenen Ländern. Was ist in Genf anders?
Die Kunden. Sie lieben das Essen, wissen, was Qualität ist und haben auch das Geld, um dafür zu bezahlen. Es sind tolle Kunden, die wir haben. Toll sind aber auch die Produkte wie vom Gemüsebauer oder den Morcheln aus dem Wallis. Für diese habe ich echt gekämpft. Beim Preis habe ich nicht verhandelt und bezahlte den Preis, der von uns verlangt wurde. Die Morcheln kommen in zwölf verschiedene Bäder mit 35 Grad warmen Wasser, bis auch das letzte Sandkorn aus dem Schlauchpilz gekommen ist.

Von wo sind Ihre Kunden?
Aus Genf, Lausanne, dem Wallis und der übrigen Schweiz und auch einige aus dem Ausland.

In Taiwan hatten Sie zwei Michelin-Sterne, hier in Genf noch keinen, weil die beiden Restaurants erst kürzlich eröffneten. Was ist Ihr Ziel für 2022?
Das ist eine etwas heikle Frage. Aber ich möchte sie ehrlich beantworten. Klar, ein Michelin-Stern ist immer ein Plus, der uns hilft und das Beste für das Unternehmen ist. Selbstverständlich hoffe ich, dass wir ausgezeichnet werden. Ein Michelin-Stern ist aber auch eine Auszeichnung für die Produzenten und das ganze Team, das hinter den Arbeiten steht.

Ihr Geheimrezept für den Stern?
Das gibt es nicht. Sie müssen das machen, was sie fühlen. Und die Tester entscheiden, ob Ihre Arbeit einen Stern wert ist oder nicht.

Sie sprechen immer wieder von Ihrem Team. Wie einfach ist es für Sie, Personal zu finden?
Leute zu finden, ist nicht schwer, aber die richtigen Menschen zu finden, die mit Herz und Seele dabei sind und eine Leidenschaft für unseren Beruf entwickeln, ist viel schwieriger. Klar, der Name Robuchon lockt potenzielle Angestellte an. Aber das allein genügt noch nicht.

Joël Robuchon war in der Küche sehr streng. Teilweise sind ihm die Köche scharenweise davongelaufen. Was sind Sie für ein Vorgesetzter?
Ich bin wie ein Vater, der freundlich ist, aber auch mal die Meinung sagt. Ich arbeite nun schon seit fast 20 Jahren in diesem Beruf und bin seit über 10 Jahren Chefkoch. Ich habe viel gesehen – auch, wie ich es in der Küche nicht möchte. Rumschreien gibt es bei mir nicht. Wenn ich etwas nicht gut finde, kann es sein, dass meine Stimme lauter wird. Dann verlange ich von einem Koch, dass er das Gericht nochmals zubereitet. Ist es auch nach dem dritten Mal nicht so, wie ich es erklärte, sage ich dem Angestellten, dass ich seinen Respekt gegenüber den Kunden und den Produkten erwarte.

Läuft in der Küche bei Ihnen Musik?
Vor und nach der Hauptservice ja, aber während des Kochens nicht. Dann ist höchste Konzentration gefragt. Unsere Köche haben es gut. Sie arbeiten 3,5 Tage und haben dann 3,5 Tage frei. Wissen Sie, was ich an der Oetker Collection schätze (die Oetker Hotel Management Company betreibt elf Hotels wie das Woodward mit Spitzenrestaurants wie dem L’Atelier de Robuchon, Anmerkung der Redaktion)?

Sagen Sie es uns.
Das Management spricht nicht von Angestellten, sondern von Talenten. Die Oetker Collection hat verstanden, wie man zum Erfolg kommt. Das ist nicht das schöne Hotelgebäude mit luxuriösen Zimmern oder das Essen allein, sondern der Umgang mit dem Personal. Der Schlüssel zum Erfolg ist, dass sich die Mitarbeitenden gut fühlen. Klar müssen sie auch arbeiten. Aber letztlich geht es ums Vertrauen ins Personal.