Tourismus

"Von Imperialismus sprechen": im Gespräch mit Ständerat Beat Rieder, Walliser Ständerat

Peter Grunder – 15. November 2017
Beat Rieder ist seit 2015 Walliser Ständerat. Der Anwalt und Notar lebt mit seiner Familie im Lötschental und hat jenseits von Mandaten im Zusammenhang mit seiner Region keine Interessenbindungen. Kurz bevor der Bundesrat die neue Tourismusstrategie vorstellte, sprach Rieder mit GastroJournal über Städte und Bergdörfer, über Föderalismus, Zentralismus, Tourismus und die Notwendigkeit einer "Anbauschlacht" fürs Schweizer Berggebiet.

GastroJournal: 2015 wählte Sie das Walliser Stimmvolk in den Ständerat. Wie ist Bundesbern?
Beat Rieder:
Der politische Prozess in Bundesbern ist grundsätzlich nicht anders als in einem Kanton, da sind ähnliche Abläufe und ­Regeln. Die Geschäfte haben allerdings eine ganz andere Dimension. Völlig anders gegenüber meiner früheren Tätigkeit im Walliser Kantonsparlament ist die Sachlichkeit im Ständerat. Das finde ich wichtig und gut, zumal unsere Zeit oftmals geprägt wird von persönlichen, unsachlichen Auseinandersetzungen. Dabei ist eine Streitkultur, die hart in der Sache, aber respektvoll im Umgang ist, ein Schlüssel des Schweizer Erfolgs. Nun sind die Berggebiete und das Gewerbe gegenüber dem Unterland sowie Industrien und Finanzplätzen wirtschaftlich so schwach, dass respektvoller ­Umgang nötig wäre, aber kaum mehr gegeben ist?
Es gibt tatsächlich nur wenige ­Parlamentarier, die jenseits von Sonntagsreden die Anliegen der Berggebiete wirklich kennen und zu verteidigen wagen. Die Dominanz der Städte und Agglomerationen ist geradezu gigantisch. Ist das nicht beunruhigend?
Mir war das schon vor Amtsantritt bewusst. Wichtig war mir, dass ich als Ständerat bewusst keine Mandate angenommen habe, die nicht im Zusammenhang mit Interessen des Berggebietes stehen und ich daher auch pointiert die Position der Berggebiete vertreten kann, sozusagen als Gegenpol. Dabei wird ständig das Loblied des Zusammenhalts gesungen?
Reden ist das Eine, handeln etwas ganz anderes. Der vielgelobte Föderalismus ist ein gutes Beispiel dafür, und verdeutlichen kann ich es etwa an der Raumplanung. Da regiert purer Zentralismus, gepaart mit Gleichmacherei. Dabei ist es doch offensichtlich, dass zum Beispiel im Lötschental und in ­Lausanne ganz andere Voraus­setzungen herrschen und die ­Betroffenen jeweils am besten wissen, was für sie richtig und wichtig ist – mehr Entscheidungskompetenz vor Ort ist das Zauberwort. Ist das nicht Kolonialismus, dies auch mit Blick auf Diskussionen um Wasser­zinsen oder um die Verteilung finanzieller Lasten der Infrastrukturen, die auf Saisonspitzen ausgerichtet sind?
Ich würde eher von «Imperialismus» sprechen: Wenn man in der Schweiz in den Bergen den Menschen das Bauen verbietet und in den Städten und Agglomerationen alles ermöglicht. Oder wenn man Bergdörfern, die fast nur vom Tourismus und der Wasserkraft leben, die Wasserzinsen drücken will, obschon diese Zinsen für die Gemeindekassen existenziell sind, während bei den Energiekonzernen nicht ­einmal im Ansatz finanzielle Transparenz herrscht. Was steckt dahinter?
Schwer wiegt die falsche Grundüberlegung, dass die Menschen in den Städten und Agglomerationen ein idyllisches Berggebiet wollen, aber nicht bereit sind, in der Schweiz den Preis dafür zu bezahlen. Als Verdeutlichung finde ich die Entwicklungszusammenarbeit bezeichnend: Wir investieren Unsummen in ferne Länder und wollen damit unter anderem in diesen Ländern die Landflucht verhindern. Gleichzeitig betreiben wir hier eine Politik, die die Entvölkerung unserer Bergtäler fördert. Ist man sich dessen bewusst?
Die Bevölkerung in den Bergen spürt das, in den Städten und Agglomerationen des Unterlandes ist es kein Thema. In der Politik wiederum gibt es Kreise, welche eine Entvölkerung bewusst in Kauf nehmen, was permanente Konfrontation bedeutet. Viele Politiker haben aber tatsächlich kein Bewusstsein jenseits der Idee, die Berge seien ein tolles, beliebig abrufbares Erholungsgebiet. Was ist zu tun?
Fakten auf den Tisch legen, Klartext reden, Überzeugungsarbeit leisten. Fakt ist auch, dass wir uns in den Bergen innert kaum dreier Generationen dem Tourismus ausgeliefert haben, und mit Blick auf die Wintersaison sieht es nicht nach einer schneeweissen Zukunft aus?
Vorab dank Wasserkraft und Tourismus sind viele Bergtäler tatsächlich in relativ kurzer Zeit in einen Wohlstand katapultiert worden, der früher undenkbar war. Manche mögen diese Entwicklung und diesen Lebensstandard für selbstverständlich nehmen, aber in den Bergen ist man sich durchaus bewusst, dass Erfolg harte Arbeit braucht, immer wieder neu erarbeitet werden muss und nie garantiert ist. Das zeigt sich gerade jetzt, wo vom harten Franken bis zu Bauverboten Entwicklungen kamen, auf welche die Berggebiete keinerlei Einfluss hatten, die aber bei uns den Wohlstand bedrohen. Und gleichzeitig soll man in den Bergen bereitstehen, um vom Dichtestress über die frische Luft bis zur schönen Landschaft die Probleme der Agglomerationen zu entschärfen und nebenbei sollen wir uns auch noch mit den Naturgefahren herumschlagen. Ein bisschen viel! Keine guten Voraussetzungen?
Als Prinzip sollte in der Schweiz gelten, dass eine Familie im Unterland und eine Familie in den Bergen etwa die gleichen Voraussetzungen hätten. Daraus ergibt sich, dass wir bereit sein müssen, gleichermassen Mittel einzusetzen, sonst wird die Kluft vom öffentlichen Verkehr bis zur Ausbildung zwischen Zentrum und Peripherie einfach zu gross. Und diese Kluft öffnet sich weiter, wie etwa der Blödsinn mit der Wasserzinssenkung zeigt oder die Schwierigkeiten, touristische Infrastrukturen zu finanzieren. Mit der Abwanderung verlieren die Bergregionen Kompetenz und tun sich immer schwerer, sich durchzusetzen – ein Teufelskreis, der gestoppt werden muss. Hat der Bund am renditeschwachen Tourismus und den Bergtälern letztlich kein Interesse?
Den «Bund» gibt es nicht, sondern einzelne Menschen, Politiker. Eine Minderheit mit einem Bewusstsein um die Notwendigkeit von Ausgleich zwischen Berg und Tal, und eine Mehrheit ohne dieses Bewusstsein. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Bewusstsein zu schärfen. Gibt es Gebiete, die gut unterwegs sind?
Im nahen Ausland kann man einige Beispiele sehen, die es besser machen. Entscheidend ist das Eingeständnis, dass wir ohne gute Infrastrukturen nicht wettbewerbsfähig sein können, dass aber die touristischen Unternehmen in den Bergen angesichts ihrer Wettbewerbs- und Ertragslage keine Chance haben, diese Infrastrukturen aus eigener Kraft zu finanzieren. Zu behaupten, das Berggebiet sei fast kostenlos als Lebensraum zu erhalten, ist die grosse Lüge. Dabei bräuchten wir eine Art «Anbauschlacht» fürs Berggebiet. Die politischen Chancen stehen schlecht, sogar für wegweisende Olympische Winterspiele?
Olympische Spiele wären ein idealer Auslöser für eine solche «touristische Anbauschlacht» und ein neues Selbstverständnis in den Bergen – zu einem Sportanlass und einer Werbekampagne allein dürfen die Spiele aber nicht werden. Da gibt es schon noch andere Dinge: Die negativen Folgen der Zweitwohnungsinitiative beginnen erst jetzt richtig zu wirken und werden die Abwanderung verstärken. Die klassische Ferienhotellerie, hinter der in der Schweiz meist Familien stehen, hat im internationalen Wettbewerb einen schweren Stand und kann mangels Rendite nicht reinvestieren. Die Bergbahnen liefern sich in der Schweiz einen Preiskampf und stehen finanziell, abgesehen von einzelnen Ausnahmen, mit dem Rücken zur Wand. Und so weiter. Haben Sie Lösungsansätze?
Neben dem politischen Bekenntnis zu einem massiven finanziellen Ausgleich, neben der einmaligen Chance, mit Olympischen Winterspielen entscheidend Schub zu gewinnen, neben einem Föderalismus, der die Interessen der Menschen in den Bergen respektiert, und neben der Wertschätzung der Unternehmer wünsche ich mir ­konkret einen Staatsfonds, wie ihn einige Länder haben und wie ich ihn im Wallis im Kleinen mitinitiiert habe. Anstatt dass ausländische Investoren die halbe touristische Schweiz kaufen und womöglich die öffentliche Hand als Bürgen nehmen, würde so ein Topf geschaffen, in den zwar auch Ausländer investieren könnten. ­Getragen würde der Fonds ­jedoch von der Schweiz und verteilt ­würden die Gelder föderalistisch im Rahmen klarer Regeln – das Wallis hat mit dem neuen Bergbahngesetz auch hier ein Beispiel. Also gibt es Zuversicht?
Bergler sind von Natur aus zuversichtlich und kämpferisch, Jammerer sind fehl am Platz. Insofern bin ich durchaus zuversichtlich.