Tourismus

Schweizer Beherbergungszahlen führen in die Irre

Peter Grunder – 27. Februar 2018
Endlich sind Ende Februar die Schweizer Beherbergungszahlen fürs Jahr 2017 erschienen. Freude herrscht auf den ersten Blick, mit dem sich viele begnügen. Auf den zweiten Blick widerspiegeln die Zahlen einerseits einen epochalen Umbruch im Schweizer Tourismus. Andererseits sorgen die Zahlen aus fachlicher Sicht für Verärgerung: weil sie als kleiner, quantitativer Ausschnitt der Schweizer Hotellerie die Wirklichkeit mehr verzerren als abbilden - und weil diese Verzerrung unnötig und der Bund zuvorderst dafür verantwortlich ist.

«Die Bilanz des Tourismusjahrs 2017 für Europa lässt sich sehen und führt zu Zuversicht auf breiter Front innerhalb der Branche», kommentierte Schweiz Tourismus (ST) die Beherbergungszahlen des vergangenen Jahres. Trotzdem müsse «daran erinnert werden, dass die Logiernächtevolumen aus der Zeit vor der Franken-Überbewertung in Folge der ersten Finanzkrise noch lange nicht erreicht sind», mahnte ST in der ersten grösseren Veranstaltung mit dem neuen Direktor Martin Nydegger: «Hier liegt weiterhin viel Aufholarbeit vor der Schweizer Tourismusbranche, die vollständige Rückgewinnung der europäischen Gäste bleibt das Ziel.»

Das Wallis hat trotz des Magneten Zermatt seit 2007 fast 40 Prozent seiner Hotelübernachtungen eingebüsst
Neben der erfreulichen Tatsache, dass die Frequenzen in der Hotellerie bereits seit 2016 wieder zunehmen, gibt es beunruhigende Umbrüche – die untenstehenden Tabellen verdeutlichen sie:
  • Die Feriengäste, die den Schweizer Tourismus seit seinen Anfängen im frühen 19. Jahrhundert prägten, schmelzen seit Anfang des 21. Jahrhunderts gerade wie die Alpengletscher. Nach dem 2. Weltkrieg kamen diese Feriengäste in zunehmenden Massen aus Nahmärkten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts aber ging die Aufenthaltsdauer stetig zurück, und zu Beginn des 21. Jahrhunderts brachen die Frequenzen ein: Seit 2007 hat die Schweiz über 60 Prozent der deutschen Nachfrage verloren, über 50 Prozent der niederländischen und über 40 Prozent der britischen.
  • Die Touristen aus Fernmärkten haben die Feriengäste aus der Nähe zwar ersetzt: Chinas Nachfrage hat sich innert zehn Jahren mehr als verfünffacht, aus den Golfstaaten kommen beinahe viermal so Touristen, aus Indien mehr als doppelt so viele.Doch mit Ausnahme mancher US-amerikanischen und japanischen Touristen machen die Gästegruppen aus Übersee nicht Ferien in der Schweiz. Chinesische Touristen etwa unternehmen laut einer aktuellen Studie der Uni St. Gallen (GJ04) im Schnitt achttägige Europareisen mit einem Abstecher in die Schweiz – auch hier ist die Aufenthaltsdauer entsprechend bescheiden.
Seit 2007 hat die Schweiz über 60 Prozent der deutschen Nachfrage verloren
Dieser radikale Wandel spiegelt sich auch in der Nachfrage: Die alpinen Destinationen, die von europäischen Feriengästen über Generationen besucht worden sind, haben im 21. Jahrhundert extrem verloren – und die Städte als häufiger Hub für Steppvisiten flatterhafter neuer Touristen gewonnen (vgl. Kasten): Das Wallis hat trotz des Magneten Zermatt seit 2007 fast 40 Prozent seiner Hotelübernachtungen eingebüsst, Graubünden über 20 Prozent. Der Blick auf die Gewinner in den klassischen alpinen Ferienregionen unterstreicht den Wechsel vom Feriengast aus Europa zum Ausflugsgast aus Übersee: Im Berner Oberland und in der Zentralschweiz, wo mit Jungfraujoch, Titlis oder Rigi internationale Topziele locken, haben die Hotelübernachtungen auch im Verhältnis zu 2007 zugelegt. Ein grosser Trost bleibt immerhin: Der Zuspruch von Schweizer Hotelgästen, die sogenannte Binnennachfrage, ist eine Bank: Obschon das Ausland währungsbedingt immer billiger geworden ist und enorme Anstrengungen unternommen hat, Gäste aus der Schweiz zu gewinnen, ist die Standorttreue phänomenal. Im Vergleich zu 2007 hat die Schweizer Nachfrage im eigenen Land zugenommen, und 2017 gab es gar einen neuen Rekord: «Die Logiernächtezahl der Schweizer Gäste erhöhte sich um 4,2 Prozent auf 16,9 Millionen und erreichte den bisher höchsten Stand», verlautete das Bundesamt für Statistik, das die Daten erhebt. Was wiederum an ein Ärgernis und die systematische Verfälschung der Daten erinnert: Nachdem seit 2016 endlich wieder Daten zur Parahotellerie vorliegen, kann es nicht sein, dass diese nicht parallel zur Hotellerie erscheinen (vgl. unten). Link: Beherbergungszahlen 2017 Die Nachfrage Seit Beginn des Jahrhunderts hat sich die Nachfrage im Schweizer Tourismus extrem verändert: Treue Feriengäste aus nahen Märkten sind durchreisenden Touristen aus Fernmärkten gewichen. Zur Verdeutlichung ist deshalb in der Tabelle unten neben dem Vorjahr 2016 auch das Jahr 2007 zum Vergleich herangegezogen. Beide Werte beziehen sich dabei auf 2017, was die Relationen über das letzte Jahrzehnt herstellt und eindrücklich den extremen Wandel zeigt. Markt LN (Mio.) ’07 (%) ’16 (%)
  1. Schweiz 16,92 +8,7 +4,2
  2. Deutschland 3,75 –62,4 +1,1
  3. USA 2,05 +18,6 +11,5
  4. UK 1,62 –40,8 –1,1
  5. China 1,43 +505,6 +13,0
  6. Frankreich 1,24 +8,8 +0,0
  7. Italien 0,93 +3,0 +0,8
  8. Golfstaaten 0,92 +380,5 –4,1
  9. Indien 0,74 +219,3 +23,4
  10. Niederlande 0,61 –56,4 +3,7
  11. Belgien 0,59 –35,9 +9,1
  12. Japan 0,41 –35,9 +13,1
  13. Korea 0,46 +284,1 +34,7
 Das Angebot Nachfolgend sind die Entwicklungen der Hotelübernachtungen in den Tourismusregionen ausgewiesen. Nicht berücksichtigt ist der vom Kanton Bern verantwortete Unsinn, das Bernbiet als eine Destination zu betrachten (vgl. rechts). Weil es nicht um Grösse, sondern um Differenzierung gehen muss, ist das Berner Oberland separat ausgewiesen – und was als Region weniger als eine Million Hotelübernachtungen ausweist, bleibt aussen vor. Um die Relationen zu verdeutlichen, steht neben dem Vorjahr das Jahr 2007, und beide Prozentwerte beziehen sich auf 2017. Destination LN (Mio.) ’07 (%) ’16 (%)
  1. Zürich 5,96 +22,2 +6,0
  2. Graubünden 4,85 –20,9 +4,9
  3. Berner Oberl. 3,97 +4,9 +8,6
  4. Wallis 3,92 –36,2 +6,9
  5. Zentralschweiz 3,56 +5,5 +3,6
  6. Genf 3,05 +5,8 +4,3
  7. Waadt 2,89 +12,3 +3,4
  8. Tessin 2,46 –12,3 +7,7
  9. Ostschweiz 1,90 –4,6 +0,3
  10. Basel 1,64 +32,1 +6,9
  11. Bern 1,10 –28,9 +4,1
Die Tourismusstatistik lieber ganz selber machen Im Rahmen einer Sparübung entledigte sich der Bund 2003 der hoheitlichen Aufgabe, die alpine Monokultur und tragende Exportbranche Tourismus statistisch ordentlich zu erfassen – was der Bund seit 1934 getan hatte und alle modernen Staaten selbstverständlich tun. In der Schweiz erledigte der Bund tourismusstatistisch fortan nur noch das, wozu er international verpflichtet war. Ansonsten überliess man die Branche sich selbst. In mühsamer Kleinarbeit realisierten die Branchenorganisationen in der Folge unter Federführung des Schweizer Tourismus-Verbandes (STV) ab 2004 eine Statistik der Hotellerie. Nach endlosen Diskussionen und Versprechen war es dann 2016 endlich auch mit der Parahotellerie wieder so weit – allerdings kommen einerseits irritierende Zahlen, und andererseits erscheinen Hotellerie und Parahotellerie nicht gleichzeitig. Aufbereitet werden beide Datenreihen vom Bundesamt für Statistik (BFS). Doch sowohl dort wie auch im Tourismus herrscht Unzufriedenheit – vorab mit dem Desinteresse der politisch Verantwortlichen: Ein Bundesrat fragte letzthin allen Ernstes, was eine hoheitliche Aufgabe sei. Jedenfalls ist die Branche inzwischen soweit, andere Lösungen ins Auge zu fassen. Dies zumal sich die technischen Möglichkeiten rasend entwickelt haben, viele Destinationen seit Jahren selber Daten erheben und weit mehr herauszuholen ist als einfältige Übernachtungszahlen. Die drohende weitere Abkehr vom Bund ist freilich ein verheerendes Signal: Der Tourismus, der im nationalen Kontext ohnehin keine strategische Unterstützung hat, belohnte den Bund damit für seine schiere Ignoranz. Tourismusstatistik: Schlaumeier im Bernbiet Weil nach innen nur ein kritischer Ansatz weiterbringen kann, müsste er bei Tourismusorganisationen eigentlich so selbstverständlich sein wie der strahlende Auftritt nach aussen. Nach wie vor entblöden sich aber viele nicht, sich auch nach innen möglichst positiv darzustellen. Beispielhaft hat sich das letzte Woche bei der Publikation der Beherbergungszahlen gezeigt (siehe links): So titelte der «Berner Oberländer», ein Teilprodukt des Zürcher Tages-Anzeiger-Konzerns: «Touristen ziehen Bern dem Wallis und Graubünden vor.» Das Blatt plagierte weiter, der Kanton Bern festige «seinen Platz als zweitstärkste Tourismusregion hinter Zürich». Dabei ist nicht nur die Prahlerei stossend, sondern auch der Inhalt – sozusagen Fake-News vom Strübsten. Zum einen und vor allem widerspiegelt die Zahl der Hotelübernachtungen keineswegs die Stärke des Tourismus – es fehlen quantitativ die Ferienwohnungen und qualitativ Auslastungen oder Zimmererträge. Zum anderen redet man im Bernbiet die Lage nicht nur schön, sondern hat sie auch systemisch zurechtgebogen: Obwohl die Stadt Bern, das Oberland sowie Emmental, Gantrisch und Seeland völlig unterschiedliche Tourismusgeschäfte betreiben, hat der Kanton 2016 alles in einen Topf werfen lassen. Ein differenzierter Blick zeigt dabei, dass es weit über das letzte Jahr hinaus quantitativ nur einen Gewinner gibt: das Berner Oberland mit der Jungfrauregion. Die Stadt Bern etwa hat gegenüber 2007 fast einen Drittel seiner Hotelübernachtungen verloren (siehe oben).