«Der interkulturelle Dialog ist entscheidend»

Oliver Borner – 25. Juli 2024
Die Schweiz zählt zu den beliebtesten Reisezielen von religiösen Jüdinnen und Juden. Deren Beherbergung bringt jedoch einige Herausforderungen mit sich. Wie sie dennoch reibungslos gelingen kann, erklären Jonathan Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und Iris Sobol vom Likrat Public Projekt im Interview mit dem GastroJournal.

Welchen Status geniesst die Schweiz als Reiseland bei religiösen jüdischen Gästen?
Jonathan Kreutner: Die Schweiz war schon immer ein beliebtes Reiseland für Touristinnen und Touristen aus Israel und religiösen Jüdinnen und Juden. Bereits im 19. Jahrhundert zog die Schweiz diese Gäste an.

 

Was sind die Gründe für diese Beliebtheit?
Jonathan Kreutner: Früher waren es vor allem praktische Gründe. Die Zentren der jüdischen Gemeinschaften befanden sich überwiegend in den Städten, wodurch der Alpenraum mit seinen Bergen eine grosse Faszination und Anziehungskraft ausstrahlte. Dazu kamen teils auch mythische Gründe. Manche fühlen sich wohl durch die Nähe der Berge zum Himmel dem Göttlichen näher. Ein weiterer Grund war sicherlich auch die Kurtradition, welche im 19. Jahrhundert in der Schweiz ihre Blütezeit erlebte. Hinzu kommt, dass die Schweiz in Bezug auf historische Ereignisse im vergangenen Jahrhundert weniger belastet ist als zum Beispiel Deutschland oder Österreich. Zudem gibt es in der Schweiz eine starke orthodoxe Gemeinschaft, wodurch bereits jüdische Infrastruktur sich etablieren konnte

 

Was schätzen sie an der Schweiz?
Jonathan Kreutner: Neben den Bergen und den Alpen sind es die Ruhe, die Beschaulichkeit, die Friedlichkeit und die gute Luft.

 

Welche Orte sind besonders beliebt?
Jonathan Kreutner: Bei orthodoxen Jüdinnen und Juden sind vor allem einige bekannte Orte in Bergregionen interessant. Dazu gehören neben Arosa GR auch Davos GR und St. Moritz GR. Israelische Gäste sind hingegen in der gesamten Schweiz anzutreffen.

 

Was wollen religiös-jüdische Gäste in der Schweiz erleben? Wofür interessieren Sie sich?
Jonathan Kreutner: Im Vordergrund steht das Naturerlebnis. Sie erleben die Schweiz durch ihre Landschaft und ihre Natur. Hotspots, wie man sie zum Beispiel von den indischen oder chinesischen Touristengruppen kennt, mögen sie weniger. Auch Shopping- oder Kulinariktourismus ist für sie weniger interessant.

 

Welche Unterkünfte werden von religiösen jüdischen Gästen gebucht?
Jonathan Kreutner: Da religiös-jüdische Gäste ihr Leben nach bestimmten Gesetzen ausrichten, bevorzugen sie in der Regel Ferienwohnungen als Unterkunft während ihres Aufenthalts. Dort können sie ihre Lebensregeln, vor allem im Zusammenhang mit dem koscheren Essen, am einfachsten einhalten. Es werden aber auch Hotels gebucht, sofern die Einhaltung der jüdischen Religionsgesetze möglich ist.

 

Worauf achten die Gäste dabei?
Iris Sobol: Religiösen Jüdinnen und Juden ist es in Hotels und Ferienwohnungen  am Sabbat beispielsweise nicht erlaubt, elektrische Geräte, wie zum Beispiel automatische Türen, elektronische Türschlüssel oder Lichtschalter, zu benutzen.

 

Die Herausforderungen für die Gastgebenden liegen also vor allem in der Gestaltung der Unterkunft?
Jonathan Kreutner: Ja, aber nicht nur. Religiöse Jüdinnen und Juden reisen oft in Grossfamilien. Daneben benötigen sie eine bestimme Infrastruktur, zum Beispiel einen Ort, wo sie koschere Lebensmittel einkaufen oder einen Ort, an dem es ein Ritualbald gibt.

Iris Sobol Beratung klein

Ïris Sobol im Gespräch mit jüdischen Gästen in der Schweiz. (Bild: zVg)

Wie sieht es mit Restaurants aus?
Iris Sobol: Diese werden in der Regel von den religiös-jüdischen Gästen nicht besucht. Der Grund liegt bei den strikten Essensgesetzen. Diese sind von Restaurants, die nicht darauf spezialisiert sind, schlicht nicht umsetzbar. Daher ist es für religiöse Jüdinnen und Juden auch essenziell, dass es an ihren Ferienorten Supermarktketten gibt, wo sie sich mit koscherem Lebensmittel und auch allgemein genutzten Lebensmitteln wie Früchte, Gemüse oder Wasser, eindecken können. In der Regel klärt die Reisegemeinschaft vor der Abreise bereits ab, ob die Verpflegung vor Ort möglich ist, und entscheidet dann, ob sie an diesen Ort reist.

 

Die Beherbergung kann Konfliktpotenzial bergen. Wo entstehen am meisten Missverständnisse?
Iris Sobol: Es sind vor allem die visuelle Andersartigkeit und das Aussehen, welche zu vielen Missverständnissen führen können. Die Schweizerinnen und Schweizer, speziell in der ländlichen Gegend, haben mehr Probleme, fremde Kulturen anzunehmen. Die Schweizer Kultur ist ordentlich, pflichtbewusst und legt Wert auf das Einhalten von Regeln, die für andere Kulturen nicht immer verständlich ist. Zudem sind sich Schweizer die Grösse von religiösen jüdischen Familien nicht gewöhnt. Das zeigt sich beispielsweise im öffentlichen Verkehr und Bergbahnen, wenn eine Grossfamilie in einen bereits vollen Bus oder Bergbahn einsteigen will. Diese Konflikte gibt es auch mit einigen anderen Kulturen.

Jonathan Kreutner: Oftmals sind es auch die Regeln, die hierzulande die Menschen vor den Kopf stossen. Viele wissen zwar, was das Judentum ist, kennen aber die Regeln für religiöse Jüdinnen und Juden im Detail nicht. Auf der anderen Seite gibt es jüdische Gäste, welche sich von den gesellschaftlichen Regeln in der Schweiz überfordert fühlen. Ein Beispiel dafür sind die Regeln bei der für uns logischen Abfalltrennung.

 

Wie kann man solchen Missverständnissen vorbeugen?
Jonathan Kreutner: Das beruht auf gegenseitigem Verständnis. Einheimische in Bergregionen tun manchmal sicher gut daran, gegenüber religiösen Jüdinnen und Juden, die vielleicht das erste Mal in der Schweiz sind, toleranter zu sein. Gesellschaftliche Regeln sind für Menschen aus dem Ausland nicht immer intuitiv und schon gar nicht einfach umzusetzen. Bei behördlichen Regeln gibt es weniger Probleme. Verkehrsregeln gelten überall und wer sie nicht einhält, wird überall dafür gebüsst.

 

Haben Sie dennoch Verständnis dafür, wenn es mal zu einem Konflikt kommt?
Iris Sobol: Absolut. Ich kann gut verstehen, dass es ein Berggastronom über die Mittagszeit nicht gerne sieht, wenn sich eine grössere Gruppe religiöser jüdischer Gäste seine Tische blockiert, ihr Picknick essen will und «nur» Getränke bestellt. Während dieser Zeit könnte der Gastronom viele Mittagessen verkaufen und dieser Umsatz würde ihm dann verloren gehen. Deshalb ist ein Vermerk dass eine Essenskonsumation über Mittag auf seiner Terrasse Plicht ist durchaus angebracht. Im Gastrobereich, gerade in den Bergen suchen wir daher stets nach Lösungen und Alternativen.

 

Wie sehen diese aus?
Iris Sobol: Wir suchen beispielsweise regelmässig das Gespräch mit Bergbahnen und Gastronomen und setzen uns für die Schaffung von Picknick-Plätzen in der Nähe von Restaurants ein. An Orten, wo es das schon gibt, bestellen die Gäste die Getränke im Restaurant, essen aber ihr selbst mitgebrachtes Essen am Picknick-Platz. So sind alle glücklich. Das wird von jüdischen Reisegemeinschaften auch immer akzeptiert.

Jonathan Kreutner: Wir haben auch immer wieder mit Gastronomen darüber gesprochen, ein koscheres Glacé ins Sortiment aufzunehmen. Das wirkt attraktiv und generiert auch Umsatz. Wer eine Alternative anbietet, gewinnt am Ende in jedem Fall neue Gäste.

 

Und das wird von den jüdischen Gästen auch akzeptiert?
Jonathan Kreutner: Definitiv. Die Gäste haben kein Problem damit, dass sie über den Mittag nicht im Restaurant bewirtet werden, solange es eine Alternative gibt - beispielsweise in Form von Picknick-Plätzen oder einem koscheren Getränke- oder Essensangebot am Nachmittag. Denn: Sie wissen, dass die Einhaltung der Essensregeln nicht einfach ist und zeigen daher auch Verständnis gegenüber Gastronominnen und Gastronomen.

 

Wie können sich Gastgeberinnen und Gastgeber auf diese Gäste vorbereiten?
Jonathan Kreutner: Einerseits durch Information. HotellerieSuisse und Schweiz Tourismus stellen dafür den Betrieben die Informationsbrochüre «Jüdische Gäste in der Schweiz» heraus. Da finden Gastgeberinnen und Gastgeber detaillierte Informationen in Bezug auf Vorbereitung und Umgang mit jüdischen Gästen, insbesondere mit religiösen Jüdinnen und Juden.

Iris Sobol: Durch ein Einstellen auf die Gäste wie durch Information zu den Bedürfnisse der Gäste, was nicht nur für jüdische Gäste gilt. Auch Gäste aus Asien oder Indien haben sehr spezifische kulinarische Wünsche. Durch gute Vorbereitung und Information kann allen Seiten geholfen und Missverständnisse können vermieden werden. So können Gastgebende durch bereits kleine Anpassungen diese Gäste anziehen und ökonomisch davon profitieren.

 

Ganz verhindern lassen sich Missverständnisse dennoch nicht. Im vergangenen Jahr sorgten Aussagen des Tourismusdirektors in Davos im Zusammenhang mit orthodoxen Juden national für Aufsehen. Inwiefern hat dieser Vorfall der Nachfrage jüdischer Gäste geschadet?
Jonathan Kreutner: Der Reputationsschaden für Davos ist meiner Ansicht nach bei orthodoxen Jüdinnen und Juden kleiner als bei anderen Gästen. Gerade für Gäste, die von einer weltoffenen Destination gewisse Standards erwarten, könnten durch entsprechende Vorkommnisse abgeschreckt worden sein. Für die jüdischen Gäste ist es, plakativ gesagt, ein Vorfall mehr, welcher sich in eine Reihe vieler einreiht.

 

Der Tourismus mit jüdischen Gästen wird sich also durch diesen Vorfall nicht verändern?
Iris Sobol: Nein. Jüdische Gäste werden weiterhin ihre Ferien in Davos verbringen. Das gilt auch für alle anderen Destinationen. Diese Orte sind dafür bekannt, dass sie diesen Gästen ein Angebot bieten können und werden daher auch in Zukunft zahlreiche religiöse Jüdinnen und Juden willkommen heissen dürfen.