Tourismus

Interlakens Boutique-Station

Peter Grunder – 14. März 2018
Der Wandel im alpinen Tourismus bringt Sieger und Verlierer hervor. Habkern erscheint als Verlierer, könnte aber Gewinner werden – mit viel Einsicht und Überwindung.

Am Stammtisch wettert der Handwerker, der fürs Znüni in den ­Alpenblick Habkern gekommen ist: Das werde noch krachen einmal drüben in der Jungfrauregion; ­diese Jungfraubahn, die den Hals nicht vollkriege, und diese Touristenmassen, die Strassen und Bahnen verstopften und drängelten, vor allem die Koreaner. In Habkern hat es keine Touristen, schon gar keine asiatischen: Zwar präsentieren sich die Skipisten am einzigen Skilift noch im März in hervorragendem Zustand, zwar sind es im Stundentakt von Interlaken her mit dem Postauto kaum 20 Minuten zur Talstation. Aber im Alpenblick ist der Handwerker fast allein, und am Lift hat eine Handvoll Schneesportler das Privileg leerer Pisten und leichten Pulverschnees.  Das Bundesamt für Statistik weist für die 630-Seelen-Gemeinde keine Hotelübernachtungen aus. Der Gasthof Bären und das Sporthotel Farenbühl sind immerhin verzeichnet und zurzeit mit 27 verfügbaren Zimmern und 57 Betten ausgewiesen. Die Gemeinde schätzt ihre jährlichen Logiernächte auf 16 000, eingerechnet 4 Massenlager und ungefähr 40 Ferienwohnungen – vor gut einer Generation waren ­einige Ferienhaussiedlungen ­entstanden, in denen namentlich Deutsche ihr Geld versorgten. Landwirtschaft und Tourismus seien «die tragenden Säulen» in Habkern, weiss die Gemeinde: Da sind einerseits zwei Hotels-Restaurants, zwei Restaurants, ein paar Besenbeizen und die nur sporadisch genutzten Ferienlogis – Habkern ist dem Zweitwohnungsgesetz unterstellt. Und da sind andererseits ungefähr 55 Bauernbetriebe mit etwa 1400 Stück Vieh und 6 Alpen mit 20 Senntümern. Der Bauernstand fällt auf: Mit den überall verstreuten kleinen Ställen und Speichern, die häufig ­zerfallen, weil an den schmalen ­Erschliessungsstrassen inzwischen zahlreiche neuere, grosse Ökonomiegebäude stehen. Und mit den alten, währschaften Bauernhäusern. Sie künden von einer Epoche, als Vieh noch viel galt und Milch noch nicht pasteurisiert und gekühlt werden konnte, sondern als Hartkäse auf allen Weltmeeren und in aller Herren Ländern gefragt und gut bezahlt war. Im Geiste scheint man hier und im ganzen ländlichen, nördlichen Alpenbogen immer noch in dieser Epoche zu leben. Sie ist im 19. Jahrhundert zu Ende gegangen, und sie hat in der Schweiz ein weiteres, besonderes Gedenkjahr: 1917, als der Milchbeschluss des Bundesrates den Startschuss zur inzwischen fast totalen Verstaatlichung der Schweizer Landwirtschaft gab. Als seien die Menschen eingeschüchtert von diesen herrlichen Bauernhäusern und beschämt von der heutigen Hoffnungslosigkeit und Ausgeliefertheit der Landwirtschaft, die diese Häuser spiegeln. Als ahnten sie, dass im Tourismus noch viel Leichtsinnigeres ist – und Touristen weit schneller weg sein können als Bauernhäuser und ­Alpen. Man wagt fast nicht hinzuschauen: Der Tourismusverein wurde zwar 1949 gegründet, ist aber seit kurzem in die Gemeindeverwaltung integriert und entsprechend positioniert. Der Veranstaltungskalender Habkerns verdeutlicht es sinnfällig: Weil die Gewerbebetriebe laut Gemeinde nichts mit den ­Veranstaltungen zu tun haben, ­fehlen die Telefonnummern der örtlichen Betriebe. Veronika und Adrian Zurbuchen, die nächstes Jahr auf 30 Jahre Engagement im Restaurant Alpenblick ­zurückblicken werden, bleibt da nur noch Spott: Diese Öffnungszeiten und Telefonnummern nützten ja sehr viel, wenn an den Wochenenden die Gäste kämen und niemand erreichbar sei, schrieben sie der Gemeinde, sie kriegten «sehr viele Reklamationen». Allerdings beklagten sich Zurbuchens nicht nur, sondern machten auch konstruktive Vorschläge. Die touristischen Betriebe könnten Auf­gaben übernehmen, schliesslich sei kaum eine Branche «präsenter als die Gastronomie». Im Gegensatz zur Verwaltung lägen die wöchentlichen «Öffnungszeiten so zwischen 90 und 110 Stunden». Würden die politisch Verantwortlichen in Habkern wirklich hinschauen, sähen sie:

  • eine Gemeinde, die wirtschaftlich nicht aus eigener Kraft existieren kann, sondern wie praktisch der ganze Alpenbogen von Transferleistungen aus den Agglomerationen lebt.
  • eine Landwirtschaft, die der Bauernbürokratie in Bern ausgeliefert ist, aber massgeblich dafür gesorgt hat, dass der landwirtschaftlich-touristische Förder­apparat eines regionalen Naturparkes chancenlos blieb.
  • eine Tourismusbranche, die vom Skilift übers kleine Schwimmbad bis zu den Restaurants nur überlebt dank enormer «Elastizität». So nennen es Ökonomen, wenn man trotz prekärster wirtschaftlicher Bedingungen weitermacht, weil man einfach keine Wahl hat: Zwei Drittel der Hotels und Restaurants schreiben rote Zahlen – nicht in Habkern, in der Schweiz.
Habkern hätte die Wahl: Im Mai 2016 entschied die Gemeindeversammlung, das Gasthaus Bären zu kaufen. Man wolle den Fortbestand und die Entwicklung des Dorfes gewährleisten, argumentierte der Gemeinderat, da gehöre ein «anständiges Wirtshaus im Zentrum dazu». Zwar ist dieses Ziel im Zuge einer Sanierung und des Engagements von Anna Zurbuchen, Enkelin des früheren Bärenwirtes, und ihrem Mann Alexander Weyel erreicht. Aber aus der nötigen Flughöhe schaut Habkern trotz Habicht im Namen und im Wappen keineswegs hin. Das zeigten die Argumentationen des Gemeinderates und die ­Diskussionen der Gemeindeversammlung an jenem Maiabend vor zwei Jahren, und das zeigen die Demontage des Tourismusbüros sowie die Ignoranz gegenüber dem Gastgewerbe und den Gästebedürfnissen. Dabei bräuchte es wenig, um grosse Potenziale zu erschliessen:
  • Sich an Gästebedürfnissen zu orientieren, hat nichts Erniedrigendes. Vielmehr bedeutet Gästeorientierung einerseits ganz grundsätzlich Kundenorientierung und sollte in der Schweiz gerade für öffentliche Verwaltungen selbstverständlich sein. Andererseits und vor allem profitiert von Gästeorientierung auch die Bevölkerung vor Ort. Denn nur was den Gästen und der Bevölkerung gefällt, kann nachhaltig erfolgreich sein.
  • Sich radikal unter das touristische Dach von Interlaken und der Jungfrauregion zu begeben, ist für alle Beteiligten eine riesige Chance: Habkern hat mit seiner intakten Landschaft und Landwirtschaft sowie den Boutique-Pisten im Dorf fürs Alpine und auf der Lombachalp fürs Nordische Trümpfe. Sie bieten als Erweiterung Interlakens genau das, was gerade Gäste aus Fernmärkten suchen und bezahlen. Sie können aber nur stechen, wenn zum einen Habkern entschlossen auf die kaufkräftigen Touristen aus aller Welt zugeht – die Ranger auf der Lombachalp zeigen entsprechende Ansätze. Zum anderen ist auch Interlaken gefragt. Strategische Geschäftsfelder sind dynamisch, Outdoor, Events und Bahnen sind nicht alles – und auf Dauer nicht genug: Es braucht Habkern.