Tourismus

Gäste holen war gestern – Mythen im Destinationsmarketing

Pietro Beritelli und Christian Laesser – 17. Januar 2019
Demnächst wird die Universität St. Gallen erneut das Schweizer ­Jahrbuch für Tourismus veröffentlichen. Nachfolgend von Pietro Beritelli und Christian Laesser ein Auszug als heftiger Gedankenanstoss. Er rüttelt an Grundfesten der Tourismusorganisation.

Gegenwärtige Ansätze im Destinationsmarketing mit dem Ziel, mithilfe von Kommunikation und allenfalls Verkaufsförderung «Gäste zu holen», stehen zunehmend unter Druck. Vieles wird unter dem Titel (Destinations-) «Marketing» derzeit gemacht, weil es alle so machen und daraus gefolgert wird, dass dies Wirkung zeigt. Wir halten dagegen: «Gäste holen» durch Tourismusorganisationen hat noch nie wirklich geklappt und wird in Zukunft noch weniger funktionieren. Der Begriff «Gäste holen» steht umgangssprachlich für die Annahme, dass Tourismusorganisationen aller Art (DMO) vor allem mithilfe von kommunikativen Massnahmen neue oder zusätzliche Gäste für eine Destination gewinnen können. Wir stellen diese grundsätzliche Annahme und einige dazugehörenden Arbeitsweisen – die mitunter wie Prinzipien daherkommen – in einem Beitrag im neuen Jahrbuch der Schweizer Tourismuswirtschaft ernsthaft auf den Prüfstand. Nachstehend ein paar Beispiele und unsere Gegen­argumente in verdichteter Form. 1. Annahme: Destination Branding durch DMOs bringt Gäste in die Destination. Unser Gegenargument: Destinationen und Leistungsträger sind für Gäste Ressourcen, welche sie unterschiedlich nutzen. Aus diesen Unterschieden entstehen komplett unterschiedliche Wahrnehmungen und Positionen. Destinationsmarken von DMOs sind als Logo bestenfalls (Territorial)-Marker und im Sinn von Kommunikationskampagnen vage und austauschbar. Letzteres steht im Widerspruch zum realen Branding. 2. Annahme: Je mehr Kommunikation DMOs betreiben («Grundrauschen»), desto mehr Gäste werden kommen. Unser Gegenargument: DMO-getriebene Kommunikation, um Gäste zu holen, kommt selten bei den (potenziellen) Gästen an, da ein solches kommunikatives Signal letztlich nur eines unter sehr vielen anderen ist. 3. Annahme: Je mehr die DMOs präsent sind («Präsenz zeigen»), desto mehr Gäste werden kommen. Unser Gegenargument: Die DMOs sind dort präsent, wo ihre Geldgeber sind und wo andere DMOs präsent sind, da man ja nicht abwesend sein darf. 4. Annahme: Je mehr Marketing DMOs betreiben, desto mehr Gäste werden kommen. Unser Gegenargument: Die allermeisten «Beweise» dazu sind leider entweder Scheinkorrelationen («spurious correlations») oder im schlimmsten Fall sogar inverse Kausalitäten (vgl. Huhn-Ei-Problematik). 5. Annahme: DMOs holen durch soziale Medien und mithilfe von Influencern neue Gäste. Unser Gegenargument: Entscheidend ist der Sender der Botschaft, nicht der Kanal. Man sollte deshalb lieber Gäste inhaltlich und prozessual zur Kommunikation befähigen, statt selber zu kommunizieren. 6. Annahme: Je höher der Bekanntheitsgrad unserer Destination, desto eher werden Gäste kommen. Deshalb müssen DMOs den Bekanntheitsgrad der Destination erhöhen. Unser Gegenargument: Wir kennen viele Orte auf der Welt meistens nicht aufgrund von Marketingmassnahmen von DMO, entscheiden uns aber für eine Destination nicht aufgrund ihres Bekanntheitsgrades. 7. Annahme: DMOs müssen schauen, dass man von «ihrer» Destination träumt. Die Phase «Inspiration» und «Träumen» sind wichtiger Bestandteil des Entscheidungszyklus von (potenziellen) Gästen. Unser Gegenargument: Wir träumen von vielen Orten und werden nie dort hingehen. Entscheidungen über die Destination werden anders getroffen als für Konsumgüter. Eine Reise ist das Resultat vieler kleiner einzelner Entscheidungen. Man spricht auch von einer Portfolio-Entscheidung. Dafür gibt es nicht wirklich einen Beginn- und Endpunkt; Entscheidungen werden vielmehr fortwährend getroffen, Optionen werden revidiert oder gar annulliert. 8. Annahme: DMOs können mit eigenen digitalen Vertriebskanälen Gäste in die Destination holen. Unser Gegenargument: DMOs verkaufen selber auf digitalen Kanälen weniger als man hofft. Falls ein Gast eine DMO-Webseite besucht, ist es meist nachdem er sich entschieden und teilweise zentrale Leistungselemente auch schon gebucht hat. Auch in Bezug auf das B2B-Geschäft sind die Möglichkeiten beschränkt, da sie bislang keine Durchgriffsmöglichkeiten auf Leistungen und Preise haben, ausser sie übernehmen selber als Incoming Operator unternehmerisches Risiko. 9. Annahme: Man kann die Wirkung von Marketingmassnahmen (Kommunikation) sowieso nicht wirklich messen oder beweisen. Irgendetwas bringt es aber immer. Unser Gegenargument: Wie Gäste zu einem Destinationsentscheid gekommen sind (und auch andere Reiseentscheide), kann sehr wohl rekonstruiert werden. Man muss den Gästen nur die richtige Frage stellen: «Wie kam es dazu, dass …?» 10. Annahme: Neue Strukturen bei DMOs (Zusammenschlüsse, Fusionen etc.) bringen neue Gäste in die Destination. Unser Gegenargument: Reorganisationen und Zusammenschlüsse unter DMOs schaffen bestenfalls betriebliche Kostensenkungen und die Finanzierung von (eigenen) Experten. Organisatorische Grösse kann ebenfalls Grundlage sein, qualifizierten Mitarbeitern berufliche Perspektiven bieten zu können. Grundlegende Herausforderungen der DMOs Die obige – zugegebenermassen etwas polemische – Gegenüberstellung zeigt auf, wo die grundlegende Herausforderung von DMOs liegt. Da sie selber keine touristischen Hauptleistungen anbieten und verkaufen und da sie im Normalfall nicht die wichtigsten Attraktionen betreiben, für welche die Gäste einen Ort aufsuchen, können sie in der Regel auch nicht einfach «Gäste holen». Ausnahmen setzen gerade bei diesem Problem an und zeigen, dass DMOs erst als selbständiger Anbieter, nahe an und zusammen mit Leistungsträgern, einen massgebenden Einfluss auf den Reiseentscheid nehmen können. Konkret findet dies statt, wenn eine DMO beispielweise

  • einen kulturellen oder sportlichen Event weitgehend selber konzipiert, organisiert und durchführt (Event als zeitlich beschränkter, Nachfrage auslösender Attraktionspunkt);
  • eine wichtige touristische Attraktion selber betreibt (zeitlich unbeschränkt; zum Beispiel bedeutendes Museum, Sportzentrum, Schloss);
  • Prozesse für gemeinsame produkt- und angebotsgestalterische Aufgaben übernimmt (Moderation und Unterstützung);
  • als Incoming Operator und damit auf eigenes Risiko Leistungsbündel verkauft (und hierbei die eigenen Leistungsträger nicht, aber andere Veranstalter durchaus konkurrenzieren kann).
Was wir in Zukunft also brauchen, ist also weniger «Marketing-Firlefanz» und dafür mehr Leistung für den Gast und Unterstützung der Leistungsträger. Wir freuen uns auf andere Meinungen und die hieraus hervorgehenden Diskussionen. Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP-HSG) Universität St. Gallen