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Sommelier-Weltmeister Marc Almert: «Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine Krise erlebe»

Reto E. Wild – 11. Dezember 2020
Wie stellt man eine Weinkarte zusammen? Wie verändert ­Corona das Konsumverhalten? Antworten auf diese und ­andere Fragen liefert der 29-jährige Sommelier-Weltmeister Marc Almert vom Restaurant Pavillon im ­Hotel Baur au Lac.

Marc Almert, die Festtage rücken näher. Welche besonderen Tropfen gönnt sich der Chefsommelier des Baur au Lac und von Baur au Lac Vins zu Weihnachten?
Marc Almert: Ein schöner Jahrgangschampagner ist immer dabei, zum Käse einen gereiften Riesling und sonst einen Wein, den ich auf einer Reise kennenlernte, denn Weihnachten ist für mich auch immer ein Moment, das Jahr Revue passieren zu lassen.

Und zum Käse darf ein Süsswein nicht fehlen! 2019 wurden Sie Sommelier-Weltmeister. Wie schafft man das als damals 27-Jähriger?
Mit guter Vorbereitung und viel Glück. Ich hatte mich ein Jahr lang mit Trainings und Reisen und parallel zu meiner Arbeit im Baur au Lac vorbereitet. Dabei profitierte ich davon, dass ich mit dem Sommelier-Schweizer-Meister Aurélien Blanc zusammenarbeite. Er ist bei uns Restaurantleiter. Ich habe Hunderte von Weinen, Spirituosen, Biere und Sake verkostet und wurde durch die Deutsche Sommelier Union stark gefördert.

Worauf achten Sie, wenn Sie eine Weinkarte zusammenstellen?
Sie muss spannend sein, den Geschmack der Gäste widerspiegeln, darf aber auch ein paar Überraschungen aufweisen. Die Versuchung ist gross, Weine auszuwählen, die vor allem einem selbst schmecken. Doch in unserem Beruf dürfen wir nicht vergessen, dass wir für die Gäste arbeiten. Deshalb braucht es zwingend Weine, die der Gast kennt und schätzt oder zumindest die entsprechenden Rebsorten. Denn wenn ein Sommelier nicht gerade vor dem Tisch steht, sollte sich der Gast in der Karte zurechtfinden.

Wie umfangreich ist diese?
Insgesamt haben wir 600 Positionen auf der Karte, bei Baur au Lac Vins sind es circa 3000 verschiedene Weine. Die grosse Karte im Pavillon ist klassisch nach Regionen unterteilt, in der Brasserie Baurs sind es 180 Positionen, die wir moderner nach Geschmack anordnen, etwa «lush and opulent» für kalifornische Weine oder «crisp and lean» auf der anderen Seite des Spektrums.

Was müsste auf den Weinkarten in den Restaurants generell anders sein?
Wenn ich essen gehe, meist mit meiner Lebensgefährtin, trinken wir beide gerne verschiedene Weine, möchten aber den nächsten Tag gut erleben. Deshalb plädiere ich dafür, dass mehr Restaurants den Fokus auf Weine im Halbformat legen und auf Offenausschank. Das haben wir auch bei uns stark ausgebaut.

Welche Kombinationen von Weinen und Speisen gehen nicht, obwohl die öffentliche Meinung gegenteilig ist?
Das sollte man generell nicht zu dogmatisch verstehen; der Geschmack der Gäste ist sehr unterschiedlich. Sehr verbreitet ist der Glaube, dass Käse und Rotwein passen. Es gibt tatsächlich Käse, die mit Rotwein funktionieren, etwa Burgunder zu mildem Käse. Aber ein Blauschimmelkäse lässt einen Bordeaux schnell bitter werden. Für viele Käsesorten eignen sich Süssweine als Begleitung viel besser. Wenn man nicht auf Süsswein anspricht, ziehe ich Weissweine als Käsebegleitung Rotweinen vor.

Dessertweine sind total out. Wieso eigentlich?
Der hohe Alkoholgehalt hat viele Gäste abgeschreckt. Zudem sind klassische Kombinationen wie Foie gras oder mastige Desserts aufgrund des Gewichtbewusstseins nicht mehr so beliebt. Wenn die Weine dann aber im Menü vorkommen, werden sie von den Gästen wahnsinnig gerne getrunken. Man muss also wagen, die Süssweine von Sauternes über Riesling bis zum Sherry oder Port anzubieten. Sie finden kaum andere gereifte Weine, die so günstig zu haben sind.

Was sollten Gastgeber ausprobieren?
Schaumwein zum Essen! Damit meine ich nicht nur Champagner, sondern auch Franciacorta, Cava oder Sekt, die ein komplettes Menü begleiten und mehr als nur ein Aperitifgetränk sind. Viele glauben auch, dass man nur reife Weine dekantieren soll. Tatsächlich aber würden viele junge Weine davon profitieren, wenn man sie kurz in der Karaffe lässt.

Und was ist beim Umgang mit den Gästen besonders wichtig?
Bei einem Sommelier verhält es sich ähnlich wie bei einem Barkeeper: Wir haben nur einen kurzen Moment, um einzuschätzen, wer vor mir sitzt und weshalb. Wenn ein Mann mit seiner Frau den Hochzeitstag feiert, möchte er etwas anderes bestellen, als wenn er mit einem Geschäftspartner essen geht. Dann ist eher etwas Traditionelles angesagt, bei dem er weiss, was er bekommt. Wichtig ist, mit wenigen Fragen herauszufinden, was die Vorlieben des Gastes sind.

Welche Fragen stellen Sie?
Am schnellsten geht es, wenn Sie über Regionen und Rebsorten sprechen. Wenn jemand sagt, Pinot könne er nicht ausstehen, er sei aber ein Bordeaux-Liebhaber, hilft das beiden Seiten am meisten. Dann folgen Fragen, ob der Gast eher fruchtigere oder kräftigere Weine mit viel oder wenig Tanninen mag.

Wie hat sich der Geschmack der Gäste in den letzten Jahren verändert?
Wir spüren eine nachhaltige Nachfrage nach Bioweinen. Im Sommer war auf unserer Terrasse der Rosé einer der drei meistverkauften Weine. Und zu Coronazeiten ziehen unsere Kunden einheimische oder zumindest europäische Weine vor. Im Pavillon haben wir seit drei Jahren zwei verschiedene Weinbegleitungen: aus der Schweiz und international. Die Schweizer Weinbegleitung wurde früher fast nur von ausländischen Gästen bestellt, jetzt vermehrt von Einheimischen.

Sie sprechen Corona an. Was hat Covid-19 mit Ihrem Beruf gemacht?
Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Berufsleben so eine massive Krise erlebe. Wir hoffen und bangen, dass wir bald wieder internationale Touristen begrüssen dürfen; die Stadthotellerie wurde hart getroffen. Deshalb hatten wir das Pavillon ein halbes Jahr lang geschlossen. Hätte mir im Januar 2020 jemand erzählt, dass wir in unserem Park im Sommer statt den üblichen Hochzeiten Popcorn verkaufen, hätte ich ihn ausgelacht. Aber genau das ist mit unserem Open-Air-Kino passiert. Das Schöne in der Gastronomie ist, dass wir in jeder Lage kreativ sind. Nur dieses Jahr müssen wir besonders kreativ werden, weil so viele ihre Feiern abgesagt haben und wir nur noch maximal vier Personen pro Tisch verwöhnen dürfen.

In der Romandie öffnen die Restaurants erst am 10. Dezember wieder.
Ja. Wir sind dankbar, dass die Gastronomie in der Deutschschweiz offen sein darf. Gerade am Wochenende ist unsere Auslastung gut. Die Gäste schätzen das Angebot und sind motiviert, auch hochpreisige Weine und Speisen zu geniessen. Unser Beruf ist eben auch wichtig für die Gesellschaft. Neue Geschäftskontakte möchte man ja nicht unbedingt privat nach Hause einladen.

Wie reagieren gesetztere Gäste, wenn sie von einem 29-jährigen Sommelier bedient werden?
Als ich 22 Jahre alt war, war das sehr interessant. Inzwischen sorgt das nur noch im ersten Moment für einen Überraschungseffekt. Das Schöne ist ja, dass Wein ein positiv besetztes Thema ist. Und wenn die Gäste sehen, dass da jemand vor ihnen steht, der viel Leidenschaft vermittelt, dann passt das. Welche Weine trinken Sie privat?
Mein faszinierender Beruf bringt es mit sich, dass ich mich mit neuen Stilen und Trends auseinandersetzen darf. Andererseits ist es so, dass mir manche Weine ans Herzen gewachsen sind: Ein Riesling ist häufig in meinem Kühlschrank zu finden. Als Weinland finde ich Südafrika sehr spannend, weil es sich im Aufbruch befindet. Das Preis-Genussverhältnis präsentiert sich sehr attraktiv. Bei den Rebsorten begeistern mich am meisten Chenin Blanc, bei den Roten Syrah. Den schätze ich von der Schweiz bis zum Rhônetal und eben auch in Südafrika.

Welche Rebsorten werden noch immer unterschätzt?
In der Schweiz wird mit deutschem Wein meist Riesling oder Spätburgunder verbunden. Doch es gibt im nördlichen Kanton auch hervorragende Silvaner, Weiss- oder Grauburgunder. Auch in Portugal oder Griechenland existieren bei uns kaum bekannte Rebsorten, die hervorragende und erschwingliche Weine hervorbringen. Ich rufe dazu auf, neue Rebsorten zu probieren und so automatisch Zugang zu neuen Regionen zu erhalten.

Wie viele Flaschen lagern in Ihrem Keller?
Einige Hundert. Ich habe schon länger nicht mehr gezählt.

Chefsommelier statt Physiker

Der in Zürich wohnhafte Marc Almert (29) wurde 2019 Sommelier-Weltmeister der «Association de la Sommellerie Internationale» und setzte sich gegen 65 Kandidaten durch. Seit 2017 ist er für das Restaurant Pavillon des ­Zürcher Traditionshotels Baur au Lac sowie die angeschlossene Weinhandlung Baur au Lac Vins als Chefsommelier verantwortlich. Ursprünglich wollte der gebürtige Kölner Physiker werden, machte bereits mit 16 Jahren sein Abitur und entdeckte dann aber die Hotellerie. Im Excelsior Hotel Ernst in Köln absolvierte er eine Hotelfachausbildung. Während dieser Zeit kam der damals 18-Jährige erstmals mit Wein und Spirituosen in Kontakt. Es folgten F&B-Stationen in Luxushotels in ganz Deutschland.