«Wir müssen von den Vorurteilen wegkommen»

Reto E. Wild – 17. Juni 2021
Der Fachkräftemangel hat sich durch die bundesrätlichen Massnahmen gegen das Coronavirus verschärft. Doch Beispiele aus der Branche und Initiativen zeigen, dass es durchaus Gründe für einen verhaltenen Optimismus gibt.

Bruno Lustenberger nennt es eine «absolute Katastrophe», wenn er auf den Fachkräftemangel angesprochen wird. Der Präsident von GastroAargau und der Schweizer Bildungskommission von GastroSuisse erklärt: «In der Branche leiden wir schon länger unter dem Fachkräftemangel. Nun kommt hinzu, dass wir viele Fachkräfte verlieren, weil die Betriebe diese in die Kurzarbeit geschickt haben oder ihnen kündigen mussten. Diese Angestellten arbeiten heute nicht mehr als Koch, sondern in anderen Berufen. Das ist alarmierend.» Spitzenkoch Thomas Bissegger spricht sogar von einem «Desaster». Qualifiziertes Personal zu finden, sei in der Branche schon immer schwierig gewesen. Nun erhalte er auf Instagram Nachrichten von Betrieben, die teilweise verzweifelt nach Fachkräften suchen.

Diese Suche nach Mitarbeitenden gestaltet sich oft schwierig. Im Dolder Grand oberhalb von Zürich sind gut 30 Stellen offen, im Storchen in der Zürcher Altstadt sind es halb so viel. In ländlichen Gebieten ist das Problem noch gravierender: Jeannine und Raphael Wey führen den Gildebetrieb Gasthaus Engel in Sachseln OW mit acht Mitarbeitenden, inklusive zwei Kochlernenden, in zweiter Generation. Sie suchen seit Wochen nach Verstärkung im Service, haben Inserate in den regionalen Zeitungen von Obwalden bis Luzern, auf der GastroObwalden- und Gilde-Webseite und in sämtlichen sozialen Medien geschaltet.

«Trotz grossem Aufwand haben wir nur acht Bewerbungen bekommen, die nicht dem entsprechen, was zu unserem Betrieb und Team passt», sagt Jeannine Wey. «Demgegenüber stehen 40 000 Arbeitslose in der Gastronomie. Bestimmt haben sich manche während der Coronakrise umorientiert. Aber bestimmt nicht alle 40 000!» Wey hat keine Erklärung, warum es so harzt. «Es ist doch ein cooler Job!» Der Engel ist ein angesehener Betrieb mit freundlichem Service; Chef Raphael Wey kocht auf 14 Gault-Millau-Punkten. Zum Glück können sie auf langjährige Mitarbeitende zählen, die sich danach gesehnt haben, wieder arbeiten zu dürfen und die sie dank Kurzarbeit auch weiterbeschäftigen konnten.

«Erwartungen an Bewerber anpassen»

Die zwei Lockdowns hat Familie Wey dank ihren Hotelzimmern, dem Take-away und den Entschädigungen überstanden. «Aber nun kommen die Gäste wieder und wollen es bei uns geniessen», führt Wey aus. Vergangene Woche lief das Engel-Team bezüglich Kapazitäten am Anschlag. Wie werden sie nun das Problem lösen? «Die einzige Alternative ist, unsere Erwartungen an die Bewerber anzupassen», sagt Wey. «Dies braucht ein Umdenken von uns, sonst kommen wir nicht ans Ziel.»

Die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften gestaltet sich in den Nachbarländern ähnlich schwierig: Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) klagt darüber, dass sich der Fachkräftemangel durch die Krise weiter verstärken dürfte. Während der Pandemie sind den Wirten und Hoteliers in Deutschland laut Dehoga über 325 000 Mitarbeitende abhandengekommen.
Doch es gibt positive Beispiele von Unternehmen, in denen der Fachkräftemangel kein Thema ist. Toni Curdin Foppa (25) führt in der Churer Altstadt mit dem Da Noi (Edelitaliener mit 13 Gault-Millau-Punkten, Küchenchef Eduardo da Silva strebt den 14. Punkt an), dem Süsswinkel (moderne Brasserie, 12 Gault-Millau-Punkte) und dem Nayan (Sushi und Teppan­yaki) gleich drei Betriebe mit insgesamt 35 Arbeitsplätzen in der Küche und im Service – inklusive Aushilfen. Und so nebenbei hat der Jungunternehmer im Sommer 2020 Foppa Catering lanciert und dabei während des Lockdowns für die beste Pizza in Chur gesorgt mit teilweise über 100 Bestellungen pro Tag.

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Jeannine (r.) und Raphael Wey führen den Gildebetrieb Gasthaus Engel in Sachseln OW. (Bild: GastroJournal)

2015 erhielt Foppa von seinem Grossvater einen Erbvorbezug, kaufte so mit 19 Jahren ein Taxiunternehmen in Chur, fiel dabei auch auf die Nase, weil er für die veralteten Autos zu viel bezahlte. 2018 verkaufte er das Unternehmen und realisierte mit dem Da Noi seinen Traum vom eigenen Restaurant, was seine Eltern – die in der Immobilienbranche arbeiten – letztlich aus der Zeitung erfuhren. Bereits im ersten Jahr erreichte er mit seinem damals kleinen Team die 13 Gault-Millau-Punkte. «Ich habe gelernt, was Gastronomie wirklich ist.»

Diesen Oktober folgt mit dem Gourmetlokal Basilik hoch über Chur das vierte Restaurant, das der 25-jährige ausgebildete Koch (Lehre im Hotel Stern) verantwortet. Auf der Basilik-Lohnliste figuriert Koch Marc Zickler, der bei Andreas Caminada arbeitete und für eine schnörkellose, hochstehende Küche sorgen möchte. Wieso steht die Eröffnung erst im Herbst an? Der Gastgeber sagt, er wolle den Ball flach halten und schauen, wie sich die Pandemie entwickle. Mit zusätzlichem Personal und den Umbauten habe er schon hohe Kosten.

Toni Curdin Foppa muss für seine Restaurants jedoch nicht nach Fachkräften suchen. «Ich zahle klar mehr als den Mindestlohn. Ein Kellner verdient bei mir monatlich 5200 Franken. Aber ich erwarte auch mehr als Mindestarbeit», begründet er. Für die Arbeitsplätze in der Küche verfolge er das gleiche Rezept: Gute Arbeit soll gut bezahlt werden. Gleichzeitig sei ihm die Kundenzufriedenheit «brutal» wichtig. «Meine Mitarbeitenden wollen arbeiten und den Kunden ein Erlebnis bieten»..Win-Win-Win für den Unternehmer, die Angestellten und den Gast.

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«Ich will nicht einfach jemanden einstellen, sondern Menschen, die mit uns den Weg gemeinsam gehen, vom Unternehmen und vom Konzept begeistert sind und es dann verwirklichen», sagt Toni Foppa. (Bild: GastroJournal)

100 Prozent Lohn und 100 Franken Trinkgeld pro Monat

Foppa wiederum, den einige als Michel Péclard von Chur bezeichnen, hat während des Lockdowns niemanden entlassen, obwohl das Basilik derzeit noch geschlossen ist. Deshalb hilft das Basilik-Personal in den anderen Betrieben aus. Das sorge für eine «coole Mischung». Als die Restaurants nach dem Bundesratsbeschluss schweizweit geschlossen werden mussten, hat Foppa seinen Angestellten trotzdem zu 100 Prozent den Lohn bezahlt. Mehr noch: Sie erhielten zusätzlich monatlich 100 Franken Trinkgeld. «Ich habe auf meinen Lohn komplett verzichtet und in die Mitarbeitenden investiert», sagt der Churer. Letztlich habe er während der Pandemie den Durchbruch geschafft. Gleichzeitig hält er sich nicht mit Kritik zurück: «Die Politik hätte die Angestellten in der Kurzarbeit mit 100 Prozent und nicht nur mit 80 Prozent entschädigen sollen. Das ist ein Versagen der Schweizer Politik. Deshalb haben wir nun in der Branche ein Problem.»

Der Jungmanager, der täglich um 7 Uhr aufsteht und den Morgenkaffee oft im eigenen Restaurant Da Noi geniesst, ist praktisch ausnahmslos von älteren Angestellten umgeben. Er bezeichnet sich selbst als fordernden und etwas verrückten Chef, der aber auch mal auf dem Posten kochen geht. Toni Curdin Foppa erklärt: «Ich will nicht einfach jemanden einstellen, sondern Menschen, die mit uns den Weg gemeinsam gehen, vom Unternehmen und vom Konzept begeistert sind und es dann verwirklichen.» Diese Philosophie passe nicht allen, räumt er ein. Eine Person habe gekündigt und begründet, es sei ihr zu dynamisch. «Es ist nicht für jeden, spontan abends um 22 Uhr gemeinsam Châteaubriand zuzubereiten und nachher zu geniessen», sagt Foppa. Letzthin dauerte das Catering bis 2.30 Uhr morgens und am nächsten Tag seien sämtliche Angestellte wieder um 9 Uhr bereitgestanden. Er habe in jener Nacht persönlich für alle Spaghetti zubereitet. Teamspirit sei ihm enorm wichtig. Und so reiste die gesamte Belegschaft auf seine Kosten zwei Tage nach Locarno und Ascona. «Locker am Pool lernt man sich besser kennen», begründet Foppa.

In seinen Betrieben bildet er zwei Lernende aus, ein dritter Teenager arbeitet zur Probe. «Köche sind eine aussterbende Rasse. Wir müssen jetzt in die Zukunft investieren», betont der Gastgeber. Er schlägt Plakatkampagnen für die Suche von Lernenden vor und weiss, dass der Fachkräftemangel auf zu wenig Auszubildenden fusst. Klar seien die Arbeitszeiten für Junge nicht attraktiv, wenn diese abends in den Ausgang gehen möchten. «Aber wir müssen von den Vorurteilen wegkommen und auch die spannenden Facetten des Berufs aufzeigen.» Sie hätten beispielsweise Tomahawk-Steaks mit Trüffelbutter im Angebot. Da sei es eben entscheidend, dass der Service Freude an den Gerichten habe, die er zum Gast bringt. «Die Jungen möchten ernst genommen werden», sagt Foppa. Es hört sich an, als ob er selbst schon seit 20 Jahren in der Branche arbeiten würde.

Bis 50 Prozent weniger Lernende

Der Verband hat die Problematik mit dem Fachkräftemangel und den zu wenigen Nachwuchskräften, die eine Lehre in der Branche absolvieren möchten, schon länger erkannt und immer wieder Gegensteuer gegeben. Der Trend ist nicht neu. Das zeigt die Grafik auf Seite 12. Doch nun ist der Handlungsbedarf grösser denn je, wie Richard Decurtins, interimistischer Leiter Berufsbildung bei GastroSuisse, einräumt: «Derzeit befindet sich die Zahl der Lehrvertragsabschlüsse in den Kantonen 30 bis 50 Prozent unter dem Vorjahr. Wir versuchen nun alle Zielgruppen, Lehrbetriebe, Schüler, Eltern und Schulhäuser mit den Lehrpersonen aktiv zu kontaktieren, um die Maschinerie in Gang zu bringen, die quasi fünf Monate stillgestanden ist.» Mit ein Grund für den dramatischen Rückgang: Jugendliche wollten schnuppern, doch mit Ausnahme von Altersheimen oder Spitälern war dies als Folge der Coronamassnahmen praktisch unmöglich. Eine der Sofortmassnahmen: In diesem Ausnahmejahr ist es erlaubt, Lehrverträge statt wie üblich bis im August bis im Oktober zu unterschreiben. Auf www.berufehotelgastro.ch wurde eine Schnupper- und Lehrstellenbörse lanciert – mit dem Aufruf: «Bilden Sie die Profis von Morgen aus – auch in Zukunft sind wir auf Fachkräfte angewiesen.»

Im Hinblick auf die Rekrutierungsjahre 2022/2023 starten GastroSuisse und HotellerieSuisse diesen Herbst, mit finanzieller Unterstützung vom SBFI, eine nationale Kampagne mit Berufserkundungstagen für Schulklassen. Am Montag und Dienstag sollen die Betriebe ihre Türen für die Schülerinnen und Schüler öffnen, am dritten sowie an weiteren Tagen können die Jugendlichen schnuppern. Derzeit sei man daran, so Decurtins, ein Datum zu finden, das der Deutsch- und Westschweiz sowie dem Kanton Tessin passt. Und so bleibt die Hoffnung, dass aus dieser Offensive leidenschaftliche Unternehmer wie Toni Curdin Foppa hervorgehen.