Gastronomie

«Wir müssen Verantwortung übernehmen»

– 01. Juli 2021
Die Netflix-Doku Seaspiracy zeigt, wie verheerend der ­Verzehr von Meeresfisch und Seafood ist. Doch die hiesige Gastronomie scheint sich noch nicht verändern zu wollen. Ein Gespräch mit Vegan-Koch Tobias Hoesli und ­Sushi-Betreiber Amit Shama.

Amit Shama, Tobias Hoesli, Sie beide haben «Seaspiracy» gesehen. Was haben Sie im Film erfahren, das Sie noch nicht wussten?
Tobias Hoesli: Der Grundthematik war ich mir bewusst. Was mich schockierte, war die Geschichte rund um die Labels. Das wohl jedes Label befangen ist und von einer Interessensgruppe finanziert wird. Ein schlechter Scherz. Es sind keine unabhängigen Labels, sie werden kaum kontrolliert, sie bringen dem Gastronom oder Konsument keine Transparenz.
Amit Shama: Das schockierte mich nicht, das weiss ich schon seit Jahren. Labels sind nur Marken, die uns eine Sicherheit vorgaukeln. Wie das Tragen einer bekannten Kleidermarke. Aber ich spürte schon immer, dass es bei diesen Labels nur ums Geschäft geht, nicht aber um Fairness und Transparenz. Was mich hingegen erstaunte, war die Menge an Beifang, die beim Fischen aus dem Meer gezogen wird. Damit wir einen bestimmten Fisch auf den Teller bekommen, werden noch zwei, drei andere Fische mit dem Riesennetz gefischt. Diese Netze zerstören dazu noch Korallen. So krass habe ich mir das nicht vorgestellt.
Hoesli: Ja, das ist erschreckend. Ich erinnere mich, dass wir das Thema zwar in der Schule bei der Warenkunde kurz anschnitten, aber diese Dimensionen vermittelte man uns damals nicht. Ich glaube, im Unterricht hiess es, der Beifang werde zurück ins Meer gekippt. Das ist laut Seaspiracy unwahr.

Als Gastrounternehmer dachten Sie, nachdem Sie sich ­Seaspiracy angesehen hatten, gewiss auch an Ihr eigenes Geschäft.
Shama: Klar tut man dies. Aber meine Botschaft bleibt die gleiche wie bereits davor: Weniger ist mehr. Wenn wir Fisch und Fleisch konsumieren, dann weniger und von guter Qualität.

Aber Sie schicken doch keinen Gast weg, weil er in der gleichen Woche schon drei Mal bei Ihnen Sushi gegessen hat.
Shama: Nein, ich bin Gastgeber und nicht Gast-nach-Hause-Schicker. Was wir aber tun: Wir bieten unseren Gästen eine Alternative. Wir haben eine vegane und vegetarische Menükarte und legen Wert darauf, dass auch jene Gerichte attraktiv sind, sodass auch der klassische Sushi-Gast hie und da Lust auf ein solches Gericht kriegt.
Hoesli: Mich bestätigte der Film in meiner Wertehaltung und in meinem Konzept. Wir leben in einer übermässigen Konsumgesellschaft. Wir konsumieren zu viel vom Falschen. Das beginnt bei den Kleidern und geht auf dem Teller weiter. In unserem Restaurant Marktküche in Zürich sind wir sehr regional und ohne tierische Produkte unterwegs und zeigen Gästen, wie toll das schmeckt. Das Restaurant gibt es mittlerweile sieben Jahre, 80 Prozent unserer Gäste sind Allesesser. Zu Beginn waren es mindestens 80 Prozent Vegetarier.

Amit Shama, gibt es seit Seaspiracy Gäste, die unbequeme Fragen stellen?
Shama: Ich werde mit allfälligen Fragen nicht konfrontiert, ich weiss es nicht. Und eben: Vegane Alternativen gab es bei uns schon immer. Wir werden aber demnächst unsere Mitarbeiter noch genauer über die Herkunft unserer Produkte schulen.

Die Herkunft ist Ihnen wichtig. Sie kennen auch die eine oder andere Zucht, von der Sie Fisch beziehen. Geht es da besser zu und her als im Film dargestellt?
Shama: Es gibt ein Label, dem ich vertraue: Freedom Food, eine Non-Profit-Organisation, die auf das Produkt, Produktion und Transport achtet. Unser Lachs trägt dieses Label. Übrigens: Was im Film bezüglich der Farbe des Lachses berichtet wird, stimmt so nicht. Der Wildlachs ist tatsächlich orange und nicht grau, wie Seaspiracy berichtet. Dieser Farbe kann man vertrauen, sie ist nicht künstlich. Ich möchte noch etwas anderes anmerken.

Bitte sehr.
Shama: Ich predige die Ausgewogenheit. Wenn wir alle täglich Avocado konsumieren, schadet dies der Umwelt auch. Oder Reis oder ein Gemüse. Der Schlüssel liegt in der Balance.
Hoesli: Jein. Meine Botschaft ist eher: Weg von der Globalisierung, zurück zur Regionalität. Wir sind ein Binnenland ohne Meeranschluss und konsumieren wahnsinnig viel aus dem Meer. Das ist sinnlos. Auch Avocados von weit her einzuschiffen, ist falsch. Wir Gastronomen müssen Verantwortung übernehmen. Man hört oft: «Ja, aber unsere Gäste fragen danach.» Das ist eine Ausrede. Es gibt hierzulande genügend spannende Alternativen.
Shama: Ich bin einverstanden, wir müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen Trends setzen.
Hoesli: Als ich vor sieben Jahren begann, sagte der Vorsteher einer Branchenvereinigung, mein Restaurantkonzept sei überflüssig. Ein Fleischesser werde nie ein veganes Restaurant besuchen. Ich beweise seit Jahren das Gegenteil. Wir haben eine neue Nachfrage erschaffen.
Shama: Tobias, glaubst du nicht, dass wir lokale Produzenten überfordern, wenn wir nun alle beispielsweise Kohlrabi aus der Region wollen? Ist nicht die Balance zwischen Schweizer und ausländischem Gemüse die Lösung?
Hoesli: Ich bin realistisch. Die totale Regionalität wird nie funktionieren. Aber wir sollten einen vernünftigeren Weg einschlagen. Jeder kann Produzenten besuchen oder sie auf dem Markt nach Produkten, Saisons und Labels fragen. Aber kaum einer tut es. Viele haben den Bezug zu den Produzenten verloren.

Tobias Hoesli, mit Ihrem veganen Gourmetlokal fallen Sie auf. Geht vegan oder vegetarisch auch simpel? Eine Pizzeria, die ohne tierische Produkte arbeitet? Eine Landbeiz, die kein Fleisch oder Fisch anbietet? Das gibt es noch kaum.
Hoesli: Ja, sicher. Wir waren zu Beginn auch nur ein besseres Bistro. Das funktioniert, siehe Hiltl.
Shama: Das wird kommen, aber vielleicht nicht unmittelbar nach der Coronakrise. Die Gastronomie schlägt sich gerade noch mit anderen Problemen herum. Zudem ist nicht jeder Gastronom ein Visionär. Solche Entscheide kann nicht jeder fällen. Als Gastronom geht man ohnehin ein finanzielles Risiko ein. Wer dann noch einen solchen Pfad einschlägt, vergrössert das Risiko zusätzlich.

Ist das Risiko denn so hoch? Wäre es – vielleicht erst mal in einer urbanen Umgebung – nicht sogar eine Chance, als Restaurant mit Alleinstellungsmerkmal durchzustarten?
Hoesli: Ich machte mich mit 24 Jahren selbstständig. Ich glaube, ich tat das nur, weil ich nicht wusste, was da alles auf mich zukommt. Diese Naivität wurde zum Glücksfall. Es hätte auch in die Hose gehen können. Für ein gutes, neues Konzept hat es aber immer Platz, davon bin ich überzeugt. Da ist das Risiko zu scheitern grösser, wenn man in Zürich eine Pizzeria eröffnet. Pizza-Betriebe gibt es schon genug. Grundvoraussetzung ist natürlich unternehmerisches Wissen.
Shama: Seaspiracy in Ehren, aber letztlich ist das nur ein einziger Film. Ich glaube nicht, dass er gesellschaftlich sehr viel bewegt. Corona hat viel mehr Wirkung. Die Pandemie könnte die Rückkehr zum bewussten Konsumieren eher vorantreiben. Ich zweifle allerdings noch an der nachhaltigen Wirkung. Etwas wird hängen bleiben – von Corona, von Seaspiracy. Wie viel? Ich weiss es nicht.
Hoesli: Tausende haben sich Seaspiracy angesehen. Jeder und jede Einzelne wird sich da doch mal fragen: «Will ich etwas dazu beitragen, damit auch unsere direkten Nachfahren noch ein Meer haben, in dem irgendetwas lebt?». Ich finde das Essen von Meeresfisch und Seafood viel schlimmer als jenes von Fleisch.

Weshalb?
Hoesli: Ich will es nicht verharmlosen, aber die meisten Tiere werden bewusst dafür gezüchtet, damit der Mensch sie essen kann. Beim Meer aber zerstören wir ein gesamtes Ökosystem. Letztlich zerstören wir damit die Welt. Ich habe keine Lust, dereinst auf dem Mars leben zu müssen, mir gefällt es auf der Erde relativ gut.

Tobias Hoesli, im Klartext: Ist der Verzehr von Meeresfisch und Seafood für Sie – allenfalls in reduzierten Mengen – noch vertretbar oder nicht?
Hoesli: Wenn nur ein Teil des Films wahr ist, und ziemlich sicher stimmt das Meiste, dürfen wir nichts mehr aus dem Meer konsumieren. Mir ist aber auch klar: Die meisten Menschen sind nicht konsequent. Deshalb wäre eine deutliche Reduktion schon mal ein wichtiger Schritt. Für mich persönlich gibt es jedoch keine Legitimation mehr, Meeresfisch zu konsumieren.
Shama: Ich bleibe dabei: Die Balance macht es aus. Und übrigens gilt es auch bei Seefischen wie dem Egli auf die Herkunft zu achten. Manche Schweizer Seen haben keinen Egli mehr. Oft isst man hier polnischen Egli.

Sind Sie nicht verblüfft, dass Seaspiracy bisher kaum Wirkung in der Schweizer Gastronomie erzielte?
Hoesli: Ich glaube, das ist, wie wenn man einen Horrorfilm schaut. Man findet den Film zwar gut, will ihn nachher aber möglichst rasch verdrängen, um nicht in Panik zu geraten, und schaut sich dafür eine Komödie an. Jeder weiss, dass es falsch ist, aber nur die Allerwenigsten möchten sich tiefer mit der Thematik befassen und sind bereit, sich zu ändern.

Amit Shama, machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihr Sushi-Konzept in ein paar Jahren ausgedient haben könnte?
Shama: Nein, ich kann mich stets anpassen und versuche, dem Trend voraus zu sein. Veganes Sushi, Nose to Tail – das ist bei Kai Sushi nichts Neues. Bei uns im Restaurant durfte man schon nicht rauchen, als es noch lange kein Rauchverbot gab.

Apropos Rauchverbot: Bräuchte es gesetzliche Vorgaben rund um das Thema Meeresfisch in der Gastronomie?
Shama: Ja, wieso eigentlich nicht? Wenn das dazu beiträgt, dass wir das, was auf den Teller kommt, wieder mehr schätzen, fände ich es sinnvoll.
Hoesli: Ich bin einverstanden. Gesetze könnten dazu führen, dass allen wieder bewusster wird, dass ein Lebewesen sterben musste, damit wir es essen können.