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Wie gewinnt man den Kampf gegen Personalnot?

Benny Epstein – 26. September 2019
Der Fachkräftemangel in der Hotellerie und Gastronomie ist akut, das Image der Branche schlecht. Francesco Benvenuto und weitere Branchengrössen suchen nach Lösungen.

Zwar nicht von A bis Z, aber immerhin von A wie Assistant Front Office Manager bis S wie stellvertretender Restaurantleiter – 40 Stellen sind derzeit alleine auf der Website des Resorts Ragaz ausgeschrieben. «Die Suche nach geeignetem Personal ist gerade in der Hotellerie und Gastronomie auch für uns komplexer geworden», sagt Geschäftsführer Patrick Vogler. «Am schwierigsten zu besetzen sind die Stellen in der Küche.» Immerhin sei das Resort in der vermeintlich komfortablen Lage, insgesamt über 800 Mitarbeitende im Unternehmen zu wissen. «Das macht es uns möglich, dass wir kurzfristige Engpässe durch interne Verschiebungen auffangen können.» Man arbeite aber auch vermehrt mit Aushilfen, Temporärangestellten und Praktikanten aus Hotelfachschulen zusammen. Das Fünfsternehotel in Bad Ragaz SG ist nur ein Beispiel für ganz viele in der Schweiz: Der Fachkräftemangel beschäftigt die Branche stark. Lehrstellen, die unbesetzt bleiben, Talente, die sich frühzeitig aus der Branche verabschieden, Hotelfachschulabsolventen, die nach dem Schulabschluss den Weg in branchenfremde Berufe suchen. Vogler: «Junge Leute, die sich für einen Lehrberuf in der anspruchsvollen und strengen Hotellerie oder Gastronomie interessieren und sich für eine entsprechende Ausbildung entscheiden, werden leider immer weniger.» Lorenzo Schmiedke, Projektleiter Wirtschaftspolitik bei HotellerieSuisse, präsentierte die Zahlen der Branche anlässlich des Swiss Innovation Day: «Es werden heute 20 Prozent weniger Lehrverträge abgeschlossen als noch vor zehn Jahren.» Zudem verlassen jährlich 9000 Personen das Gastgewerbe. In den letzten Jahren wurden ein Drittel der Lehrverträge während der Ausbildung aufgelöst. Das sind zehn Prozent mehr als der Durchschnitt aller Branchen. «Ich finde kein Servicepersonal mehr»
Die Gründe sind bekannt: tiefe Löhne, schwierige Arbeitszeiten, Stress, teils mieses Arbeitsklima. Das Image des Gewerbes verleitet viele Eltern dazu, ihren Kindern von einer Lehre im Restaurant oder im Hotel abzuraten. Die schlechte Erfahrung eines Gastgewerblers beeinflusst also nicht nur seine eigene Berufswahl, sondern auch die von anderen Personen in dessen Umfeld. Hinzu kommt, dass die heutige Jugend anders tickt: Ihre Welt ist digital, der Wunsch nach Selbstverwirklichung kommt viel früher auf, der Umgang mit Führungspersonen hat sich verändert. Diesen August musste Stefan Wiesner kapitulieren. Der «Hexer aus dem Entlebuch» führt das Rössli in Escholzmatt LU. Sein Glück: Für seine Naturküche ist er so berühmt, dass sich laufend neue Köche bewerben. Anders sieht es aber im Service aus. «Ich finde kein Servicepersonal mehr», klagt Wiesner. «Kein Junger will aufs Land hinaus, um da Gäste zu bedienen.» Während das Gourmetrestaurant wie bis anhin weitergeführt wird, musste der Sternekoch den Bistrobereich schliessen. «Da können Gäste nur noch auf Vorbestellung essen, und dann servieren die Köche.» Das mag spannend klingen, doch beeinträchtigt es die Arbeit in der Küche. Zudem ist nicht jeder Koch für den Service geeignet. Service soll sich als Mitspieler verstehen, nicht als Diener
Aufgrund ausbleibender Bewerbungen half im Zürcher Zweisterne-Restaurant Ecco im Hotel Atlantis by Giardino zuletzt eine Thailänderin im Service aus. Dass sich anfangs ein Gast über die fehlenden Deutschkenntnisse beschwerte, macht Küchenchef Stefan Heilemann nichts aus. Er stellt sich vor seine Servicemitarbeiterin: «Sie macht einen tollen Job. Klar hat sie sprachlich einen Nachteil, aber den macht sie durch ihren super Service wett.» Es sei schwierig genug, gute Mitarbeitende im Service zu finden, da nehme er es in Kauf, dass sie die Gäste auf Englisch bediene. «Kaum einer will heute noch dienen. Der Sommelier kann sich immerhin über seine Weinkenntnisse profilieren, aber ansonsten hat der Service ein grosses Image-Problem.» Heilemann glaubt, dass potenziellen Servicemitarbeitern der Beruf schmackhafter gemacht werden muss. Der Service soll nicht dienen, sondern den Gast glücklich machen. «Er soll sich als Mitspieler, nicht als Diener verstehen. Er ist das Bindeglied zwischen Küche und Gast. Er transportiert die Energie und die Geschichte aus der Küche an den Tisch.» Das funktioniere nur, wenn sich der Betrieb mit Vorschriften und Regeln zurückhalte. «Bei uns gibt es keine vorgegebenen Sätze, die der Service vor dem Gast herunterbeten muss. Es gibt keine Vorgabe, wie ein Gericht beschrieben wird.» Jeder Mitarbeiter besitze einen eigenen Charakter, den der Gast erleben soll. «Wir kriegen immer wieder zu hören, dass man spüre, dass die Servicemitarbeiter bei uns mit Freude arbeiten.» Respekt und Anerkennung wichtiger als Lohnerhöhung
Einfacher sei es, neue Köche zu finden. Dank der Netflix-Serie «Chef’s Table», in denen Küchenchefs wie Massimo Bottura oder Tim Raue zu Popstars hochstilisiert werden, oder den zahlreichen Kochshows im Fernsehen, geniesst der Beruf des Spitzenkochs heute ein cooles Image. Heilemann: «Die Jungen wissen: Hier kann ich etwas erreichen. Später realisieren sie dann aber, dass doch nicht alles nur cool ist. Da hören die einen schon wieder auf. Sie verstehen nicht, dass auch all diese Stars einen harten Weg hinter sich haben.» In einer Spitzenküche arbeiten oft lauter Alphatiere auf engstem Raum. Keiner will sich zu viel vorschreiben lassen. Heilemann löst dies mit einem flachen Führungsansatz. «Ich bin keiner, der von oben herab dirigiert. Mir ist es sehr wichtig, dass es meinen Köchen gut geht. Erstens kann ich sie so länger halten, und zweitens spricht sich das herum. So kriege ich immer wieder spannende Bewerbungen, weil Talente bei uns arbeiten wollen.» Gut gehen – das geht bei Heilemann weit über den fairen Lohn hinaus. Eine Lohnerhöhung habe man rasch wieder vergessen. Wichtiger sei, dass man jeden Mitarbeiter anders nehme, respektiere, Anerkennung schenke und Spass bei der Arbeit vermittle. Um dem Problem des Fachkräftemangels zu begegnen, startete HotellerieSuisse das Projekt «Future Hospitality». Ziel ist es, möglichst viele Daten über Fachkräfte und den Bildungsbereich zu sammeln und diese zu vernetzen. So könne man künftig besser auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingehen, um Anreize zu schaffen, damit junge Talente wieder vermehrt in die Branche stossen und dieser dauerhaft erhalten bleiben. Lorenzo Schmiedke erzählt am Swiss Innvation Day von Max, einem jungen, motivierten Hotelmitarbeiter, der den Betrieb trotz Ferien mitten in der sommerlichen Hochsaison nach nur einem Jahr wieder verliess. Schmiedke: «Er erklärte später, der Job habe sich mit seinem einzigen Hobby nicht vereinbaren lassen: der FC Luzern.» Welche Wirkung hätte es gehabt, hätte der Betrieb von diesem Problem gewusst und sich darauf eingelassen? Angenommen man hätte Max gar eine Stehplatz-Saisonkarte gekauft und mit ihm einen Deal abgeschlossen, dass bei der Arbeitsplanung auf zwei Drittel der Heimspiele seines Lieblingsklubs Rücksicht genommen wird – es wären über das ganze Jahr hinaus zwölf Wochenendnachmittage gewesen. Gekostet hätte die Saisonkarte 350 Franken, das sind weniger als 30 Franken pro Monat. Im Gegenzug hätte sich Max verwöhnt und wertgeschätzt gefühlt. Er hätte gewiss die eine oder andere Überstunde in Kauf genommen. Er hätte die Geschichte seinen Freunden erzählt. Er wäre dem Betrieb gegenüber wohl länger treu geblieben. Max hat mittlerweile nicht nur den Betrieb, sondern auch die Branche verlassen. Nicht Chef, sondern Coach und Mentor
Dieser Fall gibt auch Francesco Benvenuto zu denken. Er ist Gastgeber und Sommelier im Restaurant Igniv by Andreas Caminada im Resort Ragaz. «Es ist sehr wichtig, auf Mitarbeiter einzugehen und sie zu fördern», erklärt Benvenuto. «Das führt zu gutem Arbeitsklima, die Mitarbeiter bleiben uns deshalb länger erhalten – und das spricht sich herum.» Klar sei es für die Personalfindung auch ein Vorteil, dass das Restaurant Andreas Caminadas Namen trage. «Aber wenn wir sie dann nicht gut behandeln, sind sie schnell wieder fort.» Benvenuto sieht sich weniger als Chef denn als Coach. Als einer, der Nachwuchskräfte aufbauen und deren beruflichen Rucksack füllen möchte. Als deren Mentor, der sie stärker macht. «Ich sage der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter im Gespräch, wo wir ihn oder sie sehen und wie der Prozess dahin aussieht.» Dafür führt er je nach Bedarf regelmässig Einzelgespräche, ein- bis zweimal jährlich werden die Mitarbeiter separat zum Beurteilungsgespräch eingeladen. «Wir zeigen ihnen auch Weiterbildungsmöglichkeiten auf. Das Resort investiert viel in interne und externe Weiterbildungen.» Weiterbildung und Teambuilding zugleich
Nebst der Lernenden Lavinia Fromm arbeitet zurzeit auch Praktikantin Aline Peduzzi im Serviceteam des Restaurants Igniv. «Das erste Gespräch mit der Praktikantin führte ich nach einer Woche», erzählt Benvenuto. «Sie sagte, sie fühle sich ernst genommen. Das ist mir wichtig.» Das Ziel: Im Februar soll sie fähig sein, eine Servicestation zu leiten und ein Event mitzuorganisieren. Pinot-Noir-Liebhaber Benvenuto investiert viel Zeit in die Mitarbeiterschulung. Ein Ausflug zu einem der Winzer in der Bündner Herrschaft diene der Weiterbildung und dem Teambuilding zugleich. «Da lernen wir über die Weine und die Menschen dahinter, wobei im Service das Weinwissen weniger wichtig ist als die Gastgeberrolle.» Sozialkompetenz, Kritikfähigkeit, Organisation, der Umgang mit schwierigen Gästen, mit der Küchenbrigade und mit Unerwartetem – für Benvenuto birgt der Beruf als Gastgeber viele spannende Facetten. «Er ist weniger greifbar als der Job als Koch, aber vielseitiger. Man muss ihn nur richtig verstehen und interpretieren.» Es gilt, dem Team immer wieder das Schöne am Beruf zu zeigen. Und: Wichtig sei auch, dass man als Chef – oder Coach – menschlich daherkomme. «Wenn ich Feedback gebe, nehme ich auch meine Leistung mit rein. Ich stehe vor dem Team zu Fehlern, ich nehme mich auch mal selber hoch.» Wir wollen dich!
Um neue Mitarbeiter zu finden, versuchen sich Branchenbetriebe heute oft auf neuen Pfaden. Nebst den altbekannten Wegen über Stellenplattformen, Berufsmessen, Vermittler und Mund-zu-Mund-Propaganda werden immer häufiger die sozialen Netzwerke genutzt. Nicht nur jene der Betriebe: Viele Hoteliers und Restaurateure schreiben die Jobs auf ihrem eigenen Facebook- oder Instagram-Profil aus. Die Zeit, in der man sich geschämt hat, zuzugeben, dass eine Stelle im eigenen Restaurant unbesetzt ist, ist vorüber. Auf der Insta­gram-Seite des deutschen Dreisternechefs Christian Bau zeigt ein Zeigefinger auf den Betrachter. Dazu steht: «We want you – wir wollen dich! «Bei uns zu arbeiten, ist nicht ‹nur› ein Job», schreibt Bau. «Es ist ein Stück Lebenseinstellung.» Weiter sagt der Spitzenkoch, dass 2019 das bisher erfolgreichste Jahr seines Restaurants gewesen sei und das Team bestrebt sei, dass es weiterhin so rund laufe. Vier Jobs sind ausgeschrieben: ein Pâtissier, ein Chef de partie, ein Chef de rang sowie ein stellvertretender Restaurantleiter. Bau bietet eine geregelte Fünftagewoche, klar definierte Arbeitszeiten mit Stundenerfassung und entsprechend vollständigem Überstundenausgleich, sechs Wochen Ferien, überdurchschnittliche Bezahlung plus Trinkgeld und weitere Anreize. Der 48-jährige Christian Bau hat die Zeichen der Zeit erkannt. Spitzenkoch hin oder her: Es gilt, um Fachkräfte zu kämpfen. Sie auf allen Kanälen zu suchen, sie gerecht zu entlöhnen, sie fair zu behandeln. Das Resort Ragaz eröffnete diesen Sommer mit zwei anderen Arbeitgebern in der Region eine Kindertagesstätte, damit Mitarbeiter Beruf und Familie vereinen können. Der Bündner Spitzenkoch Andreas Caminada ging mit der von ihm gegründeten und von seiner Frau Sarah betreuten «Fundaziun Uccelin» noch einen Schritt weiter. Die Stiftung ermöglicht jungen Talenten Praktika in Topbetrieben auf der ganzen Welt. Dabei arbeiten die Stipendiaten nicht nur in mehreren Küchen, sondern auch wochenlang bei Produzenten wie Käser, Metzger oder Winzer, um die Branche, deren Persönlichkeiten und Produkte in ihrer Vielfalt und Tiefe kennenzulernen. Direkt im Anschluss an die Zeit als Stipendiat erhält keiner eine Anstellung bei Caminada. Schliesslich soll die Stiftung uneigennützig und ein Beitrag an die Branche sein. Es sind solche Beiträge, aber auch gute Lehrmeister und Ausbildner, welche den Imagewandel hervorrufen und den Verlust weiterer Fachkräfte stoppen können. Der Weg ist lang.