Gastronomie

«Und jetzt erst recht!»

Corinne Nusskern – 03. Juni 2021
Die lange Zeit des Ausharrens ist vorbei. Am 31. Mai öffneten endlich die Innenbereiche in der Gastronomie. Es klingt absurd – aber noch nie zuvor freute sich eine ganze Branche so sehr darauf, (fast) ganz normal arbeiten zu dürfen.

Die Freude in der Branche ist riesig. Der Zürcher Gastronom Michel Péclard beispielsweise zeigt sich geradezu euphorisch: «Wir freuen uns auf die Öffnung ab 1. Juni, und zwar wahnsinnig! Endlich wieder normal arbeiten. Alle Reservationssysteme sind offen. Wir sind so glücklich.» Dieses Gefühl teilt man auch im Restaurant OX’n Schenkon im Luzerner Seeland. «Es ist wie ein grosser Event! Wir spüren zwar eine positive Anspannung, aber das gehört dazu», sagen Katharina Käser (32) und Sebastian Rensing (30). Das Paar ist seit 2017 Inhaber des OX’n, zusammen mit Rensings Bruder Samuel, der sich um das Finanzielle kümmert. Käser ist die Leiterin Restauration und Administration und freut sich riesig: «Mir fehlten die Gäste und das Leben in der Bude. Es war trostlos.

Küchenchef Rensing ergänzt: «Schön ist es, nun mit dem ganzen Team wieder kreativ arbeiten zu dürfen. Wir können noch so tolle Gäste und Ideen haben, aber ohne Mitarbeitende geht gar nichts.» Das elfköpfige Team ist jung und professionell, viele sind von Anfang an dabei. Von einer Eröffnungsparty sehen sie ab, da halten sie sich strikt an die Auflagen. «Momentan habe ich das Gefühl, ein Vierer- oder Sechsertisch ist bereits eine Party!», sagt Käser lachend. Sie stammt ursprünglich aus Niederbayern, hat sich in Salzburg zur Hotel- und Gastgewerbeassistentin ausbilden lassen und in diversen Vier- und Fünfsternehotels in Bayern und Österreich gearbeitet. 2014 kam sie eigentlich nur für eine Saison ins Cervo Mountain Resort nach Zermatt VS, wo Sebastian Rensing in der Küche arbeitete. Et voilà!

Der Hit: Überraschungsmenü
Man spürt die Dynamik im OX’n. Er steht da, wo 2013 die über 100-jährige traditionelle Dorfbeiz Ochsen aus Altersgründen abgerissen wurde. Der Neubau (Hunkeler & Partner Architekten Schenkon LU) sticht baulich im beschaulichen, 2930 Einwohner zählenden Dorf am Sempachersee heraus. Er erinnert an einen Monolithen und zelebriert mit seinen geradlinigen Formen aus rostfarbenem Cortenstahl Urbanität auf dem Land. Gegen Süden lockt eine Terrasse unter schattigen Bäumen. Das warme und lichte Ambiente des Interieurs (Raphael Otto, Atelier 72) mit Horgenglarus-Holztischen, Thonetstühlen und klassischen Industrielampen definiert sich über zwei Etagen irgendwo zwischen Landhaus und Loft, es ist modern, stylish und gemütlich. Mittendrin das Fenster zur Showküche, dem Refugium von Sebastian Rensing. Er kommt aus dem nahen Mauensee, hat seine Kochlehre im Palace Luzern absolviert und neben dem Cervo etwa auch in Jamie Olivers Restaurant Barbecoa in London gewirkt.

Jetzt freut er sich extrem auf das Aushängeschild des OX’n: Das Fine-Dining-Überraschungsmenü, drei bis sechs Gänge, auf Wunsch mit Weinbegleitung. Am Wochenende bieten sie nur noch dieses an. Unter der Woche gibt es mittags wechselnde Menüs, abends fahren sie neben dem Überraschungs-menü eine kleine Karte mit zeitlosen Klassikern, doch 80 Prozent der Gäste entscheiden sich für das Menü. «Das spricht für uns», freut sich Rensing, der seine Küche als eine moderne Interpretation einer hochstehenden Gastronomie beschreibt. Frische, Saisonalität und Nachhaltigkeit stehen im Vordergrund. Regionalität? «Definitiv, überall, wo es geht. Aber wir verarbeiten auch Zitronen, Avocado, Kaffee und Chili.»

Sie haben 13 GaultMillau-Punkte, hätten aber gerne mehr. «Wir schicken mehr, wir haben nur Sterneköche in der Küche, keine grossen Namen, aber wir wissen, was wir leisten», sagt der Küchenchef. Dafür sei der Wow-Effekt umso grösser und die Gäste – vom 18-jährigen Päärli über Familien bis zu Geschäftsleuten – besuchten sie immer wieder, denn bei 13 Punkten sei die Hemmschwelle nicht so gross. «Bei uns kommen viele junge Gäste erstmals in Kontakt mit Fine Dining, da wir keine 25 Gabeln auf dem Tisch haben», sagt Käser. Sie helfen dem Gast mit Empfehlungen, damit dieser weiss, dass es auch anderes als Rindsfilet gibt. «Das Gesamterlebnis muss stimmen und der Gast muss sich wohl fühlen.» Aktuell können sie innen 70 Plätze bespielen, draussen 38 plus 40 auf dem Dorfplatz.

160 Tage Lockdown sind vorbei!
Und es ist endlich wieder Gastronomie in echt. Wie hat das Inhaber-Paar eigentlich die Lockdowns gemeistert? Sie strahlen. «Wir haben im ersten Lockdown unser Kind bekommen, besser kann man es nicht treffen», sagt Käser lachend. Der einjährige Konstantin kommt gerade quer über den Boden vor dem Bar­tresen angekrabbelt und spielt ziemlich professionell mit zwei Teelöffeln.
Geschäftlich haben Käser und Rensing sich der Situation immer wieder angepasst, neue Konzepte entwickelt und auf Take-away-Boxen gesetzt: Sharingbox, Burgerbox, Silvestermenü, Zmorgebox. «Take-away ersetzt einen schönen Service nicht», sagt Käser, und Rensing fügt an: «Schön ist es aber, wenn 100 Leute am Sonntagmorgen eine Zmorgenbox holen und fast Tränen in den Augen haben vor Freude.»

160 lange Tage dauerte der zweite Lockdown, Terrassen-Intermezzo exkludiert, und erhöhte den Verlust von Stellen in der Gastronomie laut aktuellem Beschäftigungsbarometer des Bundesamts für Statistik auf 37 791. Doch nun ist es Zeit, vorwärts zu schauen und sich aufzurappeln. Seit 31. Mai dürfen in den Innenbereichen der Gastronomie wieder Gäste empfangen werden. «Wir hoffen, dass es ein guter Sommer wird für unsere Branche», sagt GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer. Besonders erfreulich: Die Sperrstunde wird aufgehoben, es gilt keine strikte Maskenpflicht an den Tischen, zudem sind im Aussenbereich Sechsertische erlaubt. «Diese zusätzlichen Lockerungen helfen unserer Branche», freut sich Platzer. Es sei nun aber wichtig, dass der Bundesrat an der Öffnung festhält. «Denn nur so hat das Gastgewerbe eine nachhaltige Perspektive und Planungssicherheit.»

Keine Existenzängste
Sich immer wieder auf die neuen Massnahmen einzustellen, war auch für das OX’n-Wirtepaar schwierig. «Emotional war es ein Auf und Ab», gesteht Rensing. «Aber wir jammern nicht, wir sind eher lösungsorientiert.» Die drei Inhaber sind als Pächter in einer Betriebs-AG organisiert. Ihre Vermieter hielten sich mit der Mietzinsreduktion während der Lockdowns an die Empfehlung vom Bund. «Das ist so viel wert! Sie sind alle aus dem Dorf und wissen, dass wir das hier mit Herzblut machen.»

Das Paar konnte sich während dreier Jahre ein kleines Polster anlegen, sie haben Kurzarbeitsgelder bezogen und Härtefallgelder erhalten. Beides sehen sie nicht als selbstverständlich an, sie sind sehr zufrieden mit der Arbeit der Regierung. «Dank der Unterstützung vom Bund und vom Kanton Luzern hatten wir nie Existenzängste», ergänzt Käser. «Wir sprechen nur für uns», fügt Rensing an. «Ich weiss, dass es andere hart traf.» Die EO für sie beide haben sie erst spät angemeldet. «Wir haben immer etwas gearbeitet, das wäre nicht korrekt gewesen.»
Richtig ist: Rensing und seine drei Köche hatten ihre Hände permanent in irgendwelchen Schüsseln. Und endlich mal Zeit, neue kreative Ideen auszuprobieren. «Neu war, abends frei zu haben», sagt Käser. «Aber wir freuen uns so, endlich wieder Gäste bewirten zu können und Bestätigung zu erhalten. Das braucht doch jeder.»

Verdammt schöner Beruf!
Der OX’n hat einen guten Namen in der Region. Die grösste Herausforderung sei nun, die Erwartungen zu erfüllen und das Niveau zu halten. «Ein Gastronom sollte wirtschaftlich als Unternehmer ernst genommen werden», sagt Rensing. «Es ist nicht einfach nur Bier zapfen und Fleisch in die Pfanne hauen. Von manchen wird man belächelt. Die Gesellschaft muss wissen, da sind elf Arbeitsplätze dahinter, das ist Marketing, wirtschaftliches Denken und die Verantwortung, ein guter Arbeitgeber zu sein.» Ihr Antrieb ist die Leidenschaft und der Wunsch, immer besser zu werden; Käser bildet sich aktuell zur Wein-Sommelière weiter. «Wir haben einfach einen verdammt schönen Beruf!», sagt Käser.

Und sie nehmen aus dieser Pandemie auch etwas für die Zukunft mit. «Flexibilität», sagt Rensing wie aus der Pistole geschossen. «Und Take-away.» Die Nachfrage sei da und sie haben damit neue Gäste gewonnen. «Zudem haben wir gelernt, in ungewissen Situationen ruhig und positiv zu bleiben», ergänzt Käser. «Es geht einem so viel besser, wenn man optimistisch durch den Tag geht. Und jetzt erst recht!»