Starkoch Jeroen Achtien: «Wir Köche müssen ­einander helfen»

Reto E. Wild – 16. September 2021
Jeroen Achtien gehört zu den talentiertesten Köchen der Schweiz und eroberte sich innert drei Jahren zwei Michelin­sterne. Der unkomplizierte und frisch verheiratete Holländer über Konkurrenten, Massnahmen gegen den Fachkräfte­mangel und die 15 Jahre alte Kuh Jasmin.

Vor dem Interviewtermin im Restaurant Sens des Vitznauerhofs zeigt uns der frisch verheiratete Jeroen Achtien (33) seinen Kräutergarten, der verhagelt wurde und unter der ausgebliebenen Sonne leidet. Die erst spärlich wachsenden Damaskusrosen setzt er für Desserts ein, mit frischen Kräutern will er zusammen mit der Distillerie Studer aus Escholzmatt einen eigenen Gin kreieren. Vor einem Jahr sorgte er mit einem italienischen Koch aus seinem Team für einen Limoncello.

Im Hotelgarten wachsen auch Kaffirlimetten, schwarze Minzen aus Peru, Shiso aus Japan, Kapuzinerkresse, Sauerampfer, Verveine, Olivenkraut oder Myoga. Dazu Achtien: «Myoga ist japanischer Ingwer, aber sehr blumig. Man kann ihn gut braten oder als Gemüse essen.» Und übers Kardamonblatt sagt er: «Es ist mega elegant. Ich habe daraus ein Öl gemacht, das allerdings noch nicht so ist, wie ich es möchte.» Die kurze Exkursion zeigt: Der holländische Spitzenkoch, seit April 2018 Vitznauerhof-Küchenchef, seit 2021 im Besitz eines zweiten Michelin-Sterns und mit 17 GaultMillau-Punkten dekoriert, probiert für seinen experimentierfreudigen Stil immer wieder etwas Neues aus.

Schützenhilfe erhält er von Botti’s Kräutergärtnerei aus Stetten AG, die gegen 1000 Kräuter im Sortiment führt. «Ich gehe durch den Garten und sage, was ich suche. Es gibt so viele Pflanzen, die ich noch nicht kenne. Der Besuch ist gut für meine Kreativität.» Vom Garten gehen wir ins Spitzenrestaurant Sens, direkt am Vierwaldstättersee, wo sich der auf dem Boden gebliebene Achtien den Fragen des GastroJournals stellt und dabei ab und zu herzhaft lacht.

Jeroen Achtien, Sie sind permanent auf der Suche nach neuen Produkten. Instagram sagt uns, dass Sie im Sommer an der Nordsee waren. Was haben Sie da gemacht?
Jeroen Achtien: Freunde von mir haben mich an einen Anlass von Vuurzee eingeladen. Dabei handelt es sich um ein Bier mit Champagnerhefe, das wir neu auf der Getränkekarte führen und mit Pinot-Noir-Trauben veredelt wird. Es ist frisch und elegant und kein normales Bier. Ein holländischer Freund von mir hat mich darauf gebracht. Vuurzee wollte Sponsor meines Kochbuchs werden. Und zusammen mit Raphael (Hoteldirektor Raphael Herzog, Anmerkung der Redaktion) besuchten wir in der Provinz Seeland eine Austernfarm.

Wie ist das Verhältnis zum Hoteldirektor?
Wir sind ein cooles Team und respektieren uns. Klar, er ist der Big Boss, gibt mir aber viele Freiheiten. Wichtig ist, dass unsere Gäste glücklich sind. Und ja, ich muss selbstverständlich dafür sorgen, dass die Zahlen stimmen.

Sie sind seit gut drei Jahren am Vierwaldstättersee und haben 2020 den ersten und seit 2021 den zweiten Michelin­stern erhalten. Was sind nun Ihre nächsten Ziele?
Bei Michelinsternen wird immer wieder vergessen, dass es dazu ein Team braucht. Wir möchten ständig besser werden, sonst wird es langweilig. Wenn ein dritter Stern kommt, dann kommt er. Ich mache mir damit keinen Stress. Unser Restaurant ist seit der Eröffnung am 18. März 2021 mit wenigen Ausnahmen jeden Abend ausgebucht. Ich glaube, dass das nicht so viele Restaurants von sich sagen können. Darüber freue ich mich sehr. In meinem ersten Jahr gab es viele Hotelgäste, die auch in unserem Restaurant essen gehen wollten. Jetzt buchen die Kunden einen Tisch und schlafen auch hier. Das sagt wohl etwas über die Qualität unseres Essens aus.

Neben Ihren zwei Michelinsternen gibt es am Vierwaldstättersee mit Patrick Mahler vom Park Hotel Vitznau (zwei Michelinsterne), Philipp Heid vom Prisma im gleichen Hotel (ein Michelin) und dem Kräuterhotel Edelweiss (ein Michelin) insgesamt sechs Sterne. Das Magdalena ist auch nicht weit entfernt. Wie stark inspiriert Sie das?
Ich schaue nicht, was links und rechts passiert. Das ergibt nicht viel Sinn. Ab und zu haben wir Gäste, die waren im Focus im Park Hotel oder im Kräuterhotel. Sie sagen dann spasseshalber, sie seien bei der Konkurrenz gewesen. Ich erwidere, dass ich keine Konkurrenten habe. Das hört sich jetzt arrogant an. Aber ich habe einen komplett anderen Kochstil. Und das ist cool. Manchmal frage ich die Gäste sogar, ob sie schon mal im Park Hotel gegessen haben. Ich empfehle das ihnen. So verstehe ich unseren Beruf: Wir müssen einander helfen. Ich finde es schade, wenn Köche nicht voneinander profitieren.

Sie alle haben mit der Pandemie eine grosse Herausforderung zu bestehen. Wie haben Sie die Zeit des Lockdowns erlebt?
Im ersten Lockdown war unser Hotel geschlossen. Im Sommer 2020 ging es wieder so richtig los. Wir waren fast immer ausgebucht. Die Schweiz hat es als Land gut gemacht, wenn ich vergleiche, wie das in Holland oder anderen Ländern war.

Wie schnell finden Sie Personal? Ihre Sterne haben bestimmt eine Strahlkraft.
Ja, wir haben vor und nach dem Lockdown keine Probleme gehabt, um Fachkräfte zu finden. Ich höre von anderen Ländern wie den Benelux, Staaten der Karibik, Spanien oder Singapur oft, wie gross die Probleme mit dem Fachkräftemangel sind, weil das Personal in andere Branchen abgewandert ist. Ich aber habe schon Anfragen fürs nächste Jahr von Köchen, die bei uns arbeiten möchten.

Was machen Sie besser als andere Betriebe?
Wir beschäftigen uns ständig damit, was wir für die Mitarbeitenden besser machen können. In unserem Team haben wir eine coole Stimmung. Die Lage des Vitznauerhofs ist super, um hier zu leben. Und unser Restaurant ist nur abends geöffnet, obwohl wir es mittags leicht füllen könnten und abends Wartelisten haben. Für die Servicemitarbeiter führen wir die Viertagewoche ein und bezahlen fünf Tage. So haben unsere vier Serviceleute drei Tage frei. Das ist sehr attraktiv.

Aus der Küche tönt es holländisch.
Mein Küchenteam besteht mit mir aus sieben Leuten. Wir sind tatsächlich vier Holländer, in der Hauptküche nochmals vier. Einige davon sind seit dem ersten Tag dabei.

Dieses Jahr haben Sie den Garden Table eingeführt. Wie funktioniert das?
Er ist wie ein Chefs Table, steht noch bis Mitte Oktober vor dem Restaurant und hat für sechs Leute Platz. Wir stellen die Gerichte in die Mitte des Tisches, die dort wie in einer Familie geteilt werden. So können die Gäste fast jedes Gericht geniessen. Aber weil der Aufwand für uns mit den fünf servierten Gängen geringer ist, bieten wir das für 195 statt 230 Franken pro Person an.

Bald ist Herbst. Wie verändern Sie Ihre Karte?
Ich akzeptiere noch nicht, dass es Herbst wird und möchte zuerst ein paar weitere Sommertage erleben. Erst wenn ich im Kopf bereit bin, kümmere ich mich um die Herbstkarte.

Woher holen Sie dazu Ihre Inspiration?
Überall. Das kann in Botti’s Kräutergärtnerei sein, wo ich neue Pflanzen entdecke. Das Olivenkraut kenne ich zum Beispiel seit meiner Zeit in den Niederlanden. Bei uns im Hotelgarten wächst es schon seit zwei Jahren. Aber ich habe das Kraut noch nicht verwendet. Letzthin testete ich ein Gericht und stellte fest, dass ich eine Zutat vermisse. So kam das Olivenkraut zum Einsatz. Oder wenn ich Ski fahre und den Kopf leeren kann, habe ich plötzlich Einfälle. Viele Köche sagen ja, sie würden auf Reisen Inspirationen sammeln. Mein wichtigster Punkt: Wenn ich mich gut erholt habe, kommen die Ideen automatisch – egal wo. Oder ich wache in der Nacht auf, habe eine Idee von einem Gericht, schreibe diese auf und schlafe nachher weiter.

Sie werden oft als junger, wilder Koch bezeichnet. Jung sind Sie. Sind Sie auch ein Wilder?
Was ist wild? Ich liebe Geschmack und schaue darauf, dass alle Kombinationen harmonisch und elegant sind. Vorsichtige Köche bereiten ein Curry vor, bei dem man die Gewürze nicht richtig schmeckt. So zu kochen, macht mir keinen Spass. Was auf dem Teller ist, muss man bei mir auch schmecken können. Ich mag Kombinationen, die nicht jeder macht. Ob das wild ist, weiss ich nicht, vielleicht ist es mutig.

Mut haben Sie bewiesen, weil Sie kürzlich erstmals vom Bio-Uelihof in Ebikon LU eine ganze Kuh gekauft haben und «Nose to Tail» in der Sterneküche umsetzen. Was sind Ihre Erfahrungen?
In der Schweiz werden die Rinder nicht viel älter als 1,5 Jahre. Ich bin mir das nicht gewohnt, denn je älter die Kühe werden, desto mehr Geschmack haben sie. Deshalb fragte ich den Uelihof an. Mir wurde gesagt, das Fleisch werde am besten, wenn die Kuh nach dem Winter in der Natur grasen kann. Im Uelihof hat jedes Tier einen Namen. Wir entschieden uns für die rund 15 Jahre alte Jasmin. Ich wollte sie sehen, bevor sie geschlachtet wurde. Im aktuellen Menü gibt es das Fleisch von Jasmin als Hauptgericht als Entrecôte sowie geschmort und zwei Tage mit Soyu Koji fermentiert und eingerieben. Dadurch wird das Fleisch saftiger, das Hauptgericht leicht und frisch. Ich konnte es rosa garen. Ohne diesen Schritt wäre das Fleisch, das ich bewusst in kleinen Portionen servieren lasse, nicht geniessbar gewesen.

Was ist Ihnen bei den Produkten wichtig: Müssen sie biologisch sein?
Für mich nicht unbedingt. Der Uelihof beispielsweise ist ein wunderschöner Hof, ich spüre die Liebe des Bauern zu seinen Tieren. Er könnte dreimal so viele Kühe halten, sagt aber, dass dies den Tieren nicht guttut. Dadurch wird das Fleisch teurer, dafür auch qualitativ besser.

Welches sind Ihre wichtigsten Produzenten in der Region?
Neben dem Uelihof und Botti’s Kräutergärtnerei gehöt Rolf Beeler für den Käse dazu, die Entenleber beziehen wir aus Appenzell AI, den Ziegenkäse über Toni Odermatt. In der Alpkäserei Chieneren oberhalb von Wiesenberg NW gibt es übrigens den einzigen Sbrinz mit 20 von 20 möglichen Punkten. Wenn man dazu frischen Rahm als Basis nimmt, kann der Käse nur gut sein!

Sie erwähnten Ihr Kochbuch, das vor gut einem halben Jahr mit vielen Bildern publiziert wurde. Weshalb haben Sie sich dazu entschlossen?
Ein Freund von mir wollte ein neues Projekt mit verschiedenen Chefs und ihrer Philosophie bei der Auswahl von Lieferanten realisieren. Letztlich haben wir das 250-seitige Buch in fast zwei Monaten auf Englisch umgesetzt. Es war viel Arbeit und eine sehr anstrengende Zeit, weil ich das neben dem Kochen machte. Geholfen hat, dass der Fotograf im Vitznauerhof wohnte. Wir sind dann bei schönem Wetter von hieraus zu den Lieferanten und Weingütern gefahren.

Wenn man Sie so reden hört, scheint der Vierwaldstättersee für Sie der ideale Arbeitsort zu sein.
Eigentlich schon. Ich liebe den See und die Berge. Manchmal bin ich mit dem Stand-up-Paddle bis zur anderen Uferseite unterwegs und denke, wie wunderschön die Natur hier ist. Selbst­verständlich mache ich das nicht jeden Tag. Ich fahre auch gerne als Ausgleich mit dem Motorrad rund um den See. Der Furkapass befindet sich ganz in der Nähe. Und auf meinem Balkon wachsen zwei Palmen. Was will man noch mehr?