Gastronomie

Prinzessin der Nacht: Das Doppelleben des Chicorée

Corinne Nusskern – 20. Januar 2021
Er lässt sich Zeit, der Chicorée – und führt erst noch ein Doppelleben. Ein Einblick bei Gamper Gemüsekulturen im thurgauischen Stettfurt zeigt, wie aufwendig die Produktion des beliebten Wintersalats ist.

Der Chicorée, auch Zichorie oder Brüsseler genannt, hat zwei Leben: eines im Licht und eines in Dunkelheit. Im Frühling werden die hellgelben Samen gesetzt, drei Wochen später spriessen erste grüne Blätter und Mitte bis Ende Oktober sind die dunklen Chicoréewurzeln ausge­wach­­sen.

Michaela Lüthi-Gamper (36) hält eine Wurzel in der Hand. «Der ideale Durchmesser liegt zwischen 3,5 und 5,5 Zentimeter. Der Krautansatz sollte 3 Zentimeter hoch sein. Nur dann ist die Basis für einen schönen Zapfen ge­ge­ben.» Vor fünf Jahren hat die Betriebswirtschaf­terin mit ihrem Geschäftspartner Si­mon Forster die Gamper Gemüsekulturen in Stettfurt TG in dritter Generation von ih­rem Vater Erwin Gamper über­nommen. Im als Kollektivgesellschaft funktionierenden Fa­mi­lienbetrieb, mit je nach Saison zwischen 80 und 120 Mitarbeitenden, ar­beiten auch ihre drei Schwestern mit. 120 Hektaren konventionelle Wurzeln und 50 Hektaren Bio-Wurzeln baut Gamper regional in Kooperation mit Bau­ern in den Kantonen Thurgau, Schaff­hausen und St. Gallen an.

Die Bauern der Gegend sind umworben, denn auch die Zuckerrüben der Schweizer Zucker AG in Frauenfeld TG wollen hier in den Boden. Geerntet wird im Herbst mit Spezialmaschinen, 130 000 Wurzeln pro Hektar. Das Kraut wird von der Wurzel abgeschlagen und als Dünger unter die Erde gemischt, die Wurzeln von den Bauern nach Stettfurt transportiert, wo sie sortiert werden. Die Arbeit in den offenen Hallen ist kein Zuckerschleck. Für mindestens sechs Wochen bis zu einem Jahr wird den Wurzeln dann bei minus ein Grad Celsius und 95 Prozent Feuchtigkeit ein Winterschlaf vorgegaukelt. Mit einer dünnen Eisschicht überzogen lagern sie tonnenweise in aufgetürmten Riesenkisten in immensen Kühlräumen. Sobald Chicorée ausserhalb der Erntezeit gebraucht wird – etwa im Frühjahr oder Sommer – werden sie aufgetaut und weiterverarbeitet.

Die zweite Geburt des Chicorée
Lüthi-Gamper geht mit rundem Bauch voran in die Produktionshalle. Die zweifache Mutter ist mit Zwillingen schwanger. Es riecht streng erdig in der Produktionshalle. Flink stellen Männer bis zu 550 Wurzeln dicht an dicht in genormte Bac-Kisten. Auch hier, die Arbeit in der klammen Kälte ist hart. Die Mitarbeitenden während der Erntephasen stammen meist aus Polen, Slowakei oder Ungarn. Für die Chicoréewurzeln hingegen beginnt nun das geruhsame Leben: Für 18 bis 21 Tage bleiben sie in 15 bis 21 Grad Celsius warmen und absolut dunklen Treibräumen bei 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Kisten sind meterhoch in Reihen gestapelt, durch sie hindurch zirkulieren Nährstoffe und Wasser. Jeden Tag wird von Hand kontrolliert, wie die Zapfen wachsen. Elegant wie Ballerinas strecken sich die Zapfen mit ihren zarten hellen Blättern immer mehr nach oben und stellen einen Kontrast zur groben, dunklen Wurzel dar. Beträgt das Herz etwa 50 bis 70 Prozent der Länge, ist der Chicorée reif. Er verlässt die Schattenwelt und kommt zur zweiten Ernte ans Licht. An einer Maschine mit einem Messerrad wird der Zapfen von der Wurzel getrennt. Die Zapfen fahren via Förderband in die Verpackungshalle, wo sie von Hand von nicht perfekten Blättern befreit werden – aus diesen entsteht Biogas – und zu dritt oder viert in einen 500-Gramm-Beutel verpackt und in mit schwarzer Folie ausgelegten Kisten zu liegen kommen. Die Wurzeln enden in einem Bunker – als Futter für die Kühe.

Früher viel bitterer
40 bis 50 Tonnen konventioneller und 15 Tonnen Bio-Chicorée verlassen aktuell wöchentlich das Gebäude, insgesamt 1800 Tonnen im Jahr. Als Vater Erwin Gamper 1979, zwei Jahre nachdem er den Hof von seinen Eltern übernahm, mit dem Chicorée-Anbau anfing, betrug die Ernte 180 Tonnen im Jahr. Etwa 30 Prozent der Gesamtproduktion geht in die Gastronomie. Das meiste davon wird über den Engrosmarkt Zürich oder Grosshändler verkauft. Bei grösseren Mengen und dem offenen Karton für Gastronomen liegt der Preis bei 3.14 Fran­ken pro Kilo. Dieser wird mit allen sieben Schweizer Produzenten sowie den Grossverteilern und einem Vertreter der Händler, welche die Gastronomen beliefern, fixiert. Fünf der sieben Produzenten sind in der Genossenschaft Swiss & Diva vereint. Eine gute Sache.

«Je­der zahlt pro verkauftem Kilo Chicorée ein bis zwei Rappen in einen Fonds, der dann für gemeinsame Werbung und Marketing genutzt wird», erläutert Lüt­hi-Gamper. Gamper ist einer von zwei Produzenten in der Schweiz, die das ganze Jahr über Chicorée produzieren. «Der Konsum nimmt im Sommer stark ab, deswegen produzieren die meisten nur im Spätherbst und Winter», führt die Chefin aus. Chicorée gilt noch immer als klas­sischer Wintersalat und -gemüse. Gibt es saisonale Unterschiede? «Nein, sie schmecken sommers und winters gleich», sagt sie. «Aber die gesunden Bitterstoffe züchtet man stets stärker weg. Als wir Kinder waren, war der Chicorée viel bitterer als heute!» Der Markt verlange danach. Gamper produziert mehrheitlich weissen und etwas roten Chicorée. Sie haben sieben Sorten im Sortiment mit Namen wie Sweet Lady, Vintor oder Atlas. Für den Laien sind sie nicht unterscheidbar. «Und jedes Jahr tüfteln wir auf etwa fünf Hektaren an einer neuen Sorte», verrät Lüthi-Gamper.

Chicorée statt Kaffee
Während der Absatz im gesamten Gemü­sebereich bei Gamper seit Corona bis zu 20 Prozent anstieg, hatte er bei Chicorée kei­nen Einfluss. Sie könnten gar nicht mehr Chicorée auf den Markt bringen, die geernteten Wurzeln werden für das ganze Jahr eingeteilt. «Wir verarbeiten bis Oktober die gekühlten Wurzeln der Vorjahresernte, bis die neuen Wurzeln reif sind. Nur so kann das ganze Jahr über Chicorée gekauft werden», sagt Lüthi-Gam­per.

Bei vielen anderen Gemü­se­sorten im Freiland, die Gamper anpflanzt, wie etwa Salat oder Broccoli, kann bei steigender Nachfrage schneller reagiert werden – so lange freie Flächen verfügbar sind. «Man pflanzt generell im­mer zehn Prozent mehr an, sogenann­te Risikoflächen», erklärt sie. «Dieses Jahr verkauften wir auch da alles weg.» Früher hat man aus gerösteten Zi­cho­rien Kaffeeersatz produziert. Der bekanteste ist Franck-Aroma, ihn gibts noch immer bei den Grossverteilern. Teilweise enthält auch koffeinfreier Kaffee Zichorienwurzeln. Dass wir heute Chicorée essen können, verdanken wir einem Zufall: Um Kaffeeersatz herzustellen, lagerten belgische Landwirte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zichorienwurzeln im Keller. Eines Tages ent­deck­ten sie, dass aus der Wurzel gelbe Blätter spriessen und zu einem Chicoréeezapfen heranwachsen. Damit wäre wohl auch der Name Brüsseler erklärt.

TIPPS und IDEEN rund um Chicorée • Stets im Dunkeln kühl und trocken lagern. Am Licht werden die ­ Blät­ter grün und der Chicorée bitter. • Gegen die Bitterkeit: Strunk herausschneiden und den Chicoreé in warmem Milchwasser einlegen. • Chicoree ist sehr gesund und kalorienarm (16 kcal auf 100 Gramm) und enthält die Vitamine A, B und C, Folsäure, Kalzium, Kalium, ­ Phos­phor, Inulin, Mineralstoffe und gesunde Bitterstoffe. • Vorsicht: Beim Braten in einer Pfanne mit Eisenbeschichtung kann der Chicorée aufgrund einer chemischen Reaktion schwarz werden. • Edel als Schaumsuppe: Gerüsteter Chicorée mit Schalotten andünsten, mit Bouillon ablöschen, 15 Minuten köcheln. Mit Rahm verfeinern, pürieren. Abschmecken und mit Chicoréestreifen, gerösteten Sesamsamen und gemahlenem Koriander garnieren. • Winterliche Energiebombe: Den Chicoréesalat mit Datteln, Orangen und Nüssen kombinieren und an einem Honigdressing oder mit Granatapfelsirup anrichten. www.gampergemuese.ch