Niels Rodin: Der Zitrusbauer mit der Buddha-Hand

Caroline Goldschmid – 02. September 2021
Für Niels Rodin hat die Midlife-Crisis zu einem radikalen Karrierewechsel geführt: Er verliess die Finanzwelt und begann in Borex VD mit der Produktion von Zitrusfrüchten. Seine biologischen und teils einzigartigen Kreationen werden von Spitzenköchen und Feinschmeckern geschätzt.

Ein Besuch auf dem Bauernhof von Niels Rodin (40) in Borex VD ist ein Vergnügen – und horizonterweiternd. Denn der inzwischen berühmte Züchter von Zitrusfrüchten zeigt seine gut vier Kilometer von den Ufern des Lac Léman entfernte Welt mit ebenso viel Begeisterung, wie er sein Wissen weitergibt. Mit seiner ansteckend guten Laune staunt er manchmal wie ein kleines Kind über seine Entdeckungen und welche unerwarteten Ergebnisse die Natur liefert. Seine Augen leuchten, wenn er davon erzählt. Diesem Enthusiasten gebührt Respekt: Er hat sein gesamtes Wissen über Zitrusfrüchte selbst erlernt.

 

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Die Hand des Buddha: Die Zitrusfrucht hat kein Fruchtfleisch, keinen Saft und keine Kerne. Die Schale, die im rohen Zustand nicht bitter ist, wird zum Garnieren von Ri­sot­­­to oder Pâtis­­serie verwendet. Sie kann wie ein Trüffel gerieben werden.

Niels Rodin, der seit 2016 Pächter und seit 2019 Eigentümer des Betriebs ist, bewirtschaftet ein anderthalb Hektar grosses Grundstück mit 3600 Quadratmeter Gewächshausfläche. «Ich habe fast zehn Jahre lang ein 300 Quadratmeter kleines Gewächshaus gemietet, in dem ich alle meine Versuche durchführen konnte. Es gibt nur sehr wenig Literatur über Zitrusfrüchte. Sie werden hauptsächlich in subtropischen Ländern und im Mittelmeerraum angebaut», erzählt er. Rodin musste mithilfe von Diskussionsforen im Internet Sorten finden, die das Schweizer Klima vertragen. «Zitrusbäume werden wie Reben immer veredelt. Die Ausgangspflanze dient als Unterlage, auf die eine andere Sorte gepfropft wird, um die Früchte zu erzeugen. Der Wurzelstock hat eine sehr wichtige Funktion und muss an den Boden angepasst sein. In diesem Fall erwies sich Poncirus trifoliata als die beste Wahl. Diese Pflanze ist sehr kälteresistent und gehört zur Familie der Rutaceae, einer Verwandten der Zitrusbäume.»

Niels Rodin Zitronenkaviar NR DSC4941 WEB v3

Zitronenkaviar: Die kleinen Perlen im Frucht­fleisch zerplatzen im Mund! Niels Rodin baut hauptsächlich rosarote Kaviarzitronen an, weil sie so beliebt sind. «Zu einem Fisch serviert, bilden sie einen schönen Kontrast», rät der Zitrusbauer.

150 Zitrussorten mit eigenständigem Charakter

Der Mann, der sich als «glücklicher Verrückter» bezeichnet, erläutert, dass jede Pflanze einzigartig sowie jedes Klima anders sei. Es dauere mindestens fünf Jahre, um zu verstehen, wie eine Pflanze funktioniere. Geduld und harte Arbeit haben sich gelohnt: Heute werden in Borex rund 150 Zitrusfruchtsorten angebaut. «Meine Leidenschaft schlug in Wut um, da ich möglichst seltene Sorten züchten wollte. Aber die geschmacklichen Ergebnisse entsprachen bei vielen Sorten nicht meinen Erwartungen: Viele Sorten waren zu sauer, zu bitter oder zu gewöhnlich.» Rodin behielt nur diejenigen, die einen eigenständigen Charakter hatten. «Wenn ein Koch die Frucht verarbeitet, muss sie einen besonderen Geschmack haben, der sich von dem handelsüblicher Zitrusfrüchte unterscheidet. In Supermärkten sind etwa sechs Sorten erhältlich, während es auf der Erde mehr als 6000 gibt!»

Niels Rodin Kaffirlimette NR DSC4951 WEB v3

Kaffirlimette: Die Schale der thailändischen Zitrusfrucht sowie ihre duftenden Blätter wer­den häufg in der asiatischen Küche ver­wendet, etwa für Currys. Der kräftige Ge­schmack erinnert an Ing­wer, Zitro­nen­gras und Koriander.

Pic, Gauthier, Caminada, Wassmer ...

Anne-Sophie Pic ist ein Fan von Niels Rodins Zitrusfrüchten, sie hat diese vor über sieben Jahren entdeckt. Und sie ist nicht die einzige Spitzenköchin, die sie verwendet. «Ich habe auch viel mit Dominique Gauthier, dem Chefkoch des Le Chat Botté in Genf, und seinem Pâtissier Yohan Coiffard gearbeitet. Zitronenkaviar, Combawa und Yuzu werden in der Gastronomie häufig verwendet, da sie den Gerichten eine elegante Note verleihen und dabei klassisch bleiben», sagt Rodin.

Der Zitrusbauer möchte sich jedoch nicht auf die Sterneküche beschränken und ist offen für jede Zusammenarbeit, auch mit lokalen Restaurants. Niels Rodin ist sich jedoch bewusst, dass es die grossen Köche sind, welche die Trends setzen, so wie das bei der Yuzu der Fall ist, welche seit 40 Jahren in der französischen Gastronomie bekannt ist. Der Vierzigjährige baut angesichts des Erfolgs dieser Zitrusfrucht mehr als 200 Bäume davon an. «Bei den anderen Sorten hingegen ist die Produktion auf zwei oder drei Bäume beschränkt», erklärt Rodin. «Dies ermöglicht es uns, den Kü­chen­chefs exklusive Produkte anzubieten. Sie können eine Frucht der aktuellen Jahreszeit auswählen und damit ihr Menü entsprechend ihrer Persönlichkeit gestalten.»

Inzwischen ist Niels Rodin in der ganzen Welt bekannt. Deshalb muss er bei den Köchen keine Werbung betreiben, sie kommen zu ihm, auch aus der Deutschschweiz. Sven Wassmer und Andreas Caminada etwa sind gute Kunden, ebenso wie Rebecca Clopath.

Niels Rodin Liqueur NR DSC4965 WEB v3

Ein Blick auf die vier Spirituosen von Niels Rodin genügt, um seine Leidenschaft für Farben zu verstehen: Yuzu-Likör 32% (gelb), Mandarinen-Likör 32% (orange), Fleur Bleue Gin 40% (die blaue Farbe wird aus blauen Erbsenblütenblättern gewonnen) und Vermouth Rose 14,7%.

Saisonabhängigkeit? Es gibt Lücken...

Im Gegensatz zur westlichen Praxis, welche Früchte nach optischen und geschmacklichen Kriterien verändert, folgt Rodin der asiatischen Mentalität, indem er nur ursprüngliche Sorten anbaut, die eine sehr kurze Erntezeit haben. «Japan ist eine grosse Quelle der Inspiration für mich. Die Japaner schufen das Konzept der Gewürzzitrusfrüchte», sagt er. «Zitrusfrüchte bringen jene Säure in die Gerichte, die alle fünf Geschmacksrichtungen beinhalten.» In der Schweiz und in an­deren europäischen Ländern haben kulinarische Wettbewerbe und Fernsehsendungen dazu beigetragen, diese Zitrusfrüchte bekannt zu machen. Niels Rodin sieht eine steigende Nachfrage. «Aber ich muss den Leuten oft erklären, dass die hier produzierten Zitrusfrüchte nicht das ganze Jahr über erhältlich sind.«

Der Experte hat es sich zur Aufgabe gemacht, sein Wissen sowohl an junge Menschen als auch an Restaurantbesitzer weiterzugeben. Die Saison beginnt Ende Oktober mit Limetten, Combawa, Satsuma-Mandarinen und Kaviarzitronen. Die Hochsaison dauert von Mitte November bis Ende Dezember (beispielsweise Yuzu, Buddha’s Hand, Zitrone, Bergamotte). Die Nachsaison startet im Januar mit Zitronen, Orangen und den ersten echten Mandarinen. Im März können Pampelmusen (im Englischen als Pomelo bekannt) und Kumquats geerntet werden. Die Konatsu (eine natürliche Kreuzung aus Pampelmuse und Orange) bildet den Abschluss im April und Mai. Der neueste Zitrusfrucht-Liebling, die Konatsu, wird seit 2015 in Borex produziert; Anne-Sophie Pic hat bereits einige bestellt. «Die Frucht ist nicht so kräftig wie eine Zitrone und passt daher gut zu Milchprodukten, als Dessert oder zu fettigem Fisch», erklärt Rodin.

Sein Betrieb ist biologisch, biodynamisch (Demeter) und SwissGAP zertifiziert. Das Bio-Label sei wichtig und sorge für Glaubwürdigkeit. «Ich entdeckte, dass man Schädlinge mit Insekten bekämpfen kann. Vor etwa 12 Jahren habe ich die Umstellung auf den ökologischen Landbau in Angriff genommen und festgestellt, dass dies sehr kompliziert ist.» Als er anfing, Pflanzen zu veredeln, wollte nichts wachsen. Selbst mit ein wenig Erfahrung kam er nicht über eine Erfolgsquote von 50 Prozent hinaus. Eines Tages begann er, die Grundprinzipien der Biodynamik anzuwenden, die Mondzyklen zu respektieren und nur bei Mondaufgang zu pflanzen. Er erreichte damit eine Erfolgsquote von gegen 90 Prozent. Ein weiteres wichtiges Projekt ist es, der erste Bauernhof in der Schweiz zu werden, der vollständig energieautark ist und eine möglichst geringe CO2-Belastung aufweist.

Zeit für Cidre und Granatäpfel

Niels Rodin beschäftigt vier Personen, darunter eine Verwaltungsassistentin und Mitarbeitende, die in den Gewächshäusern tätig sind. Die Krise hat den Unternehmer gezwungen, sein Geschäftsmodell zu überdenken und sich auf den Schweizer Markt zu konzentrieren.
Da die Produktion von Zitrusfrüchten zu wenig Geld abwirft, ist seine Haupteinnahmequelle zurzeit der Verkauf von Spirituosen wie «Fleur Bleue Gin» und «Vermouth Rose» sowie Yuzu- und Mandarinenlikör. Dank des Online-Shops konnten auch Privatkunden seine Welt und seine Produkte entdecken. Die sorgen für einen Anteil von 40 Prozent des Verkaufserlöses. Nach Knoblauch, Ingwer und Sichuan-Pfeffer will Niels Rodin nun auch Äpfel für einen Cidre anbauen, produzieren und vermarkten. Angedacht ist zudem der Start einer Granatapfelproduktion.
«Anstatt den Klimawandel zu beklagen, ist es besser, nach möglichen Lösungen für die Zukunft zu suchen, und der Granatapfel gehört dazu, denn er ist eine Frucht, die wenig Wasser braucht und extremen Temperaturen standhält», sagt Rodin. Sollte das Klima in der Schweiz zu heiss für den Apfelanbau werden, könnten seiner Meinung nach diese Granatäpfel mit ihren zahlreichen Nährstoffen den Apfel ersetzen und so für eine neue Zukunft sorgen – auch in seinem Betrieb.

 

★ Vom Bankdirektor zum ­Zitrusbauer

Niels Rodin wurde am 1. April 1975 in Lausanne geboren. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung als Techniker in der Tessiner Textilindustrie, bevor er 2001 ein eidgenössisches Wirtschaftsdiplom erwarb. Erst arbeitete er als Banker, dann als Steuerexperte in Genf. Im Alter von 40 Jahren war er Bankdirektor und erkannte, dass er sich nichts mehr beweisen musste. Andere Werte traten in den Vordergrund, wie das persönliche Wohlbefinden und die Ökologie. So gründet er 2009 seinen Betrieb für die Produktion von Zitrusfrüchten. «Ich liebe Landwirtschaft, Geschichte, Kochen und die Bewirtung von Gästen. Die Nullen auf dem Bankkonto sind verschwunden, aber die Freude, morgens aufzustehen und in einem Umfeld zu arbeiten, in dem man sich wohlfühlt, weil man eine tolle Arbeit macht, ist unbezahlbar. Ich verlasse mein Haus und bin in meinen Gewächshäusern: Das ist der ultimative Luxus! Ich bereue nichts, denn diese Schritte haben mich wachsen lassen.»