Gastronomie

Die Französin mit den acht Sternen

Reto E. Wild – 21. Mai 2021
In Frankreich ist sie ein Star: Anne-Sophie Pic, mit drei Michelinsternen ausgezeichnete Spitzenköchin aus Valence und zuständig für das Gourmetrestaurant im Hotel Beau-Rivage in Lausanne. Im Interview erklärt sie ihre Philosophie, den Umgang mit dem Lockdown und wieso sie so begeistert von der Schweiz ist.

Das GastroJournal trifft die französische Spitzenköchin Anne-Sophie Pic Ende April 2021 in ihrem gleichnamigen Gourmetrestaurant im Luxushotel Beau-Rivage in Lausanne-Ouchy VD. Die zierliche, empathische Frau, die trotz ihren Erfolgen bescheiden geblieben ist, entschuldigt sich für die Verspätung und kompensiert diese mit sprudelnder Energie und visionären Antworten. Statt während des Gesprächs Masken zu tragen, entscheiden wir uns für mehr Abstand.

Anne-Sophie Pic, wie oft reisen Sie in diesen speziellen Covid-Zeiten nach Lausanne?
Anne-Sophie Pic: Vor dieser Reise war ich letztmals im Dezember 2020 im Beau-Rivage, um die Wiedereröffnung des Hotelrestaurants vorzubereiten, das letztlich nur gut 15 Tage offen war, weil ja ab dem 22. Dezember 2020 schweizweit wieder alle Restaurants geschlossen wurden. Aber mein Chef in Lausanne, Kévin Vaubourg, reiste schon dreimal nach Valence (dort, am linken Rhoneufer zwischen Lyon und Avignon, steht seit 1889 das Hotelrestaurant Maison Pic, Anmerkung der Red.).

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit ihm?
Er kommt jeweils drei, vier Tage zu uns nach Valence in Frankreich. Wir arbeiten gemeinsam an neuen Rezepten und sprechen über die Kombination von Geschmack und Struktur der Gänge. Dabei bilde ich einen aromatischen Rahmen. Gemeinsam finalisieren wir nachher die Menüs. Wenn ich in Lausanne bin, schaue ich, ob die Umsetzung so ist, wie ich mir im Detail das vorstelle.

Sie stehen unter permanentem Stress, denn eigentlich sind Sie mit allen Ihren Restaurants eine Achtsterne-Chefin: Drei Michelinsterne haben Sie mit dem Restaurant Pic in Valence, je zwei Sterne in Lausanne sowie im La Dame de Pic London und einen im La Dame de Pic Paris.
Tatsächlich ist das ein gewisser Druck. Andererseits sucht man bei einer Restauranteröffnung auch nach Anerkennung. Die meiste Zeit achte ich nicht auf Sterne, sondern auf die Anerkennung der Arbeit unseres Teams durch die Gäste.

Neben Lausanne, Valence, Paris und London haben Sie mit Singapur einen fünften Standort. Planen Sie weitere Eröffnungen?
Wir haben tatsächlich Pläne für weitere Orte. Doch diese mussten wegen der Pandemie verschoben werden und sind deshalb noch nicht spruchreif. Sicher werden wir in Dubai ein Restaurant eröffnen. Es befindet sich in einem Gebäude, das derzeit renoviert wird. Deshalb dürfte es noch mindestens 1,5 Jahre dauern, bis wir dort so weit sind.

Zusätzlich betreiben Sie eine Kochschule, die auch Kindern offen steht. Wie stark sind Sie tatsächlich noch Küchenchefin und wie viel eher Managerin?
Eine gute Frage. Ich bin ja nicht Besitzerin aller Restaurants. Mein Mann und ich haben uns die Arbeit aufgeteilt: Er kümmert sich um das Geschäft und ich um die Küche. Klar manage ich auch den Service und die Teams, gebe ihnen eine Struktur und bringe das Personal in gewisser Weise dorthin, wie ich es mir vorstelle. Aber letztlich bin ich für die Kreativität der Menüs verantwortlich.

Wie meinen Sie das mit der «gewissen Weise»?
Ich stamme aus einer Familie, die seit vier Generationen in dieser Branche arbeitet. Wir haben eine Charakteristik, die sich von anderen unterscheidet. Das kultivieren wir. Wir wollen besser sein.

Auch andere Sternechefs wollen besser sein. Was ist Ihr Merkmal?
Die Art, wie wir unsere Gäste willkommen heissen. Wir führen wie eine Familie. Unsere Gäste sollen von einem Service auf höchstem Niveau verwöhnt werden, sich aber wie zu Hause fühlen. Das ist sehr wichtig für uns. Ich bin aber auch immer offen, um neue Technologien oder Zutaten auszuprobieren.

Nun befinden wir uns aber gerade in der grössten Krise der Gastronomie seit dem Zweiten Weltkrieg. Was haben Sie deshalb in Lausanne und Valence verändert?
Auch wir müssen den Service anders organisieren, für mehr Abstand zwischen den Tischen sorgen. Gleichzeitig ist die herausfordernde Zeit auch eine Chance für uns, weil wir noch mehr Produkte von lokalen Anbietern in unsere Menüs integrieren. Die Zeit, die es dafür braucht, haben wir jetzt. Wir besitzen in Lausanne zudem ein Treibhaus mit aromatischen Pflanzen. Mit diesen wollen wir Selbstversorger sein. Ich bin aus dem Rhonetal. Deshalb sind für mich solche Pflanzen wie Thymian oder Rosmarin sehr wichtig.

Was empfehlen Sie den Beizern, um diese Krise zu meistern?
In Frankreich nützt uns die staatliche Hilfe sehr. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich entschieden, die Betriebe nicht zu stoppen und neue Jobs zu kreieren. Unter «click & collect» verschicken wir Menüs in ganz Frankreich. Sogar Pariser Hotels, welche die Küche geschlossen haben, bestellen bei uns. Wöchentlich liefern wir rund 250 Menüboxen aus. Eine Vorspeise, ein Hauptgang je aus Fleisch und Fisch sowie ein Dessert kosten 78 Euro. So sind wir weiterhin mit den Gästen verbunden und können neue Kundensegmente dazugewinnen. Bei der Zubereitung helfen die Angestellten aus den Teams im Turnus mit, damit sie nicht aus der Übung kommen. Die Krise hat wenigstens den Vorteil, dass sie Talente zutage fördert, von denen wir gar nichts wussten. Sich auf die Situation einzustellen und diese zu adaptieren, ist das Beste, was man machen kann.

Wie finden Sie Ihre lokalen Produzenten?
Ich arbeite nun seit rund zwölf Jahren auch in Lausanne. In dieser Zeit ist eine Vielzahl an Produzenten zusammengekommen. Inzwischen erhalte ich auch Anfragen für eine Zusammenarbeit. Oder ich frage Erzeuger, ob sie einen Tipp haben. Grundsätzlich bin ich immer sehr offen für neue, qualitativ hochstehende Produkte. Mir ist der Fokus auf lokale Produkte wie etwa Fisch vom Lac Léman sehr wichtig, um so den Spirit des Orts in meinen Gerichten zu transportieren.

Arbeiten Sie noch immer mit der Unterwalliser Winzerin Marie-Thérèse Chappaz zusammen?
Selbstverständlich. Sie ist einfach «wow». Gemeinsam mit Christine Vernay vom gleichnamigen Weingut aus dem Rhonetal organisierten wir drei Frauen auch schon einen speziellen Abend, der bei den Gästen sehr gut ankam.

Was ist Ihr Lieblingswein von Chappaz?
Ich mag alle ihre Weine. Frauen sind talentiert für Weisse. Ich schätze sehr, dass Marie-Thérèse auf biodynamische Produkte setzt. Sie arbeitet mit so viel Leidenschaft. Auch Christine ist eine Pionierin im biologischen Rebbau.

Ihr neues Degustationsmenü in Valence ist in Sequenzen gegliedert, wie eine Art Ritual. Dort vermählen sich Gerichte mit Getränken, mit oder ohne Alkohol.
Dieses Konzept werden wir ab September in Lausanne einführen. Die Argentinierin Paz Levinson ist Chefsommelière für alle unsere Betriebe. Sie war ursprünglich eine Dichterin und entschied sich, in die Welt des Weins einzutauchen. Heute weiss sie aber auch sehr viel über Tee und Kaffee und andere nichtalkoholische Getränke. Wir mögen Wein. Aber wir wollen jenen, die keinen Alkohol trinken, beispielsweise zum Mittagessen, eine Alternative anbieten. Deshalb gibt es ab September die alkoholfreie Getränkebegleitung auch in der Schweiz. Die Vorbereitung dazu ist wie Alchimie und verlangt viel Arbeit.

Wie schwierig ist es, in dieser Zeit das richtige Personal für Küche und Service zu finden?
Die meisten Angestellten in Lausanne kommen aus Frankreich. Seien wir ehrlich: Wenn die Franzosen in der Schweiz arbeiten, wollen sie nicht mehr zurück, weil sie es lieben, hier zu arbeiten. Die Sprache, die Nähe zu Frankreich und eine gewisse Unbeschwertheit werden sehr geschätzt. Viele Angestellte rekrutieren wir aus dem Team in Valence, wo wir sie auch ausbilden. Wenn sie bereit sind, bieten wir ihnen den Wechsel in die Schweiz an. Dabei schauen wir darauf, dass die Teams gemischt sind. Denn wenn Frauen und Männer zusammenarbeiten, gibt das eine bessere Stimmung und eine höhere Arbeitsqualität, als wenn nur Männer oder nur Frauen untereinander sind.

 

Anne Sophie Pic 02 JFMALLET 210521

Anne-Sophie Pic in ihrer Küche. (Bild: J. F. Mallet)

Weshalb gibt es eigentlich noch immer so wenig Frauen in der Spitzengastronomie?
Einige geben auf, wenn sie eine Familie gründen. Das ist ähnlich wie in der Wirtschaft. Ich habe das Glück, einen Ehemann zu haben, der mich in meiner Arbeit unterstützt, sodass ich meine Passion leben kann. Selbstverständlich unterstütze auch ich Frauen im Beruf. Frauen in unserer Familie haben Tradition: Meine Urgrossmutter Sophie gründete 1891 das Restaurant L’Auberge du Pin.

Sie reden immer wieder begeistert über die Schweiz.
Ja, ich liebe die Schweiz sehr. Sie ist mein zweites Zuhause. Ich hoffe, dass mich die Schweizer einst adoptieren. Und ich bin sehr interessiert an lokalen Produzenten. Gestern traf ich Fromagier Jacques Duttweiler aus Thierrens VD. Mit ihm zusammen haben wir im Garten des Hotels Beau-Rivage einen für die Öffentlichkeit zugänglichen Markt mit lokalen Produzenten kreiert. Er findet dieses Jahr am letzten Freitag im August, also am 27.8., statt. Marie-Thérèse Chappaz ist auch dabei. Das ist für mich ein Beitrag an meine Partner, eine Art Dankeschön, denn ohne sie könnte ich nicht kochen.

Weshalb die Schweiz?
Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich bin ein grosser Fan der etwas gelasseneren Lebensart. Am Anfang weiss man nicht so genau, wie man den Schweizern begegnen soll. Doch letztlich sind sie sehr treu. Sie und ihre Produkte geben mir eine erstaunliche Inspiration.

Wann sind Sie am kreativsten?
Degustationen und Begegnungen machen mich kreativ. Vor zwei Tagen war ich mit Michaël Berthoud von Cueilleurs Sauvages aus Pully VD unterwegs. Er hat mir viele wild wachsende Pflanzen gezeigt, etwa Bärlauch oder Schwarzen Holunder. Beim Arbeiten im Wald habe ich viele Dinge entdeckt, die ich in meine Menüs einfliessen lassen möchte.

Sie haben eine Vielzahl von Gerichten kreiert. Was ist Ihr persönlicher Favorit?
In Lausanne ist das ein Moitié-Moitié-Käsefondue aus Freiburger Vacherin und Gruyère, das ich in einen feinen Teig verpacke. In diesem Berlingot genannten Gang steckt viel Schweiz.

Was kochen Sie am liebsten, was weniger gern?
Ich koche alles gerne. Es gibt bei mir jedoch immer wieder Phasen. Einmal mag ich Fisch sehr, dann wieder Gemüse und nachher komme ich wieder zum Fleisch zurück. Klar, heute essen wir weniger Fleisch als früher. Aber ich möchte nichts ausschliessen.

Trotzdem die Frage: Eine bekannte Menükreation von Ihnen ist «Thon cru au fois gras avec une gaufrette au sesame et sorbet à la moutarde de Chine». Ist es noch zeitgemäss, Meerfisch zu verwenden, wenn man weiss, welchen Schaden der weltweite Fischfang anrichtet?
Eine gute Frage. Wir haben im Februar und März unsere Fischlieferanten kontaktiert. Ich schaue darauf, wann wir was und wo einkaufen. Es gibt beispielsweise eine Fischfangsaison für Weissfisch. Die respektieren wir. Wir bereiteten sechs Jahre lang keinen Thunfisch mehr zu. Heute verwenden wir nur noch solchen aus dem Mittelmeer. Eine Alternative könnten Fischzuchten sein, deren Qualität immer besser wird. In der Schweiz setzen wir auf Forelle und Felchen. Aber auch diese sind in der Menge reglementiert.

Ihr Sohn Nathan ist 16 Jahre alt. Wie stark ist er daran interessiert, als fünfte Generation der Familie Pic in der Gastronomie zu arbeiten?
(lacht) Sehr, weil er die Hotellerie- und Restaurationsfachschule Institut Paul Bocuse in Lyon besuchen möchte.

 

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Geburtstag einer Grand Old Lady
Dieses Jahr feiert das Luxushotel Beau-Rivage seinen 160. Geburtstag. Das Fünfsterne-Hotel mit seinen 168 Zimmern (34 davon sind Suiten) befindet sich im grünen Lausanner Stadtviertel Ouchy am Lac Léman, umgeben von einem vier Hektar grossen Park, in Nachbarschaft zum sehenswerten Musée Olympique. Besitzerin des Mitglieds von Leading Hotels of the World und Swiss Deluxe Hotels ist die familiengeführte Sandoz-Stiftung, zu der die Häuser Angleterre & Résidence (ebenfalls in Lausanne), Palafitte bei Neuenburg (erstellt für die Expo.02) sowie das Riffelalp Resort ob Zermatt VS gehören.
Das Aushängeschild des Beau-Rivage ist das mit 18 GaultMillau-Punkten sowie zwei Michelinsternen dekorierte Gourmetrestaurant von Anne-Sophie Pic. Chef ist der Franzose Kévin Vaubourg (28), der seit 2019 Souchef in Lausanne war und vorher im Maison Pic arbeitete. Im Keller des Beau-Rivage lagern 70 000 Weinflaschen. Er gehört damit zu den grössten Europas. Das kulinarische Angebot runden eine elegante Brasserie, das japanische Restaurant Miyako sowie ein kleines Angebot in der Lobby Lounge ab.