Nur der Knopf im Ohr fehlt. Wer Francesco Benvenuto (40) nicht kennt, könnte gut und gerne meinen, er sei der Türsteher, der Sicherheitsverantwortliche des Events: weisses Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Anzug – er sitzt perfekt und betont die sportliche Statur. Mal erhellt ein Lächeln sein Gesicht, die Augen beobachten still. Schauplatz ist das Grand Resort Bad Ragaz, der Anlass heisst «Faszination Pinot Noir». Vordergründig stehen der Wein und die Winzer im Fokus. Preziosen aus der Bündner Herrschaft, junge wie gereifte. Spitzenwinzer Martin Donatsch greift besonders tief in den Keller und bringt den 1977er-Pinot Noir «Spiger» mit, den sein Vater kelterte. Georg Fromm beweist mit seinem Malanser Blauburgunder 1994, dass vereinzelte Weinproduzenten schon vor 30 Jahren auch beim Basiswein auf Qualität setzten. Winzerkollegen und Weinfreaks kommen in den Genuss dieser Tropfen und spannender Podiumsgespräche. Und im Hintergrund wacht Benvenuto. Über die Weinraritäten? Nein. Der Weindirektor des Resorts verfolgt mit dem von ihm perfekt orchestrierten Anlass ein bestimmtes Ziel. «Ich möchte die Schweizer Sommeliers besser vernetzen», erklärt er. «In Deutschland etwa ist das längst der Fall, hierzulande nicht. Wir sollten die Begeisterung für den Wein und für unseren Beruf miteinander teilen.»
Nur anonymer Dienstleister?
Eine neue Weinserie wird eingeschenkt. Die Sommeliers gehen mit den Flaschen durch den Raum. Es sind mehr als ein Dutzend Sommeliers, die an diesem Wochenende eifrig Flaschen öffnen, probieren, kredenzen. Mit dabei ist nicht nur die hauseigenen Weinexperten. Grosse Namen wie Christoph Kokemoor, die Koryphäe des Basler Dreisternerestaurants Cheval Blanc, arbeiten Hand in Hand mit ambitionierten Jungprofis wie Martina Wilhelm, die im Zürcher Impact Hub als Events & Booking Coordinator engagiert ist. «Eine tolle Erfahrung, sehr inspirierend», findet die Absolventin der Hotelfachschule Zürich.
In Zeiten des Fachkräftemangels fehlt es zahllosen Restaurants und Hotels insbesondere an Servicefachleuten. Die häufig genannten und bekannten Gründe: lange, unpassende Arbeitszeiten, tiefe Löhne, aber auch fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und Perspektiven. Während Köche vom eigenen Restaurant, von Signaturgerichten, Punkten und Sternen träumen, sehen Servicemitarbeitende oft höchstens die Chance auf eine leitende Servicefunktion. Während das Publikum die Köche mit Namen kennt, bleiben Servicemitarbeitende meist anonyme Dienstleister. Dabei gäbe es sie durchaus: jene Position innerhalb des Serviceteams, die spannender ist als andere. Jene, in welcher der Austausch mit dem Gast so persönlich und vertraut sein kann, sodass dieser nicht nur wegen der grandiosen Küche zum Stammgast wird: der Sommelier.
Mit dem VW-Bus durch Europa
Doch wie wird man denn eigentlich Sommelier? Wie taucht man in diese unendlich grosse Weinwelt zielführend ein? «Passion und ein gewisses Grundinteresse braucht man», glaubt Wilhelm. Die 26-Jährige verzichtete bis vor sieben Jahren gänzlich auf den Alkoholkonsum, mittlerweile hat sie das Weinfieber erfasst. «Diese Eigenschaften schlummerten zwar in mir, aber anfangs hatte ich zu viel Respekt. Man braucht einen Mentor oder jemanden im Betrieb, der gewillt ist, dich ins Thema einzuführen. Danach gibt es so viele Möglichkeiten, sich zu vertiefen. Podcasts, Social Media, Filme, Bücher, Events oder natürlich Winzerbesuche.»
Oliver Friedrich, der den Alten Torkel in Jenins GR führt und dort die tiefgründigste Bündner Weinkarte aufgebaut hat, arbeitete zuvor in mehreren Dreisternelokalen. Er erinnert sich gerne an seine Anfänge: «Als Jungsommelier kaufte ich mir einen alten VW-Bus und fuhr drei Monate lang durch Europa. Von jenen Geschichten, die ich da erlebte, erzählte ich den Gästen später im Dreisternerestaurant. Nicht von irgendwelchen Degustationsnotizen. Das interessiert keinen.» Was für Friedrich einen guten Sommelier ausmacht: «Menschenkenntnisse, sich in den Hintergrund stellen, auf den Gast eingehen, Wünsche ablesen, ehe diese ausgesprochen sind. Und etwas Neues, Überraschendes bieten können.»
Benvenuto pflichtet ihm bei: «Empathie und der Wunsch, das Vertrauen des Gasts zu erlangen, sind für mich essenziell.» Will ein Gast nicht mehr als 70 Franken für einen Wein bezahlen, müsse er sich so wohl fühlen, dass er diesen Wunsch aussprechen könne. «Und dann haben wir genügend gute Weine in diesem Preissegment.» Gut möglich aber, dass der Gast sein Portemonnaie beim nächsten Besuch gerade deshalb weiter öffnet. Mit ehrlichem Service und ebenso überzeugend wie unprätentiös präsentiertem Weinwissen lasse sich manch ein Gast, der sich besonders wahrgenommen fühlt, gerne auf eine spezielle Empfehlung ein, ist Martin Donatsch überzeugt. Der Malanser Winzer speist gerne im Restaurant und weiss kompetente Sommeliers zu schätzen: «Wer auf gute Sommeliers setzt, erhält andere Gäste. Jene, die gerne Geld für guten Wein und eine gute Weinberatung ausgeben, sind Genussmenschen. Die geben auch mehr Geld fürs Essen aus.»
Francesco Benvenuto: Der 40-Jährige arbeitet seit elf Jahren im Grand Resort Bad Ragaz. Zuletzt war er sieben Jahre Chef-Sommelier und Gastgeber im hoteleigenen Restaurant Igniv by Andreas Caminada. Seit einem Jahr ist er gemeinsam mit Amanda Wassmer-Bulgin Weindirektor des Resorts. (Foto: Yanik Bürkli)
Weinclub für Mitarbeitende
Das Grand Resort Bad Ragaz beschäftigt sechs Sommeliers im Haus. «Ja, das kostet», weiss Weindirektor Benvenuto. «Aber am Ende gewinnt das Haus, weil es fachliche Kompetenz gegenüber dem Gast zeigen kann. Und weil es nach aussen zeigt, dass man hier als Mitarbeitender spannende Wege einschlagen kann und dabei unterstützt wird.» Betriebswirtschaftlich lohne es sich, in Sommeliers zu investieren: in Trainings, in Schulungen, ins Fördern von willigen Junggastronomen. In Mitarbeitende, die zwar auch im Service mittun, aber sich insbesondere um den Wein kümmern. «Das beginnt ja nicht erst vor dem Gast. Eine saubere Bewirtschaftung des Weinkellers, ein pünktlicher Einkauf, das persönliche Kennen der Winzer. Letzteres transportiert man dann an den Gast, und das zahlt sich garantiert aus.»
Die Weindirektorin Amanda Wassmer-Bulgin eröffnete sogar einen internen Weinclub für Resort-Mitarbeitende. Im Angebot stehen Trainings und Schulungen zu allen möglichen Themen rund um die Weinwelt: Pairings, Biodynamie, Sherry, eine Rebsorte, eine Weinregion. Jeder Sommelier darf präsentieren. Die Teilnahme ist freiwillig, aber stark erwünscht. Alle Resort-Mitarbeitenden sind willkommen. «Der Weinclub ist mit Kosten verbunden», so Benvenuto. «Ich bin unserem Haus unglaublich dankbar, dass es sich die Umsetzung solcher Ideen leistet. Zudem haben wir alle zwei Wochen unsere Sommelier-Sessionen. Die sind nur für die Sommeliers im Haus. Da tauschen wir uns intern aus: Informationen, Änderungen, Degustationen. Amanda und ich entscheiden, aber bei der Entscheidungsfindung holen wir die Meinungen aller Sommeliers ein.»
«Ein Sommelier setzt sich nie in den Mittelpunkt»
Benvenuto scheiterte bei der Prüfung zum Weinakademiker. Ein Jahr lang hatte er damit zu kämpfen. «Aber der Weg geht weiter. Ich will mich immer weiterentwickeln.» Wäre er mit jenem Diplom ein besserer Sommelier? Kaum. Benvenutos Fokus bei der Arbeit vor dem Gast galt stets der Frage: Was braucht der Gast? Woran hätte er Freude? Er weiss, an welchem Tisch das Paar beim letzten Besuch gesessen und welchen Wein die Dame ganz besonders genossen hatte. Im rechten Moment erzählt er eine spannende Geschichte über einen Winzer, dessen Wein er gerade einschenkt. «In meinen Augen ist vor dem Gast ein perfekter Sommelier der Botschafter eines Weinguts. Er fühlt sich in den Gast hinein, er setzt nie sich selbst in den Mittelpunkt.»
Nur bei «Faszination Pinot Noir», da stehen die Sommeliers für einmal im Mittelpunkt. «So ein Anlass ist sehr toll», findet Sabrina Schmidt (mit Francesco Benvenuto auf dem Titelbild des GastroJournals zu sehen), Chef-Sommelière im Restaurant Verve by Sven im Grand Resort. «Köche haben immer wieder solche Events, an denen sie gemeinsam kochen. Wir gehören zwar irgendwie dazu, mehr aber nicht. Wir sind nur Tellerträger oder Glasvollmacher. Ich stand heute Nachmittag im Saal, blickte in die Runde und dachte: Crazy, so viel geballte Kompetenz.» Als die Sommeliers während Benvenutos Eröffnungsrede einmarschieren, verliert sogar der sonst so souveräne Türsteher kurz die Fassung: «Ein magischer Moment.»