«Macht hat mich nie interessiert»

Reto E. Wild – 29. Juni 2023
Nach den legendären Köchen Anton Mosimann und Franck Giovannini gewinnt mit Rudi Bindella ein Vollblutgastronom die «Flamme de l’accueil» von GastroSuisse. Im Interview mit dem GastroJournal teilt Bindella seine über 40-jährige Branchenerfahrung, verrät seine Arbeits- und Geschäftsphilosophie und sagt, wie die aktuellen Herausforderungen zu meistern sind.

Rudi Bindella, was bedeutet Ihnen die Auszeichnung «Flamme de l’accueil» von GastroSuisse?
Rudi Bindella (RB): Das ist für mich eine besondere Form von Wertschätzung und Anerkennung. Wer freut sich nicht über so eine Ehrung! Ich bitte Sie, auch Daniel Müller zu interviewen. Wir haben das Unternehmen knapp 30 Jahre gemeinsam geführt. Ich bin nicht der Superstar.

Trotzdem die Frage an den Preisträger: In welchem Zustand sehen Sie die Branche im Jahr 1 nach Corona?
RB: Sie befindet sich in einem starken Umbruch. In der Gesellschaft stelle ich ein Auseinanderdriften zwischen Leistungsbereitschaft und Ansprüchen fest. Das ist nicht nur in der Gastronomie so. Unser Wohlstand hat dazu geführt, dass es uns zu gut geht. Die Work-Life-Balance steht bei der neuen Generation im Zentrum. Früher hiess es, ich arbeite. Das war das Wichtigste. Das hat jetzt nach meinem Dafürhalten zu stark gedreht und erschwert die Entwicklung. Wir haben zwar den schönsten Beruf. Der ist aber auch sehr anspruchsvoll, arbeitsintensiv, körperlich belastend und anstrengend. Wir alle hätten in der Vergangenheit mehr machen müssen, um das Ansehen der Branche und unserer Berufe aufzuwerten. Gleichzeitig haben wir heute das Problem einer ungenügenden Wertschöpfung, um attraktive Löhne zu zahlen.

Wie soll die Branche aus diesem Dilemma kommen?
RB: Einerseits müssen die Betriebe die Wertschöpfung verbessern. Andererseits wäre es wünschenswert, wenn die Gesellschaft nicht nur für Ferien, Autos und Kosmetik mehr bezahlen würde, sondern auch für das Urbedürfnis Essen. Wenn die Dienstleistung und die Qualität stimmen, dürfen wir in den Betrieben auch höhere Preise verlangen, was den Mitarbeitenden zugutekäme.
Daniel Müller (DM): Ich empfinde die Branche momentan als sehr fragil, obwohl wir gut arbeiten und aus der unsäglichen Pandemie rausgekommen sind. Der Gast gibt wieder Geld für Firmenanlässe, Taufen und Geburtstage aus, während noch im Februar 2022 die Grossmutter lieber zu Hause blieb. Es gab auch keine Braut, die sich mit Maske fotografieren lassen wollte, Hochzeiten waren tabu, ein wichtiges Segment für die Branche. Jetzt braucht es aber einen Neustart und einen Ruck in der Branche, unterstützt vom Verband, der sich während der Pandemie stark für uns einsetzte. Wir haben wohl den schweizweit bekanntesten Präsidenten aller Verbände. Wir Gastronomen müssen nun den Mut haben, den Preis zu verlangen, der dem Wert einer Dienstleistung entspricht.

Wie sollen die Betriebe das umsetzen?
RB: Der Fünfpunkteplan von GastroSuisse ist eine Möglichkeit. Wichtig ist, ein positives Image aufzubauen, damit über unsere Branche gut geredet wird. Wir verdienen Geld mit Kaffee, Mineral und Wein. Das Rindsfilet wird viel zu preiswert angeboten. In der Hochsaison sind Hotels teurer, der Einsatz eines Sanitärmonteurs an einem Samstag kostet mehr. Weshalb verlangen wir in Restaurants nicht auch mehr an einem Abend oder an einem Samstag? Wir müssen uns emanzipieren. Nochmals: Wir haben den schönsten Beruf, Gastgeber zu sein und Gäste zu bedienen. Doch mit der demografischen Entwicklung stellt sich die Frage, wie wir die Jungen begeistern können.

Wie?
RB: Wichtig ist, gute Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und zu unseren Schwächen zu stehen. Die Zimmerstunde ist für viele Arbeitnehmer von heute ein Stress. Wir müssten es schaffen, die Angestellten besser zu entlöhnen – wenn wir die richtigen Preise für die Gerichte verlangen.

Wie gut ist Bindella als Unternehmen 2023 unterwegs?
RB: Wir beschäftigen in der Gastronomie stabil rund 1000 Mitarbeitende und erwarten dieses Jahr einen Umsatz von 160 Millionen Franken. Das entspricht expansionsbereinigt einem Zuwachs von fünf Prozent.
DM: Und drei Prozent davon betreffen die Inflation, die bei uns der Gast bezahlt. Es gab so viele Preiserhöhungen: Papier, Tomaten, Olivenöl, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Beinahe jeder Vertriebspartner kommt mit einem Aufschlag. Jemand muss das bezahlen. Entweder ist das der Kunde oder der Wirt. Wer diese Rechnung nicht richtig macht, wird in Schwierigkeiten geraten.

In welchem Bereich könnte Bindella expandieren? Zum Thema Weinbau sagte Ihr Sohn in einem Interview «Italien ist lang». Kommen mehr Restaurants infrage?
RB: Jede Expansion bedeutet vorübergehend eine Destabilisierung. Deshalb muss man sich überlegen, in welchem Ausmass und in welchem Tempo man vergrössern möchte. Die Herausforderung besteht darin, das richtige Mass zu halten. Das sehe ich auch in der Politik. Wir haben sehr viele Werkzeuge und können damit in den Betrieben noch mehr Tiefgang und damit ein besseres Ergebnis erzielen. Unser Generationenwechsel könnte ein Grund sein, jetzt zu konsolidieren. Mein Sohn wird sich gut überlegen, was wir zusätzlich machen. Ich will ihm nicht dreinreden.

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GastroSuisse zeichnet den vitalen Rudi Bindella mit der «Flamme de l’accueil» für seine Verdienste im Gastgewerbe aus. (Foto: Reto Schlatter)

Sie übergaben die operative Führung im Mai 2023 Ihrem Sohn Rudi Bindella jun.
RB: Wir haben das in zwei Schritten vorgenommen: Als ich 70 wurde, übergab ich meinem Sohn die Verantwortung für unsere Gastronomie, das Personal und das Marketing. Anlässlich meines 75. Geburtstags haben auch die Bereiche Wein, Immobilien, Finanzen und Rechnungswesen zu ihm gewechselt. Der zweite Schritt war kleiner. Operativ arbeite ich ähnlich weiter. Mir ist es ein Anliegen, meinen Sohn zu begleiten, damit die Ablösung möglichst gut gelingt. Dazu stelle ich ihm meine Zeit, meine Erfahrung und mein Wissen zur Verfügung. Jeden Montag haben wir eine Dreiersitzung mit meinem Sohn und Daniel Müller. Ich darf meine Meinung einbringen, habe aber keine Stimme mehr. Die operative Verantwortung muss messerscharf getrennt sein.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die ganze Macht abgetreten haben?
RB: Macht hat mich nie interessiert. Ich wollte mich nur unternehmerisch betätigen. Ich habe deshalb kein Problem, bei der operativen Verantwortung loszulassen. Mein Sohn hat unsere Vision und unsere Werte übernommen und geht mit den Mitarbeitenden respektvoll und wertschätzend um. Das ist das Wichtigste. Fachkompetenz kann man aufrüsten, aber Loyalität und Treue nicht. Mir war es ein Anliegen, diese Werte in der Erziehung mitzugeben.
DM: Ich habe mit Rudi Bindella über so viele Jahre zusammengearbeitet. Dann kam der Wechsel. Und vom einen auf den anderen Tag war Rudi Bindella jun. verantwortlich. Kompliment an beide, wie sie diese Herausforderung gemeistert ­haben. Mich hat es überrascht und berührt, wie einfach der Patron Rudi Bindella loslassen und seinem Sohn die Verantwortung übertragen konnte.

Ihnen selbst, Rudi Bindella, wurde die Verantwortung von Ihrem Vater Rudolf Bindella 1982 übertragen. Wie erlebten Sie den Moment?
RB: Ich durfte immerhin sieben Jahre an der Seite meines Vaters arbeiten und dachte immer, so möchte ich auch mal werden. Er hat mich als Mensch fasziniert, unabhängig von der Branche. Wenn wir rote Gummiboote verkauft hätten, wäre ich heute in dieser Branche. Mein Vater liess mich sehr frei arbeiten.

Was braucht es für eine erfolgreiche Nachfolgeplanung?
RB: Eine klare Vision, wohin die Reise gehen soll. Sie müssen bereit sein, einen grossen Einsatz zu leisten. Fleiss, Durchhaltevermögen und Feingefühl gegenüber Kunden und Geschäftspartnern sind ebenso wichtig. Und Sie benötigen Freude am unternehmerischen Risiko. Wenn Sie mal auf dem Rücken liegen, kann das der beste Wegweiser im Leben sein. Erfolgt die Nachfolge durch die eigenen Kinder, müssen diese die Werte weiterleben. Das sind hohe Anforderungen. Deshalb ist es sinnvoll, eine Zeit Seite an Seite zu arbeiten. Wenn Sie ein Unternehmen führen wollen, geht das nicht vom Golfplatz oder von einer Yacht auf dem Mittelmeer aus. Ich bin so aufgewachsen, dass ich morgens immer der Erste bin und abends der Letzte. Wenn es dem Unternehmen gut geht, geht es auch der Familie gut.

Um welche Zeit ist das?
RB: In der Regel starte ich um 5 Uhr und arbeite abends bis 22 Uhr. Mittags und abends bin ich meist in unseren Restaurants, um diese zu spüren. Am Samstag- und am Sonntagmorgen arbeiten wir auch – mit zwei F: freudig und freiwillig. Das ist die beste Zeit, um Dinge zu erledigen.

Wie schaffen Sie als 75-Jähriger dieses enorme Pensum?
DM: Er hat gute Leute wie mich (lacht).
RB: Das stimmt. Und Sie müssen von Natur aus die Kraft haben. Ich wollte schon immer die Nachfolge meines Vaters antreten. Damals hiess es, so einen wie meinen Vater wird es nie mehr geben. Doch weil ich nicht arbeiten muss, sondern will und darf, geniesse ich die Umgebung und die Zusammenarbeit mit unseren Mitarbeitenden sehr. Wir haben eine super Stimmung im Haus. Ich bin hier glücklich und für jeden Tag dankbar, den ich hier sein darf. Dazwischen esse ich gerne leicht und wenig. Wenn man in der Gastronomie erfolgreich sein will, muss man bereit sein, sehr viel zu arbeiten. Im Immobilienbereich kann ich ein Vielfaches mehr verdienen, aber das fasziniert mich nie so wie die Rolle des Gastgebers.

Sie würden auswärts leicht essen, sagen Sie. Was genau?
RB: Rohes Gemüse sowie alle Formen von Getreiden wie Polenta, Risotto oder Pasta. Fleisch und Fisch kommen auch auf den Teller. Aber am liebsten habe ich Pasta. Ich glaube, dass sich unsere Mitarbeitenden echt freuen, wenn ich eines unserer Restaurants besuche. Ich komme immer angemeldet und begrüsse auch alle in der Küche. Die Mitarbeitenden spüren mich als Freund und nicht als Mächtigen. Alle sind gleichwertig. Das sollte man die Mitarbeitenden spüren lassen. Nur sind sich dessen nicht alle in der Branche bewusst. Ich lebe das gerne vor.

Sie sind nun seit über vier Dekaden am Puls der Branche. Wie haben Sie den Wandel erlebt?
RB: Zu den Schlüsselereignissen gehörte die Liberalisierung in der Gastronomie. Es ist sinnvoll, dass jeder einen leichteren Marktzutritt und damit eine Chance hat. Das sorgte für eine Dynamisierung und Aufbruchstimmung in der Branche. Viele Quereinsteiger haben uns gutgetan und wachgerüttelt. Am Schluss profitiert der Gast davon. Die qualitativ hochstehende Auswahl im Angebot von Zürich ist einzigartig in der ganzen Welt.
DM: In jüngster Vergangenheit gehörte die Covidkrise zu den einschneidenden Ereignissen. Auch ich bin für die Liberalisierung. Aber wenn jeder aus einer Dreizimmerwohnung eine Beiz machen möchte, ist das der falsche Weg. Meiner Meinung nach braucht es einen Ausweis und eine Ausbildung, um einen Mindeststandard zu gewährleisten.

Wie fühlten Sie sich, als der Bundesrat während der Pandemie faktisch ein Berufsverbot für Gastronomen verhängte?
DM: Als der Bundesrat Mitte März 2020 dies verkündete, war das für uns traurig, unverständlich und in unserer Wohlstandsgesellschaft nicht vorstellbar. Der Staat hat gut und korrekt reagiert. GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer pilotierte den Verband sehr gut durch die Krise.
RB: Der Verband war nah bei den Betrieben. So ist die Fachgruppe Gastronomie Grossunternehmen entstanden. Erstaunlich ist, dass uns während der Pandemie die Linken und die Grünen angehört und geholfen haben. Nationalrätin Jacqueline Badran etwa oder Ständerat Roberto Zanetti. Die Bürgerlichen haben uns im Regen stehen lassen. Vom Hauseigentümer-Verband möchte ich gar nicht erst reden. Das war für mich die Arroganz des Kapitals oder eben der Immobilienbesitzer, unter denen viele Wirte gelitten haben.

Rudi Bindella, was würden Sie heute anders machen?
RB: In der gesamten Unternehmensentwicklung war es am anspruchsvollsten, den richtigen Rhythmus bei der Expansion zu finden. Es gab immer wieder Verlockungen. Deshalb ist es gut, dass bei uns ein Gremium entscheidet und so das richtige Mass hält. Wer sich überisst, bekommt Verdauungsprobleme. Wichtig ist, eine Expansion möglichst aus eigenen Kräften zu finanzieren.

Was haben Sie in nächster Zeit beruflich und privat vor?
RB: Jeder muss selbst herausfinden, welche Medizin am besten ist. Meine heisst weiterarbeiten, solange es meine Gesundheit zulässt. Die Entscheide fällt allerdings mein Sohn. Als Hobby arbeite ich am Samstagnachmittag im Garten, und ich spiele seit 1964 in einer Band Schlagzeug. Einmal im Monat treten wir an einem Musikabend auf und spielen Hits aus den 1960er-Jahren, von den Beach Boys bis zu den Beatles.
DM: Sie sehen, Rudi Bindella gibt auch in der Band noch immer den Takt an.
RB: Und keiner folgt ihm (lacht).

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Daniel Müller: «Jetzt braucht es einen Neustart und einen Ruck in der Branche, unterstützt vom Verband. GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer pilotierte den Verband sehr gut durch die Krise.» (Foto: Daniel Winkler)

★ Rudi Bindella und Daniel Müller

Rudi Bindella (75) übernahm 1982 von seinem Vater Rudolf die Geschicke des 1909 gegründeten Familienunternehmens Bindella. Per 24. April 2018 übergab er die operative Verantwortung für die Bereiche Gastronomie, Marketing und HR an seinen Sohn Rudi jr. (45), im Mai 2023 zusätzlich die Sparten Wein, Immobilien, Finanzen und Rechnungswesen. Rudi Bindella jr. wird nun von seinem Vater begleitend unterstützt.

Daniel Müller (64) ist seit 2003 Vorsitzender der Geschäftsleitung der Bindella-Gastronomie. Der diplomierte Hotelier, der als Hoteldirektor in ­Kanada, Saudi-Arabien und auf den Malediven verantwortlich war, arbeitet seit 25 Jahren mit den Bindellas zusammen, zuerst mit dem Vater und seit einigen Jahren zusätzlich auch mit dem Sohn.