Gastronomie
People

«Gurke passt ­hervorragend zu weisser Schokolade»

Alexander Kühn – 10. Oktober 2019
Kay Baumgardt von der Fernsicht in Heiden, soeben von GaultMillau zum «Patissier des Jahres» gewählt, zählt zu den innovativsten Patissiers Europas. Er erklärt, weshalb er lieber mit Kräutern und Gemüse als mit Zucker arbeitet.

Wie schmeckt das Dessert der ­ Zukunft?
Kay Baumgardt:
Es ist auf jeden Fall viel weniger süss und deutlich erfrischender als die klassischen Desserts, die man heute noch in vielen Lokalen findet. Ich habe schon vor zwei Jahren aufgehört, mit weissem Zucker zu arbeiten. Im Vergleich zu meiner Lehrzeit ist das eine Kehrtwende um 180 Grad. Welche Vorteile bringt der Verzicht auf Zucker?
Weniger Zucker bedeutet mehr Eigengeschmack. Zucker erschlägt das Aroma eines Produktes. Denken Sie nur an das klebrige Gelee auf Erdbeertörtchen. Ein Dessert ohne zusätzlichen Zucker funktioniert nur, wenn die verwendeten Früchte vollkommen reif und entsprechend aromatisch sind. Das erfordert, auch bei Süssem saisonal zu denken. Sie arbeiten aber ja längst nicht nur mit Früchten.
Das stimmt. Ich setze mich seit vielen Jahren intensiv mit Gemüse auseinander, wie viele andere Patissiers übrigens auch. Gemüse in Desserts ist nichts Verrücktes, sondern Teil einer geschmacklichen Harmonie. Eine Rüeblitorte findet ja auch niemand abenteuerlich. Es ist alles eine Frage der Gewöhnung. Stichwort Rüebli: Wozu ist es im Dessertbereich sonst noch gut?
Die Karotte passt dank ihrer aussergewöhnlichen Eigensüsse nicht nur zu buttrigen und nussigen Aromen, sondern ebenso zu säuerlichen. Ich denke da an Zitrusfrüchte wie Yuzu, Kalamansi oder Sudachi, aber auch an Passionsfrucht. Dasselbe gilt übrigens für Kürbis. Welche Techniken wenden Sie an, um den Eigengeschmack eines Produkts herauszuarbeiten?
Schon ganz einfaches Einkochen bringt sehr gute Ergebnisse. Eine Pastinake entwickelt so zum Beispiel ein sehr interessantes Aroma und eine dezente Süsse. Und dann ist da natürlich die Fermentation. Sie verdichtet den Geschmack und kitzelt zusätzliche Aromafacetten heraus. In Ihren Desserts tauchen immer wieder Kräuter auf. Warum?
Im Sommer runde ich meine Kreationen gerne mit einem Kräuteröl ab. Egal, ob dessen Basis nun Koriander, Estragon oder Majoran ist. Majoran habe ich kürzlich mit fermentierter Aprikose, Sauerrahm und Brotchips kombiniert. Eine herbe, kräutrige Komponente bringt Spannung und Leichtigkeit. Das ist gerade nach einem langen, sättigenden Menü ein entscheidender Vorteil. Da wünscht man sich keinen übersüssten Schokoladenkuchen. Schokolade gehört aber nun einmal zur Schweizer Dessertkultur.
Gegen Schokolade ist nichts einzuwenden. Nur sollte man auf eine mit hohem Kakaoanteil zurückgreifen, es mit der Menge nicht übertreiben und eben auf zusätzlichen Zucker verzichten. Ausserdem lässt sich ein Schokoladendessert mit anderen Komponenten auffrischen. Dunkle Schokolade verträgt sich sehr gut mit Rande. Ich habe sie aber auch schon mit Kalamata-Olive und Kalamansi oder mit Banane, Estragon und Gewürzmilch kombiniert. Und was war Ihre ungewöhnlichste Kreation?
Schokolade mit Gruyère und Holunderbeeren wahrscheinlich. Kein besonders leichtes Dessert, wegen der Salzigkeit des Käses aber ein sehr spannendes. Dass Salz mit Schokolade und Caramel harmoniert, hat sich ja schon länger herumgesprochen. Wie viel Progressivität kann man den Gästen zumuten?
Mehr als man denkt. Die meisten Leute, die zu uns kommen, sind sehr angetan davon, einmal andere Produkte in einem Dessert anzutreffen. So erschliessen sich ihnen neue Geschmackswelten. Gurke ist ein guter Einstieg. Man kann sie extrem variabel einsetzen, zum Beispiel als Gegenpart zu weisser Schokolade. Dass sie Säure und Schärfe verträgt, ist ein weiteres Plus. Wann kommt die Entwicklung in der Spitze beim breiten Publikum an?
Ich denke, der Stein ist schon ins Rollen geraten. Auch in der Industrie gibt es inzwischen Bestrebungen, den Zucker zu reduzieren, auch aus gesundheitlichen Überlegungen heraus. Wir haben im Dessertbereich viel zu lange viel zu sorglos gesüsst. Wer in seinem Restaurant keine Desserts mit Gemüse oder Kräutern anbieten möchte, kann Frische auch durch den Einsatz von Joghurt, Quark oder Sauerrahm schaffen. Ich persönlich schätze ihr mildes Aroma sehr und setze sie häufig ein. Ist der traditionelle Süsswein zum Dessert noch zeitgemäss?
Zu einigen meiner Desserts passt er nicht mehr, weil der geschmackliche Kontrast einfach zu gross ist. Ich befasse mich deshalb seit einiger Zeit mit Kombucha. Zu fermentierter Zwetschge, Buchweizen und Apfel etwa serviere ich ein mit Zwetschge und Apfel infusiertes Kombucha mit Limettenschaum und einer Sphäre aus frischem Zwetschgensaft. So schliesst sich der Kreis. Die Überlegungen, was ein gutes Dessert ausmacht, sollten nicht auf dem Teller aufhören. ---------------------- ★ Kay Baumgardt (37) ist seit 2016 Executive Pastry Chef in der Fernsicht in Heiden AR. Nach einer Bäckerlehre in seiner deutschen Heimat liess er sich in Charly’s Team Room in Gstaad BE zum Konditor weiterbilden, ehe er in die Spitzengastronomie wechselte. Vor dem Engagement in der Fernsicht war er unter anderem im Mannheimer Zweisternelokal Opus V und im mit einem Stern ausgezeichneten Adler in Asperg für die Patisserie verantwortlich. Baumgardt selbst isst zum Abschluss eines Menüs am liebsten Käse. Die Arbeit seiner Kollegen verfolgt der Norddeutsche mit grossem Interesse, seit der Geburt seiner Tochter im vorletzten Sommer kommt er aber nicht mehr so häufig dazu, Restaurants zu besuchen. Wenn es die Zeit doch einmal zulässt, geht er am liebsten zu Tohru Nakamura in München.