«Der grüne Michelin-Stern ist der schwierigste, den man bekommen kann»

Caroline Goldschmid – 17. August 2023
Chefkoch Nicolas Darnauguilhem blüht in der Pinte des Mossettes im fribourgischen Cerniat auf, wo er sich voll und ganz seiner Leidenschaft widmen kann: der regionalen Küche. Seine Vision der Gastronomie hat ihm einen grünen Stern im Guide Michelin Schweiz 2022 eingebracht, den einzigen in der Westschweiz – ein Beispiel für die ganze Branche.

«Der Tisch war der Ort, an dem das Glück aufgebaut wurde.» Nicolas Darnauguilhem wurde am 7. Januar 1981 in Genf geboren. Sein Vater stammte aus dem Südwesten Frankreichs, wo Nicolas seine Kindheit auf dem Bauernhof verbrachte, umgeben von Hühnern, Schweinen, Schafen, Kühen und Enten. Er hatte auch einen Garten, in dem Gemüse und Reben wuchsen. Er ist sich sicher, dass das Erfahren einer Umgebung, in der alles vor Ort produziert wurde, in ihm den Wunsch geweckt hatte, dasselbe zu tun. Seitdem hat er immer versucht, die Schönheit dieser bäuerlichen Welt wiederherzustellen. In der Pinte des Mossettes – dem einzigen Lokal in der Westschweiz, das im Oktober 2022 mit einem grünen Michelin-Stern ausgezeichnet wurde – wendet der Chefkoch die bäuerliche Philosophie auf die Gastronomie an. Der gesunde Menschenverstand, das Konzept der Wirtschaftlichkeit und der Respekt vor der Umwelt leiten Nicolas Darnauguilhem bei seinen beruflichen Entscheidungen.

Bevor er Anfang 2021 die Pinte des Mossettes übernahm, studierte er an der Hotelfachschule in Genf. Mit 29 Jahren ging er nach Brüssel, wo er sein erstes Restaurant, das Neptune, eröffnete. Fünf Jahre später, nachdem er seine Frau Sophie in Genf kennengelernt hatte (heute Architektin an der ETH Lausanne), beschloss er, seine Koffer in Brüssel zu packen und in Genf ein Gourmetrestaurant zu eröffnen, das ebenfalls Neptune hiess, sowie eine daran angeschlossene Weinbar, Le Tabouret. Nach drei Jahren wird das Neptune durch das Tablar ersetzt, das im März 2019 an den Start geht. Beide Geschäfte schliessen im März 2021. Heute scheint der Vater von zwei Kindern in Cerniat die perfekte Heimat gefunden zu haben. Wir treffen ihn in diesem Alphaus auf 1000 Metern über Meer.

 

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«Wenn man will, dass die Gastronomie weiter existiert, muss man sich auch um die Kunden bemühen!» (Foto: Nicolas Righetti)

Übersetzung: Oliver Borner

Wie hat sich Ihre Küche von der Eröffnung Ihres ersten Restaurants in Brüssel vor rund 13 Jahren bis zu dem, was Sie heute in Les Mossettes anbieten, entwickelt?
Nicolas Darnauguilhem: Der Ursprung meiner Küche liegt in der Kindheit, und ich habe nie damit aufgehört! Ich habe stets direkt mit meinen Produzenten gearbeitet, mit lokalen und saisonalen Produkten. Ich habe Wildpflanzen schon immer geliebt, denn mein Grossvater war italienischer Abstammung, und wir gingen als Kinder zusammen pflücken. Schon in Brüssel arbeitete ich mit einem Sammler und einer Botanikerin zusammen, die mich mit wilden und aromatischen Pflanzen versorgten.

Wie lässt sich Ihre Vision von Gastronomie zusammen­fassen?
Die grundlegende Philosophie besteht darin, eine Küche zu kreieren, die in einem bestimmten Gebiet verwurzelt ist, in der Saisonabhängigkeit und im Respekt vor der direkten und weiteren Umgebung.

Die Übernahme der Pinte des Mossettes hat diese Philosophie also noch verstärkt?
Sagen wir es so: Ich habe das Lokal übernommen, weil ich ein Restaurant wollte, das in einer Region verankert ist. Ich wollte das Terroir buchstäblich berühren (er lächelt). Und heute kann ich Ihnen genau sagen, woher jedes einzelne Element stammt, das serviert wird: das Rindfleisch, der Vacherin, das Gemüse und so weiter. Dieses Restaurant hat mich schon immer begeistert. Ich bin überzeugt, dass meine Küche in der Zeit, seit ich hier bin, sehr viel reifer geworden ist.

Inspiriert Sie auch die Tatsache, dass Sie einen grossen Gemüsegarten vor Ihrer Haustür haben und von Grün umgeben sind?
Ja, aber auch beim Fleisch, denn hier habe ich Zugang zu Wild, wie ich es in Genf nie hatte. Es ist nicht nur das Grün: Man verbindet Ökologie immer mit Pflanzen und vegetarischer Küche, aber ich glaube nicht, dass es darum geht, ganz mit dem Fleischessen aufzuhören. Es geht darum, wenig, aber qualitativ hochwertiges Fleisch zu essen, das aus der Jagd in der Region stammt. Man muss die Auswirkungen kennen, wissen, wie die Tiere gezüchtet und unter welchen Bedingungen sie geschlachtet werden.

Was kommt auf Ihre Teller?
Produkte aus dem Freiburgerland, der Romandie und der restlichen Schweiz sowie Jagdprodukte aus der Romandie. Ich möchte mit dem Jäger, ob er nun aus Thierrens oder dem Wallis kommt, über die Aufzuchtbedingungen sprechen, bevor ich ihm etwas abkaufe. Das Ziel ist es, ein gutes Essen zu kochen, aber auch die Leute kennenzulernen, die mich beliefern, und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Man muss immer neugierig sein, man braucht Anpassungsfähigkeit und Ehrlichkeit. Das sind drei zentrale Werte, die ich täglich anwende und die ich an meine Mitarbeitende weitergebe. Und das wird sich auch auf die Kunden übertragen, die verstehen, was wir tun, und bei uns eine echte Erfahrung machen. Ich könnte mir nicht vorstellen, diesen Beruf anders auszuüben.

Ihr Tag beginnt im Gemüsegarten?
Wenn ich entdecke, welches Gemüse gerade wächst, stelle ich mir mehrere Fragen: Wie soll ich es in mein Menü integrieren? Soll ich ein Gericht daraus machen? Soll ich eine Beilage ändern oder nur ein Amuse-Bouche daraus zubereiten, je nachdem, wie viel es ist? Unser «Salade des Mossettes» ist zu Beginn der Saison ein Wildsalat, der aus den vor dem Restaurant gesammelten Wildpflanzen hergestellt wird, später wird er zum «Salade du jardin des Mossettes». Die Basis ist die gleiche, aber die Zusammensetzung ändert sich je nach dem, was die Natur uns liefert: Salbei, Erdbeeren, Blumen und vieles mehr.

Sie haben einen Gemüsegarten und einen Garten, in dem Wildpflanzen wachsen, und die Produkte stammen aus ultrakurzen Kreisläufen. Was tun Sie sonst noch für die Nachhaltigkeit?
Bei der Abfallentsorgung muss ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie ich das Rüeblikraut verwerten soll. Es landet auf dem Kompost, wodurch auch die Erde und damit mein Gemüse ernährt werden. Ich verzichte auf bestimmte Produkte, beispielsweise solche, die aus dem Meer stammen. Aber ich möchte immer wieder betonen, dass es mein oberstes Ziel ist, dass die Gäste Spass am Essen haben und sich bei uns wohlfühlen. Das ist unser Beruf! Es geht darum, das Erlebnis einzigartig zu machen. Wenn ich also keinen Fisch aus dem Mittelmeer oder dem Atlantik serviere, hat das natürlich ökologische Gründe, aber es trägt auch dazu bei, die Identität des Hauses zu definieren.

La Pinte des Mossettes ist das einzige Lokal in der Westschweiz, das vom Guide Michelin Schweiz mit einem grünen Stern ausgezeichnet wurde. Hat diese Auszeichnung etwas für Sie verändert?
Sie hat mir eine gewisse Medienpräsenz verschafft, auch wenn ich finde, dass ihr noch nicht genug Bedeutung beigemessen wird. Schliesslich ist es im Moment der schwierigste Stern, den man bekommen kann. Wenn man die Anzahl der weltweit vergebenen grünen Sterne mit der Anzahl der Michelin-Sterne vergleicht, ist der Unterschied eklatant. Ich habe das Gefühl, dass der Guide nach Betrieben sucht, die sich wirklich für die Umwelt einsetzen und etwas Bemerkenswertes und anderes in dieser Richtung leisten. Es reicht nicht mehr aus, nur saisonale Produkte zu verwenden.

War der grüne Stern für Sie eine Überraschung?
Ich war zunächst enttäuscht, weil ich gerne sowohl einen Michelin-Stern als auch einen grünen Stern bekommen hätte. Aber ich habe schnell gemerkt, dass diese Auszeichnung konsequent ist, und ich bin sehr glücklich darüber. Jetzt mache ich auf diesem Weg weiter und hoffe gleichzeitig, eines Tages zusätzlich einen Stern zu erhalten.

Aber es ist nicht nur dieses Streben, das Sie morgens aufstehen lässt. Oder doch?
Es ist ein Gesamtpaket, das mich morgens aufstehen lässt, und der Wunsch, mit einem Stern belohnt zu werden, ist ein Teil davon. Das wäre natürlich ein grosser Stolz, aber auch eine Möglichkeit, dem grünen Stern mehr Gewicht zu verleihen und meiner Stimme mehr Gewicht zu verleihen. Um es kurz zu machen: Ich hatte mich für das Studium an der EHG entschieden, weil ich dachte, dass ich mir das Rüstzeug aneignen würde, um mich in grossen Häusern für den Umweltschutz einzusetzen, insbesondere als Hotelmanager. Tatsächlich wurde mir beim Verlassen der Schule klar, dass ich als Küchenchef am stärksten in der Lage sein würde, diese Botschaft zu verbreiten. Wenn meine Arbeit von Institutionen anerkannt wird, bedeutet das, dass sie unsere Botschaft, die wir zu vermitteln versuchen, unterstützen.

Sagen Sie uns, warum Sie sich für ein einziges Menü entschieden haben!
Es gibt drei Gründe: bessere Rentabilität der investierten Arbeit, besseres Mengen- und damit Abfallmanagement und ein für alle gleiches Kundenerlebnis. Heutzutage wird von uns verlangt, dass wir etwas Billiges, Ungewöhnliches mit lokalen Produkten und wenig Personal anbieten. Wenn die Gourmetküche weiterhin existieren soll, muss die Anstrengung auch von den Kunden ausgehen. Was ich mir vorgenommen habe – und das sage ich meinen Mitarbeitenden immer wieder –, ist die Qualität des Empfangs und die Zeit, die man sich für die Menschen nimmt, die hier bei uns essen, sowie die Qualität der Küche.

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Das Restaurant von Nicolas Darnauguilhem in Cerniat FR. (Bild: Nicolas Righetti)

LA PINTE DES MOSSETTES

  • Eröffnung: Nachdem das Restaurant durch Virginie Tinembart und Romain Paillereau bekannt geworden war, wurde es Anfang 2021 von Nicolas Darnauguilhem übernommen. Er ist auch der Besitzer des Restaurants.
  • Auszeichnungen: Grüner Michelin-Stern, der im Oktober 2022 verliehen wurde, 16/20 Punkte im GaultMillau
  • Besucherzahlen: zwischen 20 und 24 Gedecke pro Tag, verteilt auf zwei Etagen, was etwa 100 Gästen pro Woche entspricht
  • Personal: 7 Mitarbeitende (6 Festangestellte und 1 Praktikant), davon 4 in der Küche
  • Konzept: ein einzigartiges Menü, das etwa alle sechs Monate komplett neu zusammengestellt wird und auf regionalen Produkten, Pflanzen, Gemüsen und Früchten aus dem Garten basiert
  • Öffnungszeiten: Das Restaurant ist vier Tage pro Woche geöffnet, von Donnerstagabend bis Sonntagmittag. Das Team arbeitet von Mittwochmorgen bis Sonntag gegen 17 Uhr. Zwischen Weihnachten und Ostern ist das Restaurant geschlossen, wobei die Angestellten jeweils bis Ende Januar bezahlt sind. Die Devise des Besitzers: Das Restaurant soll so voll sein, dass die Mitarbeitenden ganzjährig bezahlt werden können.

★ Michelin-Veranstaltung am 2. Oktober

Der Jahrgang 2023 des Guide Michelin Schweiz wird am 2. Oktober im Rahmen einer Zeremonie enthüllt, die zum zweiten Mal in Folge in den Räumlichkeiten der EHL Hospitality Business School in Lausanne VD stattfindet. An der Veranstaltung, zu der alle Sternerestaurants der Schweiz sowie Fachleute aus der Branche eingeladen sind, werden die Gewinner der neuen Michelin-Sterne sowie die Empfänger der Sonderpreise dabei sein. Die vollständige Auswahl der Michelin-Restaurants im Guide 2023 finden sich zusätzlich auf der Website sowie der kostenlosen App des berühmten Restaurantführers. Das GastroJournal wird darüber berichten.