Gastronomie

«Dankbarkeit gerade jetzt zu spüren, ist sehr schön»

Corinne Nusskern – 26. Dezember 2021
Das Wirtshaus auf der Klosterhalbinsel Wettingen existiert seit 1227: Somit ist der Sternen der älteste Gasthof der Schweiz. Ein höchst traditioneller Ort, wo das Pächterpaar Andrea und Walter J. Erni gekonnt den Bogen schlägt zwischen Tradition und Moderne.

Bis 1990 wusste niemand davon. Der Ster­nen, die älteste Beiz der Schweiz? Walter J. Erni (68) entdeckt in einem Archiv zufällig eine Postkarte von 1908 mit der Inschrift «ältestes Restaurant der Schweiz». Er recherchiert, schreibt gar einen gastro-his­torischen Text. «Mich fasziniert dieses Haus», sagt Erni, seit 32 Jahren Wirt des Gasthofs Sternen auf der Klosterhalbinsel Wettingen AG, seit 23 Jahren gemeinsam mit seiner Frau Andrea (44).

Zu Beginn war der Sternen ein Wy­ber­haus, welches Schwestern und Mütter von Mönchen und Pilgern beherbergte, da ihnen der Zutritt ins nebenan liegen­de Zisterzienserkloster verwehrt war. Seit­­dem wird im mehrfach umgebauten Haus – heute ein Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert – immer gewirtet. Die nordöstliche Sternenmauer stammt als Teil der Klostermauer von 1227, ebenso das Kellergewölbe. Im Vorhof der einstigen St.-Anna-Kapelle befindet sich heute die Küche. Ein Selbstläufer ist das Restaurant aufgrund seiner langen Geschichte aber nicht. «Das Gesamtpaket stimmt, doch es braucht die Menschen dahinter», sagt Erni. «Und ein Pro­fil, das Emotionen weckt.»

Avantgarde in altem Gemäuer

Und wie das geht, weiss das langjährige Pächterpaar ebenso wie ihr Vermieter Josef Bürgler, der mit genau so viel Herzblut hinter dem Sternen steht. «Er lässt den Franken gerade sein», fügt Erni an. «So konnten wir im Lockdown die Küche renovieren und decken seither kochtechnisch alle Avantgarde-Geschichten ab.»

Seit Juni heisst der Chefkoch im Sternen Rafael Martinez (33) – oder «el niño», wie man ihn in seiner Heimat Spanien nennt, wo er mehrmals als bester Jungkoch aus­ge­zeichnet wurde. Er hat bei den Roca-Brüdern in Giro­na (E) ge­ar­beitet und zuletzt im Luzerner Hotel Montana bei Ernis Bru­der Fritz, Hoteldirektor während 24 Jah­ren. Erni freut sich über seinen Star in der Küche: «Ein cooler Typ mit avantgardistischen Ideen, manchmal ist es, als spreche ich mit einem Physiker.»

Aktuell kreiert Martinez für die elegante Stella-Maris-Stube, neben der regulären Speisekarte, an fünf Abenden pro Woche ein 12-gängiges Gourmet-Tapas-Menü. Die Gänge heissen «Eigelb /Shitake Pilz / Pata Negra / Trüffel» oder «Schwertfisch / Kauko Mauso / Pakchoi» und können von Tag zu Tag variieren. Die mediterrane Fusionsküche des modernen Tüftlers kommt gut an.

In der Stella-Maris-Stube dominiert die Gourmetküche, im Raum nebenan, in der Klostertaverne, steht bodenständige Schweizer Küche im Zentrum. Der Bestseller: Züri-Geschnetzeltes mit Butterrösti und Gemüse. Stofftischtücher sind auch hier Standard. «Ich muss Rafa für den Sternen etwas formen, aber auch machen lassen», sagt Erni, zuständig für Küche, Ein- und Verkauf und alles Kreative. «Ein Koch ist ein Künstler, der für die Anerkennung lebt, da muss man sanft Kritik üben.»

Bei Produzenten und Lieferanten achtet Erni erst auf Qualität, dann auf Regionalität. «Mich plagt, dass über 70 Pro­zent des Schweizer Lebens­mittelmarkts von Migros und Coop dominiert werden», sagt er. «Genossenschaften sind ein soziales Konstrukt, das müsste mal debattiert werden.» Und welche Wege geht der Sternen beim Wein? Ernis Augen leuchten, sogleich steht ein 2018er Stella Maris Pinot Noir aus Wettingen auf dem Tisch, ihr Hauswein seit immer. «Wir verkaufen 2000 Flaschen im Jahr und an der Mondial der Pinot holen wir damit immer wieder Medaillen.»

 

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Das älteste Restaurant der Schweiz: Gasthof Sternen auf der Klosterhalbinsel in Wettingen (Foto: Corinne Nusskern)

Bis in die Kochnationalmannschaft

Erni wächst im Quartierrestaurant Frohsinn in Mellingen AG auf. Bereits als Siebenjähriger heimst er für seine Kochkünste Lob ein. «Das baut auf, es kam für mich gar nichts anderes in Frage.» Nach der Kochlehre arbeitet er in der Schweiz, in den USA und neun Jahre in Kanada. Der Lohn ist klein. Er nimmt an Kochwettbewerben für Hausfrauen teil, um sein Sackgeld aufzubessern, erlangt so Bekanntheit und steigert sich bis zu Profi­wettbewerben. «2000 Dollar Prämie, das war viel Geld!», sagt er. Als baldiger Doppelbürger schafft er es bis in die kanadische Kochnationalmannschaft.

Auch Frontfrau Andrea Erni ist Vollblutgastronomin. Nach der Hotelakademie in der Slowakei arbeitet sie am Bodensee und in Sölden, bevor sie zum Sternen kommt. Das G1 schliesst sie mit der Note 5,9 ab, aktuell macht sie eine HR-Weiterbildung. Sie zuckt mit den Schultern. «Was ich lese, bleibt hängen.» Sie zieht keine Grenze zwischen Privatem und Arbeit. «Alles fliesst ineinander.»

Advent in Wettingen statt in New York

Die Spielwiese im Sternen ist gross: Zwei Restaurants mit je 60 Plätzen, dazu 70 im Ritter-Heinrich-Saal und 120 in der Abt-Konrad-Stube, 120 Aussenplätze sowie
5 Säle zwischen 12 und 200 Plätzen in den Räumen des Klosters. Während es im Restaurant – abgesehen von weniger Weihnachtsessen – sehr gut läuft, sieht die Lage bei den Banketten nicht rosig aus. «Dieses Jahr haben wir weniger Bankette und seit Ende November werden grosse Anlässe storniert. Bei jenen bis 50 Personen geht es noch», sagt Andrea Erni.

Die Adventszeit ist für die Ernis eine besinnliche Zeit, nur schon wegen ihrer zwei Jungs (15 und 10). «Wir können es geniessen und vieles delegieren», sagt Andrea Erni. Der Sternen ist ein Familien­betrieb, auch zwei Brüder von ihr arbeiten mit. Doch die Pandemie wirbelt einiges durcheinander. Normalerweise wäre Familie Erni um diese Zeit in New York. «Dann gehen wir jedes Mal zu Dani Humm essen», erzählen sie. «Sein Bruder Mark hat bei uns im Betrieb gekocht.»

An Weihnachten und Neujahr ist der Sternen geschlossen – sonst ist der Gasthof sieben Tage die Woche geöffnet. Was motiviert die Ernis nach so vielen Jahren jeden Tag aufs Neue? «Man muss ja von etwas leben!», sagt Walter J. Erni scherzend. «Wir sind einfach mit viel Liebe dabei und hier wir­ten zu dürfen, ist ein Privileg.» Und Andrea Erni ergänzt: «Gastgeber zu sein ist für uns alles. Und die Dankbarkeit der Gäste in diesen Zeiten zu spüren, das ist sehr schön.» Sagt es und steht auf, um drei Mittagsgäste persönlich zu verabschieden.

Die grösste Herausforderung sei, die Kon­stanz zu halten und qualifizierte Mit­arbeitende zu finden. «Da hat Covid massiv geschadet», sagt der Sternen-Wirt. Sie haben 23 Festangestellte und vie­le Aushilfen. «Man kann nun den Kopf in den Sand stecken oder immer wieder versuchen, etwas zu unternehmen.» Glück­li­cherweise erhielten sie problemlos Unterstützungsgelder. Und nach dem Winterlockdown lief es gut, sie machten Rekordum­sätze. «Das Leben schafft immer wieder Situationen, die einen vorwärtsbringen.»

Vom Kaiser bis zu Keanu Reeves

Die Gäste selektionieren zurzeit, wo sie essen gehen. «Das ist unsere Chance! Wir müssen einfach stets einen noch besseren Job machen», sagt Andrea Erni. «Das ist gefragt, nicht jammern.» Viele ihrer Gäste kommen aus Politik, Wirtschaft und Industrie. Aber die Gastgeber wollen für alle da sein, das Gästeprofil ist breit. «Vom Kaiser von Habsburg bis zu Keanu Reeves!», sagt Walter J. Erni. Letzterer war 2020 hier, nachdem er in Zürich eine Töffmesse eröffnete. Zudem lebe seine Schwester in Luzern. Kein Wunder ist er Erni sympathisch, ist er doch selbst passionierter Harley-Davidson-Fahrer.

In sechs Jahren feiert der Sternen sein 700-Jahr-Jubiläum. «Das gibt eine Riesenfete – fast wie die Badener Fahrt», sagt Erni lachend. «Bis dann will ich ganz sicher noch weitermachen.»

www.sternen-kloster-wettingen.ch