Neues Zürcher Lehrmodell – ein Leuchtturm für die Schweiz?

Benny Epstein – 15. August 2024
Die Gastroausbildung «Roast & Host» geht in die erste Runde: Hier lesen Sie, wie das Konzept funktioniert, was die Vorteile für Lernende und Betriebe sind und wer beim Start dabei ist.

Tatort Hotelfachschule Zürich, Ende Juli 2024. Das Gebäude in Zürich-Enge ist eine Baustelle. Es wird gebohrt, während die Studierenden in den Ferien oder am Arbeiten sind. Die Klassenzimmer und Büros sind leer. Ausser eines. Florian Ilmer (44) steht an der Wand und schaut sich darauf Gesichter und Namen an. Trotz des Lärms der Bohrarbeiten ist er in Aufbrauchstimmung: «Es kann losgehen.» Ilmer ist der Geschäftsführer von «Roast & Host», das sich in der Hotelfachschule eingemietet hat. So heisst das neue Ausbildungsmodell des Gastrolehrverbunds Zürich (GLVZH).

Es bietet den Köchinnen und Köchen, Gastgeberinnen und Gastgebern von morgen eine zertifizierte EFZ/EBA-Ausbildung. Im Gegensatz zur herkömmlichen Lehre führt dieses Modell die Lernenden nach dem Rotationsprinzip auf eine zwei- bis dreijährige Reise durch verschiedene Restaurants. Jetzt im August starten die ersten zwölf Lernenden in dieses Programm.

«Das erste Jahr verbringen einige in nur einem Betrieb», erklärt Ilmer. «Sie wollen erst mal ankommen.» Bis zum Ende der Ausbildung werden die Lernenden in bis zu vier (zweijährige Lehre) respektive sechs (dreijährige Lehre) Betrieben gearbeitet haben. Die Idee dahinter: die Vielfalt der Branche kennenlernen, sich frühzeitig ein Netzwerk aufbauen, mehr Spass durch Abwechslung. Partnerbetriebe sind Stadtzürcher Restaurants wie das Lilly’s, Degenried, Ziegelhütte, Gartenhof, Carlton, Josef und Rosi. Vom schnörkellosen Thai bis zum Gourmetlokal also. Ilmer: «Ich führe mit den Lernenden ein Erstgespräch, dann teilen wir sie einem Betrieb zu, den ich als passend empfinde.» Schnuppern, erste Einblicke, die Ausbildung kann starten. «Danach besprechen wir die weiteren Stationen.» Lachend fügt der «Roast & Host»-Geschäftsführer hinzu: «Wenn alle ins Rosi wollen, suchen wir den Besten aus.»

Sechs Wochen Ferien

Zwei Jahre ist es her, seit Ilmer mit der Idee dieses neuen Ausbildungsmodells vertraut gemacht wurde. Sie stammt aus dem Vorstand von Gastro Stadt Zürich. Präsident Nicolas Kern: «Die herkömmliche Lehre scheint zu wenig attraktiv zu sein. Wir müssen etwas probieren, und ich bin sehr zuversichtlich. Ich glaube, das kann ein Leuchtturmprojekt für die ganze Schweiz sein.»

Erst wollte Gastro Stadt Zürich einen eigenen Ausbildungsbetrieb für Lernende eröffnen. Man bewarb sich für den Neumarkt im Niederdorf, der jedoch an Nenad Mlinarevic und Valentin Diem ging. Stattdessen entstand «Roast & Host». Nicht nur die Lernenden sollen dabei profitieren, sondern auch die Betriebe. «Die gesamte Administration übernehmen wir. Wir stellen ein, zahlen die Löhne, die Versicherung geht über uns.» Für diese Administration bezahlen die Betriebe 300 Franken pro Monat.

Lernende, die dieses Programms absolvieren, kommen in den Genuss von sechs Wochen Ferien. Zudem veranstaltet «Roast & Host» Workshops, in denen Themen besprochen werden, die bis anhin tabu waren. Ilmer: «Was kann ich als Lernender machen, wenn mein Chef ein Choleriker ist? Was bedeutet Nachhaltigkeit wirklich, und woher kommen die Produkte? Die heutige Jugend ist sozialkritisch. Wir möchten sie nah begleiten.»

Ausbildung ZH Kueche

Lili Sidler arbeitet unter den wachen Augen von Lukas Zehnder, Küchenchef im Restaurant Josef in Zürich. (Bild: Valeriano Di Domenico)

Abschauen beim Schreinerverband

Ilmer ist Vollblutgastronom, die Kochlehre absolvierte der 44-Jährige einst im Davoserhof, mit 36 Jahren wechselte er in den Service, zuletzt führte er den Zürcher Gartenhof. Die Arbeit mit Jungen behagt ihm. «Ich liebäugelte früher damit, Berufsschullehrer zu werden.» Privates kam dazwischen, jetzt schliesst sich der Kreis. «Ich glaube sehr an die junge Generation. Sie haben vielleicht mehr Fragen als wir damals, aber sie sind nicht einfach unmotiviert.»

Eine Lehre in mehreren Betrieben – Neuland in der Welt der Gastronomie. Nicht aber in anderen Branchen. «Wir konnten beispielsweise das eine oder andere beim Schreinerverband abschauen», erzählt Nicolas Kern, der hauptberuflich die Wirtschaft Degenried oberhalb von Zürich führt. René Kaufmann, Vizepräsident des Kantonalverbands, ist Teil des Vorstands. «Beat Imhof, der neue Präsident von GastroSuisse, sagte in einem Radiointerview auf SRF1, man müsse mehr auf die Regionen hören und erwähnte unser Projekt», freut sich Kern. Beat Imhof sagt zu «Roast & Host»: «Wir beobachten, wie das ankommt und finden es grundsätzlich spannend, diesen Weg zu gehen. Wenn es ein Erfolg wird, werden wir uns überlegen, was wir als Verband unternehmen.»

Ziel für 2026: bis zu 60 Lernende

Mit Kaufmann sitzt nicht nur ein «Kantonaler» im Boot, sondern ein preisgekrönter Ausbildner. Der langjährige Wirt vom Rössli Illnau bildete 50 Lernende aus und wurde 2017 von der Hotel Gastro Union zum «Ausbildner des Jahres» gekürt. Seine Erfahrungen im Umgang mit jungen Berufsleuten im praktischen Alltag sowie die Kenntnis von gesetzlichen Rahmenbedingungen sind Gold wert. «Die grosse Chance dieses neuen Ausbildungsmodells ist die Vielseitigkeit für die Lernenden in immer neue Teams», glaubt Kaufmann. «Genau diese Komponenten könnte aber auch die Herausforderung sein: Kann ich mich immer auf neue Situationen und Teams einstellen? Ich bin der Meinung, diese Generation und die Eltern der Lernenden sehen in diesem Modell einen Mehrwert, mehr Kreativität und Entfaltungsmöglichkeiten.»

Ein landesweites Vorbild für die Gastrobanche? «Ja, insbesondere in städtischen Regionen. Da ist das Modell besser umsetzbar.» Er sieht Florian Ilmer als entscheidende Schlüsselposition: «Er wird zur Ansprechperson für Lernende, Eltern und Betriebe.»

350 000 Franken investierte Gastro Stadt Zürich in «Roast & Host». Damit wird selbstverständlich nicht nur der Lohn des Geschäftsführers finanziert: Berufsmesse, Branding, Workshops, die digitale Lehrplattform WIGL, ein Auftritt bei Food Zurich. Ilmer: «Das Echo ist sehr gut, nächstes Jahr sollen es 30 bis 35, in zwei Jahren 55 bis 60 Lernende sein. Dann könnten wir selbsttragend werden. Künftig wollen wir auch Junge nach der Matura abholen, die die Lehre in zwei Jahren absolvieren können.» Die Zürcher Commercio-Gruppe (Betriebe wie Fischerstube, Commihalle, Weisser Wind) sponserte 2500 Franken, Mirus Software AG stellte das Zeiterfassungssystem kostenlos zur Verfügung. Es sind lauter positive Zeichen, die Ilmer wahrnimmt.

Drei Restaurationsfachleute und neun Kochlernende starten nun in dieses neue Abenteuer. In zwölf unterschiedlichen Betrieben. Doch kann eine Jungköchin nach einem Jahr im Thai-Restaurant Lilly’s in Markus Stöckles Spitzenküche im Rosi bestehen? «Ja, die Jungen können das», ist Ilmer überzeugt. «Im ersten Jahr geht es um Grundsätze. Pünktlichkeit, zuhören, Hygiene, Konzentration, man lernt zu arbeiten. Und ja: Die Betriebe sind aufeinander angewiesen. Ich werde kontrollieren, dass die Lernenden für den nächsten Schritt fit getrimmt werden. Einen interessierten Betrieb musste ich leider ablehnen. Er hat unseren hohen Anforderungen nicht genügt.»

Sind wir auf dem richtigen Weg?

Einer, der künftig von Ilmer kontrolliert wird, ist Lukas Zehnder. Der Küchenchef des Gourmetbetriebs Josef zögerte keinen Moment, als die Idee im Raum stand, bei «Roast & Host» mitzumachen. «Das ist eine super Sache, logisch, dass wir dabei sind.» Zu Zeiten des Fachkräftemangels sei es heutzutage wichtiger denn je, dass man Verantwortung übernehme. «Wir arbeiten nicht nur für uns. Es geht um die Zukunft der Gastronomie.» Soeben schloss «seine» Kochlernende Lili Sidler ihre Lehre mit Bestnoten ab. Dass er künftig nicht einen Lernenden über drei Jahre bei sich in der Küche hat, sieht Zehnder als Chance: «Wenn wir einen Neuen oder eine Neue kriegen, muss sich der Betrieb immer wieder hinterfragen: Sind wir auf dem richtigen Weg? Geben wir das richtige Rüstzeug mit?» Auch er glaubt an die junge Generation, man müsse ihr nur das Vertrauen schenken.

Und Lili Sidler? Die 20-Jährige, die ihre Kochlehre nach der Matura startete, bleibt auch nach der Ausbildung vorderhand im Josef. Das «Roast & Host»-Konzept findet sie spannend. «Ich hätte mir vorstellen können, dass ich diesen Weg mit Roast & Host auch gewählt hätte. Das Netzwerk ist sehr viel wert. Und wenn ich an all jene in meiner Berufsklasse denke, die ihre Lehre in einer Schnitzelbude absolviert haben oder die einfach sonst kein gutes Arbeitsumfeld hatten – die wären mit dem neuen Modell gewiss besser dran.»