Lorenz Hoja, am 1. März 2023 eröffnete mit dem Six Senses in Crans-Montana das erste Haus der Luxusmarke in der Schweiz und in einem Skiresort. In der Brasserie des Hotels wollen Sie bis zu 90 Prozent regionale Produkte aus dem Umkreis von 50 Kilometern verwenden. Das ist sehr ambitiös.
Lorenz Hoja: Wir haben das fast erreicht. Normalerweise kommt ein Betrieb von Six Senses bei den regionalen Produkten im Durchschnitt auf einen Anteil von 60 bis 65 Prozent. Im Wild Cabin sind wir jetzt schon bei 80 Prozent und werden im Sommer 90 Prozent erreichen. Alle Fische, die wir in der Brasserie zubereiten, sind aus der Region, der Alpenzander etwa vom Susten, der Hecht vom Lac Léman oder die Swiss Shrimps aus Rheinfelden. In unserem japanischen Restaurant Byakko befinden wir uns leider nur bei 60 Prozent, denn in den Schweizer Bergen auf 1500 Meter über Meer sind japanische Produkte schwierig zu bekommen (lächelt). Andererseits bin ich überrascht, wie viele lokale Produzenten wir hier im Unterwallis haben. Ein Vertragsbauer von Ricola wohnt beispielsweise nur 15 Minuten von Crans-Montana entfernt. Mit seinen Kräutern stellt er ätherische Öle her, die wir im Roomservice verwenden.
Sie waren monatelang damit beschäftigt, Produzenten aufzuspüren. Wie sind Sie vorgegangen?
Das war zu Beginn recht schwierig. Ich kontaktierte Arbeitskollegen und Geschäfte. Wirklich vorwärts gekommen bin ich, als ich den Markt von Sion besuchte und unseren heutigen Ziegenkäseproduzenten Etienne kennenlernte. Anfangs war er uns gegenüber sehr kritisch und dachte wohl, jetzt kommt wieder so ein Idiot von einem grossen Hotel. Doch bald realisierte er, dass wir anders ticken. Die Nachricht über unsere Zusammenarbeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Innert einer Woche hatte ich 80 Prozent der Produzenten zusammen – vom Käse- und Milchlieferanten bis zum Schweinehalter. Dazu gibt es eine schöne Geschichte.
Erzählen Sie!
Wer Käse produziert, darf das Abfallprodukt, die Molke, nicht in den Abguss giessen, weil das den Rohren zusetzt. Deshalb hält jeder Milchbauer Schweine, um ihnen die Molke zu verfüttern. Aber auch ich verwende die Molke gerne und mache daraus für unsere Gäste einen Proteinshake zum Frühstück. Ich erhalte die Molke umsonst!
Was ist für Sie, als ehemaligen Michelin-Sterne-Chef, die Philosophie in der Küche?
Back to basic: Wir wollen keinen Michelin-Stern und keine gastronomischen Restaurants im klassischen Sinne. Wir zollen dem Produkt den Respekt, den es verdient. Rüstabfälle verarbeiten wir weiter. Mir ist es wichtig, ganze Tiere zu kaufen. Heute Morgen war ich in einem Schlachthaus. Mir wurden die Schweine gezeigt. Die Köpfe hingen separat. Ich fragte, was damit gemacht wird. Die Antwort: Die will keiner haben. Ich aber kann diese für die Sülze, für einen Fromage de tête oder einen schönen Braten verwenden. Meine Grosseltern waren aus Litauen. Die haben zu Hause Butter gemacht, den Schmalz benutzt und die Molke getrunken, weil sie gesund ist und stärkt. Wir wollen in der Küche jeden Tag etwas Gutes für den Körper zubereiten. Selbstverständlich kann jemand zum Frühstück ein Rührei oder eine Omelette bestellen. Wir aber wollen andere Speisen promoten, die gut, gesund und vielleicht auch überraschend sind.
Hand aufs Herz. Haben Sie als ehemaliger Michelin-Chef tatsächlich keine Ambitionen für Sterne oder GM-Punkte?
Nun, ich war so lange und so tief in der Spitzengastronomie. Ich kann den Kopf nicht einfach wie das Licht via Lichtschalter abschalten. Ich war jahrelang immer auf Perfektion getrimmt. Und plötzlich soll es nicht mehr wichtig sein, Sterne zu haben. Andererseits ist es doch auch so, dass selbst GaultMillau und Michelin die Werteveränderungen in der Gastronomie, in den Restaurants und Hotels erkennen. Die Gäste verlangen immer mehr Nachhaltigkeit. Ich kann jedem Gast den Namen der Kuh nennen und sagen von wo genau die Milch kommt. Andere reden viel. Ich kann es beweisen, sogar mit Fotos! Das macht uns aus. Irgendwann werde ich mich selbstständig machen wollen. Will ich dann Sterne? Nein! Aber ich will das kochen, was ich möchte. Das ist wichtiger als Sterne.
Sie haben Ihre Kochkarriere bereits mit 14 Jahren lanciert.
Ja, ich war jung und brauchte Geld. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass die Schule nicht mein Ding ist. Bereits mit 12 absolvierte ich ein dreimonatiges Praktikum in einem Restaurant und kam nachts um ein Uhr nach Hause. Am nächsten Tag musste ich wieder in die Schule. Zwei Jahre später startete ich meine Ausbildung. Arbeitsstunden haben mich nie gestört. Meine Freunde gingen aus. Ich arbeitete bis um Mitternacht. Ich kam sehr früh mit der Gastronomie in Kontakt. Wir gingen mit meiner Grosstante jeden Sonntag nach Wiesbaden zum Brunchen. Die Tante sah aus wie Queen Mum, mit weissen Handschuhen und Hut. Mit 18 zog ich aus und arbeitete ein paar Jahre in London, dann ging es zurück nach Deutschland und zum Militärdienst bei der Marine. Es folgten Namibia, Österreich, die Malediven, St. Martin in der Karibik, 2005 kam ich in die Provence zu Four Seasons. Das hat mein Leben verändert.
Lorenz Hoja in der offenen Küche des Restaurants Wild Cabin: «Die Franzosen haben mir gezeigt, was es heisst, ein Koch zu sein. Beim Friseur erhielt ich einen Kaffee und ein Glas Wasser.» (Foto: Reto E. Wild)
Was ist passiert?
Ich habe in meinem professionellen Leben nicht nur die Liebe zum Beruf, sondern auch zum Produkt entdeckt. Die Franzosen haben mir gezeigt, was es heisst, ein Koch zu sein. Als ich zum Friseur ging und ihm sagte, dass ich Koch bin, erhielt ich plötzlich einen Kaffee und ein Glas Wasser. Ich realisierte, wie hoch das Ansehen des Kochs in Frankreich ist. Die Leute respektieren und ehren den Beruf. Dann wurde Joël Robuchon auf mich aufmerksam. Ich bin in seinem Unternehmen 13 Jahre lang hängen geblieben, habe als Chef de Partie angefangen und als Executive Chef aufgehört. Ich war der einzige Deutsche, der bei ihm je in dieser Position arbeitete. In Singapur erhielten wir auf Anhieb zwei Sterne. Im April 2018 rief mich Joël an, ich soll sein Zweisternelokal in Paris übernehmen. Wenn ein Mann wie er das fragt, sagt man nicht nein. Das ist eine riesige Ehre.
Drei Monate später ist er gestorben.
Ja, und der Betrieb war danach nicht mehr so wie vorher. Ich kehrte wegen Joël nach Europa zurück. Ich hatte einige Angebote, aber Robuchon ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb hätte ich nicht für andere arbeiten können. Danach entschied ich mich für die Hotellerie. Ich kehrte zurück nach Singapur auf die Insel Sentosa und zu Sofitel, zwei Jahre lang, wovon ein Jahr lang die Pandemie das Leben bestimmte. Dann wechselte ich Mitte Juli 2021 zum Schweizerhof nach Bern. Ein wunderschönes Hotel mit einem super Besitzer, aber dann meldete sich Christian Gurtner, der Hoteldirektor des Six Senses in Crans-Montana, und erzählte mir vom neuen Projekt. Mit ihm arbeitete ich in Asien und konnte wiederum nicht nein sagen ...
Was haben Sie von Joël Robuchon gelernt, der im Umgang mit Menschen sehr hart sein konnte?
Hoffentlich stehe ich das durch, dachte ich anfangs. Gelernt habe ich die Liebe zum Detail, die exakte Ausführung beim Arbeiten. Wir haben mit dem Lineal Gemüse geschnitten, alles abgewogen. Wir sorgten für eine Mischung von internationalen Geschmacksrichtungen, gepaart mit der traditionellen französischen Küche und ihren Techniken. Perfektion existiert nicht. Man muss sich immer weiterentwickeln und hinterfragen, wie es noch besser geht. Wer sich auf den Lorbeeren ausruht, hat verloren. Und ich habe die Qualität des Produkts schätzen gelernt und später Gerichte kreiert.
Was zum Beispiel?
Die Kreation Caviar fou ist von mir. Wir haben ein hart gekochtes Ei mit Kaviar oder Krabbenfleisch gefüllt. Das Gericht ging in allen Robuchon-Restaurants um die Welt. Wir Küchenchefs waren untereinander sehr gut vernetzt. Egal was passierte: Joël stand immer hinter uns. Er hat stets ausgeholfen. Ja, er verlangte viel von uns. Aber wir alle wären ohne ihn nicht da, wo wir heute sind.
Und heute stehen Sie im Six Senses und kommen dem Bedürfnis nach Nachhaltigkeit nach.
Wir zeigen den Gästen, mit wem wir zusammenarbeiten, und bieten ihnen an, unsere Produzenten gemeinsam zu besuchen, etwa den Käser. Das ist wichtig für uns. Hinter dem Haus steht ein Komposter, weil wir leider noch immer Essensabfälle haben. Dieser wird mit Bakterien betrieben. Nach 24 Stunden entsteht richtig guter Kompost, den wir an Wein- und Gemüsebauern verschenken. Vielleicht mit Ausnahme der Lichtschalter finden Sie in unserem Hotel kein Plastik. Mit allen unseren Lieferanten haben wir eine Vereinbarung unterschrieben, dass sie uns die Produkte ohne Plastik liefern oder diesen wieder mitnehmen und wiederverwenden. Die Fische werden in Styroporboxen transportiert. Die Boxen werden ebenfalls wiederverwendet.
Zurück zu den Kunden: Mit wie vielen externen Gästen rechnen Sie in den Restaurants?
Im Bereich F&B werden wohl drei Viertel externe Gäste sein, denn wir sind das einzige luxuriöse Hotel in Crans-Montana, das sich direkt an der Piste befindet. Auch nach der zweiten Bauphase, wenn das zweite Gebäude im Dezember 2023 eröffnen wird, haben wir nur 80 Zimmer. Das ist relativ klein, wenn auch einzigartig im Wallis. Die Klientel in Crans-Montana schreit nach unserem Konzept. Alle wollen vorbeikommen. Es ist sogar so, dass wir Gästen absagen müssen, weil wir an gewissen Daten zu viele Anfragen haben.
Küchenchef Lorenz Hoja erhält von Fischer Jean-Marc Bigler einen frisch gefangenen Hecht aus dem Lac Léman. Hoja: «Ich bin überrascht, wie viele Produzenten es hier gibt.»
★ Von Robuchon über den Schweizerhof bis nach Crans
Lorenz Hoja (41) ist Küchenchef im Six Senses Crans-Montana VS und leitet ein Team mit 32 Köchen in zwei Restaurants: die Brasserie Wild Cabin mit Tim Kohlbecher als Restaurantleiter sowie das japanische Restaurant Byakko. Als Executive Chef verantwortet er zudem die Bankettabteilung, die bis zu 350 Personen verpflegen kann. Zuvor arbeitete der deutsche Koch insgesamt 13 Jahre für Jöel Robuchon in aller Welt und erhielt zwei Michelin-Sterne. Mitte Juli 2021 wechselte Hoja zum Schweizerhof nach Bern und arbeitet seither bewusst für Hotelrestaurants.