Tourismus

Zum konstruktiven Miteinander

Peter Grunder – 31. Juli 2018
Stefan Otz machte sich einen Namen als Direktor der Tourismusorga­nisation Interlaken, die er ab 2003 zu einer erfolgreichen Destinationsmanagementorganisation (DMO) entwickelte. 2016 wechselte der Vater zweier erwachsener Kinder die Seite: Als CEO der Rigi Bahnen leitet er das wohl traditionsreichste Tourismusunternehmen der Schweiz.

 GastroJournal: Herr Otz, was ist wesentlich anders im Vergleich zu Ihren früheren Aufgaben als Destinations­managementorganisation, was ist im Wesentlichen gleich? 
Stefan Otz: Ähnlich ist die Erwartungshaltung, und das war für mich überraschend. Als Destinationsmanager war ich erste Ansprechperson, Sündenbock und Hofnarr, war Bittsteller, Befehlsempfänger und Chefmotivator. Ich meinte, das hinter mir lassen zu können, als ich vor bald zwei Jahren als CEO der Rigi Bahnen begann. Aber auch hier bin ich für viele immer noch die erste Ansprechperson, denn die Identifikation mit der Rigi ist sehr gross und betrifft sehr viele.  Sie können nicht unternehmerisch arbeiten? 
Doch, und das ist anders als bei einer DMO. Ich habe eine unmittelbare unternehmerische und betriebliche Verantwortung. Wir sind rund 220 Mitarbeitende, an 365 Tagen im Jahr fahren Züge und Bahnen, wir haben viele Auflagen und mit zwei Seilbahnen und zwei einzigartigen Zahnradbahnen, Gastronomie und Shops ganz verschiedene Unternehmenseinheiten in zwei Kantonen und in einer ganzen Reihe von Gemeinden. Und während es bei einer DMO darum geht, das einem anvertraute Geld bestmöglich einzusetzen, müssen wir hier dieses Geld selber erarbeiten, und zwar nicht nur um Löhne und Betriebskosten zu bezahlen, sondern auch um Ersatzinvestitionen zu bestreiten und das Unternehmen nachhaltig zu entwickeln.

"Die Identifikation mit der Rigi ist sehr gross und betrifft sehr viele."
Also doch ganz anders als bei einer DMO? 
Ja, es ist anders. Aber wenn es darum geht, die unternehmerischen Ziele zu erreichen und das Unternehmen zu entwickeln, muss ich wie früher vielen gerecht zu werden versuchen. Offensichtlich ist nicht zu trennen zwischen der Rigi Bahnen AG als Unternehmen und der Rigi als Identifikationssymbol vieler Einheimischer. Gilt das nicht für all diese Orte, die sowohl für Gäste als auch für die Bevölkerung Bedeutung haben? 
Ja, und insofern habe ich auch Verständnis für das besondere Inte- resse, wenn wir die Rigi Bahnen AG von einem Bahnbetrieb zu einem Tourismusunternehmen entwickeln wollen. Das geht weit über das Touristische hinaus. Denn obwohl die Rigi das wohl traditionsreichste Touristenziel der Schweiz ist, mit der ersten Bergbahn von Europa und dem ersten touristischen Berghotel, erscheint die Ausrichtung der Rigi heute letztlich nicht nur touristisch, sondern auch regionalpolitisch von Bedeutung. Was heisst das? 
Wir können keinen rein unternehmerischen Ansatz verfolgen, wie das in Tourismuszentren wie der Jungfrauregion oder Zermatt der Fall ist. Zwar haben wir ­klare ­unternehmerische Ziele, die man betriebswirtschaftlich nachvollziehen kann, die touristisch sinnvoll sowie massvoll sind und sicherstellen, dass sowohl die Gäste wie auch die Bevölkerung die einmaligen Qualitäten dieses Berges auch künftig nachhaltig geniessen können. Wer hier aber rein unternehmerisch auftreten will, wird scheitern. Gefragt ist Dialog und Diskussion, Betroffene sollen zu Beteiligten werden, Gemeinsinn soll zum Gemeinwohl führen.
"Wir können keinen rein unternehmerischen Ansatz verfolgen, wie das in Tourismuszentren wie der Jungfrauregion oder Zermatt der Fall ist."
Sonntagsreden? 
Nicht nur, aber zugleich der einzige gangbare Weg, um weiterzukommen. Obwohl die Rigi der Tourismusberg par excellence ist, und wir die Seilbahn Weggis-Kaltbad ersetzen, endlich neues Rollmaterial ­beschaffen und insgesamt noch ­gästefreundlicher werden wollen, steht mehr auf dem Spiel. Eine Petition warnte vor einem Disneyland! Zugespitzt mit Schlagwörtern ­haben uns die Petitionäre letzten Sommer stark beschäftigt. Wir kamen so als Unternehmen nie dazu, agieren zu können, sondern wurden zum Reagieren gezwungen. Inzwischen liegt nun eine Charta vor, auf die wir uns einigen konnten. Deren Tauglichkeit wird sich weisen müssen, sobald konkrete Projekte vorliegen. Das klingt nicht sehr zuversichtlich? 
Eine Charta ist wie ein Leitbild zwar eine Hilfe, aber weder ein Rezept noch eine Garantie. Insofern bemühe ich mich gemäss dem geflügelten Wort um Engagement dort, wo wir etwas bewirken können, wünsche mir Gelassenheit dort, wo es nicht geht – und hoffe auf die Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu können. Klingt immer noch nicht wirklich zuversichtlich? 
Doch, es war für mich überraschend zu erfahren, wie wenig der Tourismus hier, wo er doch seine Wurzeln hat, grundsätzlich gilt. Insofern bin ich etwas ernüchtert, setze mich aber voll für dieses Unternehmen und für diesen Berg ein, denn er hat enormes Potenzial. Dies als authentisches und nachhaltiges Natur- und Landschaftsparadies sowie als Freizeit- und Erholungsraum für die lokale Bevölkerung und für Gäste aus nah und fern. Mit Kritik muss der Tourismus seit jeher leben. Meine Generation hat im Tourismusmanagement vorab zwei Dinge gelernt: Gäste zu holen und Gäste zu halten. Zwar gab es immer Diskussionen um richtige und falsche Massnahmen und Entwicklungen. Aber insgesamt ist der Tourismus eine Erfolgsgeschichte. Inzwischen erweist sich jedoch vielerorts, dass uns im Tourismus eine Fertigkeit fehlt, nämlich die Bevölkerung für den Tourismus zu sensibilisieren.
"Es war für mich überraschend zu erfahren, wie wenig der Tourismus hier grundsätzlich gilt."
Aber ganze Landstriche leben doch vom Tourismus? 
Das heisst nicht, dass die Bevölkerung automatisch sensibilisiert ist für touristische Anliegen – die teilweise scharfen Reaktionen auf Touristenmassen etwa in Mallorca, aber auch in Luzern, weisen eher auf das Gegenteil hin. Luzern zeigt allerdings auch, dass es möglich ist, die Bevölkerung zu sensibilisieren und zu einem konstruktiven Miteinander zu finden. Sensibilisierung braucht es dabei nicht allein mit Blick auf die Bevölkerung in ausgesprochenen Tourismusregionen sowie in Regionen wie hier, wo Tourismus eher ein Wirtschaftsfaktor unter anderen ist. Die Sensibilisierung braucht es auch, weil die Schweiz ein Interesse daran haben muss, dass Tourismus nicht nur in den Tourismushochburgen stattfindet und dort womöglich lokalen Widerstand hervorruft. Die Schweiz verfügt über zahllose Perlen mit grossem touristischem Potenzial, und wir müssen mehr dafür tun, um diese Perlen zu pflegen und sie interessierten Gästen zu vermitteln. Fehlende Sensibilisierung und falsches Tourismusmarketing? 
Die Sensibilisierung wird vielerorts kommen müssen, anders geht es gar nicht. Das Tourismusmarketing wiederum ist in vielen DMOs und auch bei Schweiz Tourismus sehr gut. Die Segmentpromotionen mit den entsprechenden Produkten begrüsse ich, wobei klar ist, dass für die Produkte und deren Verkauf zuerst die Unternehmen selber verantwortlich sind. Ebenfalls erfreulich finde ich Entwicklungen, wie sie sich etwa beim Ferientag oder bei den VSTM-Seminaren zeigen. Man trifft sich nicht nur, sondern vermittelt auch viel Wissen – und zwar gleichermassen bei Touristikern und Unternehmen wie auch bei strategisch Verantwortlichen in Vorständen und Verwaltungsräten.
"Die Sensibilisierung wird vielerorts kommen müssen, anders geht es gar nicht."
Wo sehen Sie im Schweizer Tourismus neben der Sensibilisierung besonderen Handlungsbedarf? 
Einerseits bei den erwähnten Bemühungen, nicht alles den touristischen Leuchttürmen unterzuordnen, sondern die Schweiz mit ihrem unglaublich reichen und dichten Potenzial insgesamt touristisch besser zu vermitteln. Andererseits diskutieren wir nach wie vor zu viel über Strukturen und zu wenig über Leistungen. Dabei können wir mit dem Tourismus Monitor BAK Basel und anderen Werkzeugen die Performance in vielen Bereichen inzwischen sehr gut messen und vergleichen. Und mit Innotour und der Neuen Regionalpolitik (NRP) haben wir überdies gute Instrumente, um diese Entwicklung und Investitionen vernünftig zu steuern. Herr Otz, besten Dank für dieses Gespräch.