Tourismus

Unter prekären Bedingungen

Peter Grunder – 29. Januar 2017
Viele Tourismusgemeinden haben die ­Kontrolle über entscheidende Entwicklungen verloren. ­Zum Beispiel Interlaken.

Gegen vierzig Liegenschaften sind im Grossraum Interlaken laut Grundbuch mittlerweile sein Alleineigentum. Er kaufe «alte Häuser, die niemand will», sagt Thayanantharajan Rasaratnam, der in der Gegend als Rajan bekannt ist, dann saniere er sie mit eigens angestellten Handwerkern und vermiete sie. 2008 war der Tamile mit seiner Frau eingebürgert worden, jahrelang arbeitete er bei einem Grossverteiler zuerst in Wengen, dann in Interlaken. Praktisch parallel zum Friedensschluss in Sri Lanka begann er 2009, in Interlaken Liegenschaften zu kaufen. «Leider noch nicht», meint er auf die Frage, ob er im Lotto gewonnen habe, ansonsten mag er sich nicht über seine Finanzierungsmodelle äussern. Jedenfalls gehört er mittlerweile zu den grössten privaten Immobilienbesitzern in der Gegend, kontrolliert etwa an der Centralstrasse mitten in Interlaken ganze Häuserzeilen. Präsent ist er aber auch in Ringgenberg, Niederried oder Wilderswil, wo er an der zentral gelegenen Lehngasse ebenfalls stark vertreten ist. Die Nutzungen sind dabei meist mit Gastgewerbe und Tourismus verbunden, seien dies nun Pachten von Restaurants und Geschäften oder Personalwohnungen. Vor allem in Interlaken seien «die Leute nur interessiert an Restaurants», erzählt Rajan immerhin aus seinem Geschäftsmodell. Das wundere ihn selbst, erläutert er, letztlich sei ihm aber die Art der Nutzung egal. Rajans Gewicht gibt zwar in der Region zu reden, und insbesondere die Entwicklung der Centralstrasse hin zu einem exotischen Basar sticht vielen buchstäblich in die Nase. Doch angesichts der starken Internationalisierung des Tourismus und weil auch frühere Generationen von Immigranten in der Schweiz Geschäftssinn zeigten, ist Rajans Dominanz kein öffentliches Thema. Stellvertretend steht er aber für eine Krise der Institutionen (siehe Kasten). Es gebe in Interlaken immer mehr Eigentümer und Betreiber von Hotels und Restaurants ausländischen Urprungs, erklärte jüngst der Interlakner Gemeindepräsident Urs Graf in GastroJournal (GJ49/2016): «Das hat nicht nur mit reichen Ausländern zu tun, die sich hier Hotels kaufen, sondern auch mit der Bereitschaft, unter prekäreren Bedingungen in der Branche zu arbeiten.» Dies wird laut Graf dann problematisch, «wenn unsere Regeln nicht bekannt sind, nicht verstanden oder nicht akzeptiert und umgesetzt werden – sei dies nun bei allgemeinverbindlichen Landes-Gesamtarbeitsverträgen und bei verwaltungs- und wettbewerbsrechtlichen Vorgaben». Freilich beklagt Graf, bei der Kontrolle und Umsetzung stosse «die Gemeinde manchmal an ihre Grenzen, was besonders damit zu tun hat, dass viele Kompetenzen bei übergeordneten Ebenen liegen und die Gemeinde wenig Handlungsspielraum hat». Dass Interlakens Anziehungskraft Spannungsfelder schafft, ist Gemeindepräsident Graf zwar klar: «Im Tourismus sind schon immer Welten aufeinandergetroffen.» Insofern sind Konflikte programmiert, doch fühlt sich der Interlakner Politiker von Bund und Kanton alleingelassen (vgl. auch Seite 9): Die Phänomene zeigten sich vor Ort, betont Graf, und die übergeordneten Ebenen müssten «ein offeneres Ohr für Anliegen der Gemeinden haben und sie tatkräftig darin unterstützen, unsere Rechtsordnung aufrechtzuerhalten». Gut 10 000 Franken für eine Woche im Einfamilienhaus
Letztes Jahr hatte in GastroJournal Brigitte Häberli-Koller, Ständerätin für den Thurgau, vor einer Krise der Institutionen gewarnt. Ein weiteres Beispiel für diese Krise, die auch der Gemeindepräsident von Interlaken thematisiert (siehe nebenstehenden Artikel), lieferte dieser Tage just Interlaken: Da war nämlich eine chinesische Reisegruppe in einem Wohnquartier unterwegs und wurde gefragt, ob sie sich verirrt habe – hier gebe es keine Logements. Der Reiseleiter zeigte auf sein Handy, das zu einem unauffälligen Einfamilienhaus wies. In der Tat können dort laut einschlägigen Buchungsportalen bis 21 Personen logieren. Eine Wochenmiete des Hauses schlägt mit gut 10 000 Franken zu Buche, der Buchungsstand ist besser als der Bewertungsstand, freie Wochen sind erst im Juni verfügbar.Dass angesichts solcher Zustände der Bund keinen Handlungsbedarf sieht, ist so plausibel (siehe oben) wie ignorant: Grundsätzlich seien «die notwendigen Gesetzesgrundlagen vorhanden», behauptete der Bundesrat vor zwei Wochen, «es braucht für ‹Sharing Economy›-Anbieter voraussichtlich keine zusätzlichen Gesetze».