Tourismus

Rückseiten des schönen Bildes

Peter Grunder – 15. Dezember 2016
Tourismus ist eigentlich keine gute Branche für die Schweiz. Aber Alternativen dazu sind schwer zu finden und vielleicht gar nicht wünschenswert.

Es war ein Höhepunkt, der tief blickenliess: «Ich mache es, weil ich es gerne mache, und nicht, weil ich viel verdienen will», sagte Lukas Müller, Jungkoch im Hotel Hof Weissbad, am letzten Tourismus Forum Schweiz. Die Veranstaltung,vom Bund organisiert im Rahmen seiner «Wachstumsstrategie für den Tourismusstandort Schweiz», thematisierte «Innovation im touristischen Arbeitsmarkt». Jungkoch Müller vertrat dabei gemeinsammit zwei weiteren jungen Berufsleuten den touristischen Nachwuchs – und inmitten all der Spitzen-Funktionäre sozusagenauch die arbeitende Klasse. Die Berufsliebe des jungen Mannes kam entsprechend gut an. Dies jedoch als süsses Klischee und nicht als bittere ökonomische Realität im Schweizer Tourismus: Gemäss dem Branchenspiegel von GastroSuisse schreiben etwa zwei Drittel aller Schweizer Hotels und Restaurants seit Jahren rote Zahlen, wenn sie sich Unternehmerlöhne zahlen. Und selbst wenn sie sich keinen Unternehmerlohn gönnen, geschweige denn eine Eigenkapitalverzinsung, legen gut 20 Prozent der gastgewerblichen Betriebe hierzulande drauf. Wer im Schweizer Gastgewerbe betriebliche Verantwortung trägt, arbeitet also tatsächlich nicht fürs Geld. Aber so hatte das Jungkoch Müller kaum gemeint. Und am Tourismus Forum waren solche wirtschaftliche Erkenntnisse auch keinThema – obschon eine Studie zum Arbeitsmarkt im Schweizer Tourismus die eigentliche Grundlage der Veranstaltung bildete. Doch statt die Fakten anzuerkennen und ernsthaft darüber nachzudenken, was sie für die Branche Tourismus sowie für den Wirtschaftsstandort Schweiz bedeuten, nahm sich das Forum beschönigende anekdotische Einzelfälle vor und fand nur ausnahmsweise zu systemischen Ansätzen. Von gewerblichem Gejammer zu plappern unterliess man immerhin, obschon das eine weitere beliebte Variante ist, nicht hinzuschauen. Dabei schreien die Fakten nicht nur bezüglich der Ertragslage im Gastgewerbe nach systemischer Analyse. Auch wenn die Studie zum Arbeitsmarkt die Schlussfolgerung aus politischen Gründen nicht ausdrücklich ziehen darf, ist sie klar:
Im Tourismus ist so viel unqualifizierte Hand- und Herzarbeit gefragt, dass die Branche an einem hochentwickelten Wirtschaftsstandort wie der Schweiz nicht konkurrenzfähig ist – und zwar weder gegenüber touristischer Konkurrenz im Ausland noch gegenüber inländischer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Die Statistiken dazu: Laut dem aktuellen Satellitenkonto beträgt der Tourismusanteil an der Schweizer Bruttowertschöpfung 2,6 Prozent– der Anteil sinkt seit Jahrzehnten. Der Tourismusanteil an der Beschäftigung hingegen erreicht fast 60 Prozent mehr, nämlich 4,1 Prozent. Es braucht also relativ viel Arbeit für relativ wenig Wertschöpfung. Und wie die touristische Erfahrung, aber auch Zahlen zu Ausbildung und Löhnen zeigen, verlangt ein Grossteil touristischer Arbeit keine ausserordentliche Qualifikation: Im Schnitt aller Schweizer Branchen haben gut 10 Prozent der Beschäftigten die obligatorische Volksschule absolviert und gegen 40 Prozent ein Studium. Im Schweizer Gastgewerbe dagegen kommen gegen 30 Prozent der Mitarbeitenden aus der Volksschule und zwischen 15 und 20 Prozent aus einem Studium (vgl. Illustration). Im Schnitt aller Branchen betrug der monatliche Bruttolohn 2014 bei der letzten Erhebung 6427 Franken– die Hälfte der Löhne lag darüber, die andere Hälfte darunter. Im Gastgewerbe erreichte der Monatslohn demgegenüber gut 4300 Franken. Das ist etwa ein Drittel weniger als in der Gesamtwirtschaft, und dass im ebenfalls stark touristischen Passagierverkehr der Lohn praktisch auf dem gesamtschweizerischen Schnitt liegt, macht das touristische Gesamtbild nicht besser. Über solche Fakten zu jammern, bringt freilich so wenig, wie sie zu beschönigen oder nicht zur Kenntnis zu nehmen. Diese drei Varianten sind jedoch umso attraktiver, als Tourismus in vielen Regionen der Schweiz ohne Alternative ist – ebenso wie das Gastgewerbe als konjunktureller und gewerblicher Puffer: Man stelle sich vor, alle maroden Bergbahnen und alle unrentablen Gastgewerbebetriebe würden ihren Betrieb wirklich einstellen. Nüchtern betrachtet, schleppt die Schweiz den Tourismus mit: einerseits aufgrund der herausragenden Standortvorteile von den mittelalterlichen Städten bis zu den atemberaubenden Bergen und vom ÖV bis zur Sicherheit. Andererseits ist der Tourismus ein Überbleibsel und war ein Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung, die aus der ärmlichen Schweiz des späten 18. Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Welt gemacht hat – die UNO-Generalversammlung höchstselbst hat jüngst festgehalten, Tourismus sei gut, um Volkswirtschaften zu entwickeln. Die schweizerische Tourismus- und Gewerbepolitik, die gar keine ist, wird da plötzlich plausibel – und auch die weltferne Debatte zur Masseneinwanderungsinitiative: Zum Glück machen sie im Schweizer Gastgewerbe und im Tourismus weiter, obschon sie praktisch nichts verdienen und politisch schikaniert werden. Ob sie die Wahl haben oder ob sie es gern machen, ist ökonomisch irrelevant, politisch heikel und ideologisch gefährlich. Um dieses Minenfeld vorsichtig zu betreten: Zum einen machen Jungkoch Lukas Müller und unzählige andere Menschen im Schweizer Tourismus ihren Job wirklich nicht wegen des Geldes und auch darum gut. Und zum anderen sind knappe Margen und viel unqualifizierte Arbeit vielleicht näher am richtigen Leben, als Politikern und anderen Funktionären lieb sein mag.