Tourismus

Das schöne Bild ist ein Mythos

Peter Grunder – 06. Juli 2017
Es ist in der Schweiz ein Tabu, das man eigentlich nicht anrührt: Tourismus hat die alpinen Bergregionen kolonisiert. Das Tabu gilt – es gibt ja keine Alternativen.

Der Tourismus des 17. und 18. Jahrhunderts war als «Grand Tour» extrem elitär und streifte die ­Alpen allenfalls als Horrortrip. Nach Napoleon und im Zuge romantisierender Alpenbeschreibungen von Byron, Goethe und später Twain erblühte ein ganz neuer Tourismus: Zu frühen Ausflugszielen auf der Rigi oder dem Faulhorn und zu traditionsreichen Gasthäusern, die dem Passverkehr dienten, kamen massenhaft touristische Ziele – vor dem 1. Weltkrieg bot die Schweiz praktisch ebenso viele Hotelbetten wie heute.

Hinter dieser Entwicklung, in den Bergen meist von Auswärtigen genutzt, standen vorab Industrialisierung und Gewässerkorrekturen, Eisenbahnen und Wasserkraftwerke. Enorme Produktivitätsfortschritte und Gewinne aus dem Kolonialismus ermöglichten die oft risikoreichen Investitionen, und der wachsende Wohlstand des Bürgertums schuf die touristische Nachfrage.

Die Bergler aber waren Bauern und Säumer, sie hatten wenig Verständnis für die selbstgefälligen Phänomene des Tourismus. Und das gilt bis heute: Eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt, ist Zermatt: Von den Gebrüdern Seiler vor rund 100 Jahren bis zur Burgergemeinde von heute akzeptiert und praktiziert man Tourismus auf hohem Niveau – und profitiert von einem tollen Standort. Ähnliches gilt fürs Engadin: Das über Generationen verfestigte Selbstbewusstsein im nicht zu erobernden Hochtal und die Geschäftstüchtigkeit im Passverkehr machten die Menschen geeignet für Tourismus – der dazugehörige Name muss Badrutt lauten.

Ansonsten mögen Grindelwald, Kandersteg und Leukerbad, das Val d’Entremont am Grossen Sankt Bernhard und manche Orte am Genfer-, Vierwaldstätter- und Thunersee ein traditionelles touristisches Flair mitbringen. Grundsätzlich jedoch herrscht wie vor 200 Jahren Skepsis gegenüber den reichen Fremden und ihrer bizarren Bewunderung für die Berge und deren Bevölkerung. Das ist ein Mythos, der nicht zu den armen Bergbauern passt: Das Säumern, Söldnern und Führen, das Anbügeln und Bewirten war ein Zusatzgeschäft mit reichen Herren – ein eindrückliches und frühes Lied davon kann Wilhelm Tell singen.



Plötzlich beginnt die Gastgeberin, die mitten im Touristenort einen stattlichen Gasthof führt, zu weinen: Sie würde auch gern ein Einkommen haben und ein Leben führen wie ihre Gäste. Dieser Ausbruch verdeutlicht ein Gefälle, das seit jeher zum Tourismus gehört. In wenig entwickelten Volkswirtschaften ist dieses Gefälle deutlich – so deutlich wie das Interesse der dortigen Regierungen am Tourismus. Er bietet als arbeits- und kapitalintensive Branche nämlich viel wirtschaftliches Entwicklungspotenzial, die Welt-Tourismus-Organisation (UNWTO) weist immer wieder darauf hin. In der hochentwickelten Schweiz jedoch gibt es dieses Interesse nicht mehr: Tourismus bietet zwar viel Beschäftigung, allerdings weitgehend in wenig qualifizierten Bereichen und in einem wenig produktiven Wirtschaftszweig. Kleine Steueraufkommen und grosse Migrationsanteile in Schulzimmern und Sozialämtern zeichnen denn auch viele touristische Gemeinden aus – der grandiose Walliser Film «Der Winterdieb» handelt anrührend davon.

Aber in der Schweiz ist es ein Tabu: das Gefälle zwischen Gastgeber und Gast sowie die ungenügende Produktivität der Tourismusbranche und deren Folgen. Jost Krippendorf, unvergessener Philosoph des Tourismus, hatte einst daran gerührt, doch wie es mit Tabus so ist: Es hat einen Sinn, das nicht zu thematisieren, denn es gibt keine Alternativen. Der augenfälligste Ausdruck dieses weiten Konfliktfeldes mag das Urserental sein: Dort, wo man seit Menschengedenken Reisenden über den Gotthard geholfen hat, wollte der Bund noch vor wenigen Jahrzehnten das ganze Tal ersäufen, um ein Wasserkraftwerk zu bauen. Und so knapp, wie es damals war, ist es auch heute: Als wäre er einem Stück von Friedrich Dürrenmatt entsprungen, erschien Samih Sawiris in den Bergen. In seinem Reichtum und Habitus erscheint er wahlweise als Gestalt aus dem Feudalismus oder der Gründerzeit – in den Zeiten der «Grand Tour», vor allem aber in der «Belle Epoque», traten in den Bergen viele solche Figuren auf und gaben den Bauern den Tarif durch.

Andermatt hat sich in Geiselhaft begeben und ist damit nicht allein: Der schmerzhafteste Ausdruck davon mag Silvaplana sein. Mühsam hatte sich der kleine Ort im Oberengadin darum bemüht, von den zahlreichen Zweitwohnungsbesitzern mehr Geld zu erhalten. Die meist wohlhabenden Gäste wehrten sich vehement und streckten erst vor Bundesgericht die Waffen. Doch damit war es nicht getan. Die Herrschaften verlegten sich auf Psychoterror und statuierten ein Exempel: Die Gemeindeversammlung von Silvaplana höchstselbst nahm schliesslich die Regelung zurück, die vom Bundesgericht geschützt worden war – ein Sündenfall von 2016, der fast so tief blicken lässt wie jener von 1805.