Tourismus

Das Potenzial nicht ausgeschöpft

Peter Grunder – 08. November 2018
Er definiert die staatliche Rolle im Schweizer Tourismus massgeblich mit.

Richard Kämpf hat an der Universität Bern Volkswirtschaft studiert und wurde in der Tourismusbranche bekannt, als er beim BAK Basel unter anderem den Destinationsmonitor mitentwickelte. 2008 wechselte der verheiratete Familienvater zum Bund, wo er die Tourismuspolitik beim Staatssekretariat für Wirtschaft SECO leitet. Damit hat er wesentlichen Anteil etwa an den Tourismusstrategien oder an der Standortförderung des Bundes. GastroJournal: Herr Kämpf, die Produktivität im Tourismus ist gering. Muss der Staat Tourismus strukturell also eher hemmen statt fördern
Richard Kämpf: Tourismus soll sich dort entwickeln, wo er Potenzial hat. Aus staatlicher Sicht geht es dabei letztlich weder um einzelbetriebliche noch um branchenspezifische Förderung und Hemmung, sondern um gute Rahmenbedingungen und um Standortförderung – Tourismus ist beim SECO ja auch Teil der Standortförderung. Mit Blick auf den Schweizer Tourismus sind die Standorte dabei sehr unterschiedlich: von Zermatt, in dem der Tourismus dominiert, bis nach Interlaken oder Luzern, die zwar als touristisch gelten, aber Teile von Grossräumen sind, in denen neben dem Tourismus eine Reihe weiterer Faktoren die Regionalentwicklung prägen. Was bedeuten diese unterschiedlichen Ausgangslagen für die Rolle des Staates? 
Einerseits muss sich der Tourismus, getragen von den Unternehmen, grundsätzlich behaupten. Der Staat kann da nichts verordnen, schon gar nicht in unserer föderalen Struktur. Andererseits kann der Staat aber von der Basis aus für gute Rahmenbedingungen sorgen. In einer Region, in der die touristische Nachfrage sehr gross ist, kann das heissen, dass eine Gemeinde etwa raumplanerische Massnahmen ergreift. Und wo es touristisch weniger gut läuft, kann es etwa darum gehen, dass eine Tourismusorganisation zusammen mit den Leistungsträgern neue Produkte schafft und Märkte dafür erschliesst. Das Schlagwort vom «Overtourism». 
Hier haben wir einen positiven Handlungsdruck, und mit Blick auf die Wettbewerbslage des Schweizer Tourismus zeigen die jüngsten Zahlen, dass die Schocks im Zuge der Banken- und Finanzkrisen überstanden sind. Wir sind aufgrund verschiedener Faktoren zwar immer teuer, haben im internationalen Vergleich aber preislich wieder Luft nach oben. Ob es aber gut läuft oder schlecht: Der staatliche Ansatz, «bottom up» zu handeln und grundsätzlich für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, bleibt derselbe. Dafür brauchts zwei bundesrätliche Tourismusstrategien innert weniger Jahre? 
Seit 1979 hatte der Bund tourismuspolitisch keinen strategischen Rahmen gesetzt. 2010 schufen wir diesen Rahmen neu. Er gilt immer noch und ermöglichte eine Strukturierung der Tourismuspolitik des Bundes, die sich bewährt. Die Arbeiten gehen denn auch weiter. Doch zum einen sind die Gewichtungen jetzt anders, indem etwa der Tourismus als Querschnittsthema beim Bund besser verankert ist. Hier haben wir Fortschritte gemacht. Zum anderen arbeiten wir seit knapp einem Jahr mit einer weiterentwickelten Tourismusstrategie. Sie beruht auf den seit 2010 gelegten Strukturen, setzt aber einen stärkeren Fokus auf Inhalte. Wir arbeiten nun weniger in Programmen, sondern sozusagen direkt auf der Strategie. Können Sie eine erste Bilanz ziehen? 
Das ist noch sehr früh, aber ich denke, dass wir auf dem richtigen Weg sind: praxisorientierter, flexibler, näher an den Unternehmen, an den verschiedenen Akteuren und an den Entwicklungen. Für eine Behörde ist das nicht einfach, aber es ist möglich und nötig, zumal manche Entwicklungen sehr schnell ablaufen. Und weil wir nicht wissen, was in ein paar Jahren sein wird, prüfen wir auch früh, inwiefern sich Massnahmen bewähren. Was sind besondere Handlungsfelder? 
Im Rahmen des strategischen Ziels, die Attraktivität des Angebots und den Marktauftritt zu stärken, ist ein besonderes Handlungsfeld eine bessere Verknüpfung der Schweizerischen Gesellschaft für Hotelkredit SGH und von Schweiz Tourismus ST mit unseren Aktivitäten beim SECO. Dabei geht es nicht etwa um Inte­gration, sondern um eine Bündelung der Kräfte. Bei der SGH ist darüber hinaus für die nächsten Jahre vorgesehen, eine zeitgemässe Form samt Erweiterung der Aufgabenfelder zu prüfen – dies namentlich mit Blick auf weiche Faktoren wie die Digitalisierung. Ein weiterer interessanter Bereich ist die neu gebildete touristische Expertengruppe mit 17 Mitgliedern unter der Leitung von SECO-Direktorin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch. Bundesrat Johann Schneider-Ammann hatte dieses Gremium mit dem Ziel angeregt, die Tourismusstrategie praxisnah, flexibel, wirtschaftsfreundlich und politisch mehrheitsfähig zu gestalten und umzusetzen. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist schliesslich das Tourismus Forum Schweiz TFS, das wir Mitte November erstmalig in einem neuen Format veranstalten. Weil das Wissen, die Erfahrung und die Kreativität im Schweizer Tourismus vorhanden sind, setzen wir künftig weniger auf die Vermittlung als auf die Verknüpfung und den Austausch. Und wo sehen Sie ausserhalb besonderen Handlungsbedarf? Bei den Unternehmen gibt es natürlich immer Handlungsbedarf und Baustellen, aber insgesamt sehe ich viele gute und agile Leistungsträger mit spannenden Ansätzen und Erfolg. Ein Bedarf zur Neuorientierung scheint jedoch bei den Destinationen zu herrschen. Die enormen Veränderungen der letzten Jahre und die ständig weitergehende Entwicklung stellen viele Aufgaben infrage. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Digitalisierung. Dort geben unwägbare globale Entwicklungen den Takt vor. Das fordert professionelle Akteure wie das Switzerland Travel Center STC ständig – und für normale Destinationen ist es schon anspruchsvoll genug, sich nicht mit Insellösungen zu isolieren. Eine ähnlich komplexe Situation haben wir im Bereich der Statistik. Die klassischen Erhebungen, welche die Branche ja ohnehin seit Jahren umtreiben, müssen wir überdenken, ohne dass wir genau wissen können, wohin die Entwicklung geht. Klingt unerfreulich? Wir können zwar genau studieren, wie Netzwerke oder Reiseströme funktionieren oder wie Potenziale in Destinationen in Wert gesetzt werden können. Integration etwa mag auf den ersten Blick immer richtig sein. Weil aber die Voraussetzungen überall verschieden sind, ist kaum etwas kopierbar, was sowohl die Orientierungsschwierigkeiten in den Destinationen wie auch die unterschiedlichen Destinationsmodelle verständlich macht. Ich bin alles in allem zuversichtlich, dass die touristischen Akteure hier auch in Zukunft Wege finden werden, sich laufend erfolgreich ans sich verändernde Marktumfeld anzupassen. Gibt es keinen Königsweg? Der Weg liegt vielleicht darin, sich der Unterschiede bewusst zu sein und Kooperation wie auch Integration zwar anzustreben, aber auch psychologische oder systemische Widerstände anzuerkennen. Das gilt im Übrigen ebenfalls für die Unternehmen. Die allerdings müssen auf dem Markt bestehen und haben letztlich keine Wahl. Sie holen das ab, was sie brauchen, und dabei unterstützen wir sie auf staatlicher Ebene, indem wir Regulierungen überprüfen und abbauen, die Bewilligungspraxis vereinfachen oder Firmengründungen erleichtern. Wie sehen Sie eigentlich die Funktion des Gastgewerbes, also von Hotellerie und Gastronomie, im touristischen Gewebe? Die Schweizer Hotellerie hat seit jeher weltweit einen hervorragenden Ruf, und sie hat sich gerade im letzten Jahrzehnt unter schwierigen Bedingungen insgesamt sehr gut gehalten. Bei der Gastronomie wiederum habe ich Freude an der aktuellen Entwicklung, wie sie etwa von ST aufgenommen wurde oder wie wir sie im Westschweizer Projekt «semaine du goût» aktuell mit Innotour unterstützen. Die Gastronomie ist als Positionierungsmerkmal und als Reisemotiv erkannt. Das ist eine grosse Chance für die Schweizer Gastronomie und für den Schweizer Tourismus, und das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Zum einen hat die Schweiz kulinarisch enorm viel zu bieten. Zum anderen hat Kulinarisches aber auch einen unglaublichen Stellenwert erhalten – bis hin zur Welt-Tourismus-Organisation UNWTO, die einen gastronomischen Start-up-Wettbewerb lanciert hat. Insofern sind wir zwar auf dem richtigen Weg, können aber noch viel mehr herausholen.