Tourismus

Das Klima verlangt Umdenken

Johanne Stettler – 15. November 2018
Der Tourismus ist sowohl Treiber als auch Opfer des Klimawandels. Geeignete Massnahmen sind unabdingbar.

Der Tourismus ist vom Klimawandel des Planeten stark betroffen. Eine Situation, die sich in Zukunft noch zuspitzen dürfte. Christophe Clivaz unterrichtet am Institut für Geografie und Nachhaltigkeit der Universität Lausanne. Der Professor für Governance und vergleichende Analyse im Bereich Tourismuspolitik beschäftigt sich in seinem 2015 erschienenen Buch «Tourisme d’hiver: le défi climatique» mit der globalen Klimaerwärmung und ihren Auswirkungen. Zwischen Ratschlägen und Warnungen spricht der Walliser über die Risiken des Klimawandels, aber auch über daraus entstehende Chancen für den Tourismus. GastroJournal: In welchem Ausmass erwärmt sich das Klima? 
Christophe Clivaz: Die letzten Stu­dien, namentlich der IPCC-Bericht des Weltklimarates, zeigen, dass sich die globale Erwärmung beschleunigt und dass sich ein Erreichen des Reduktionsziels der globalen Temperaturen von 1,5 bis 2°C als sehr schwierig erweisen dürfte.

«Die Klimaerwärmung in unserem Land ist doppelt so stark wie anderswo»
Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Die Klimaerwärmung ist in unserem Land doppelt so stark wie im weltweiten Durchschnitt. Das lässt sich teilweise mit dem Relief des Landes erklären: Das alpine Klima zeichnet sich aufgrund der Wechselwirkung zwischen den Bergen und der atmosphärischen Zirkula­tion durch eine hohe Komplexität aus. Die durchschnittliche Temperatur nahm in der Schweiz im Vergleich zur Mitte des ­19. Jahrhunderts um 1,75°C zu. Und dabei wird es nicht bleiben, wie Reto Knutti bestätigt, Professor am Institut für Atmosphäre und Klima an der ETH Zürich und Co-Autor zweier IPCC-Berichte. Gemäss den letzten präsentierten Szenarien ist in der Schweiz bis zu den 2050er-Jahren eine Erwärmung von 2,5 bis 4,5°C möglich. Das wird selbstverständlich einschneidende Veränderungen herbeiführen. Sie zögern nicht, zu sagen, dass der Tourismus teilweise für diese Situation verantwortlich ist …
Ja, ganz klar. Der Sektor ist ein grosser Verursacher von Treibhausgasen. Den grössten CO2-Fussabdruck hinterlässt der Tourismus mit dem Luftverkehr und dem Auto als meistbenütztem Verkehrsmittel. Und die Situation wird sich noch zuspitzen, wenn wir nichts unternehmen, denn der Tourismus nimmt weiter zu und die Flugreisen ebenso. Die Flugzeuge sind je länger, desto effizienter und verbrauchen weniger, doch zeichnet sich auf kurze Sicht keine veritable Technologie ab, die einen Kerosinverzicht ermöglicht. Meiner Meinung nach werden im Bereich der Luftfahrt die umweltpolitischen Herausforderungen überhaupt nicht wahrgenommen. Man kann sogar von einer Verzerrung der Konkurrenz zum Schienenverkehr sprechen, denn auf internationalen Flügen werden weder eine Umweltabgabe auf Flugtickets noch eine Kerosinsteuer erhoben. Der Flugsektor geniesst Vorteile, was meines Erachtens mit einer konsequenten Klimapolitik im Widerspruch steht.
«Der Zugang zu touris­tischen Destinationen erschwert sich»
Andererseits sagen Sie, dass der Tourismus auch Opfer des Klimawandels ist.
Ja, denn die klimatischen Veränderungen wirken sich stark auf die verschiedenen Regionen aus. In Küstengebieten, wie im Süden Englands oder weiter entfernt in Florida, gehen die Strände zurück, sie werden vom Meer verschluckt und mit ihnen die umliegenden Häuser. In den Bergen schwankt die Regen-­Schnee-Grenze stark, was Anpassungen erfordert. Naturrisiken und Extremereignisse wie Überschwemmungen und Erdrutsche häufen sich. Gewisse Bergstrecken erweisen sich wegen der Gletscherschmelze als problematisch, und die Landschaft ist weniger attraktiv. Generell kann der Zugang zu touristischen Destinationen erschwert sein. Sichere Strassen, um Steinschläge zu verhindern, erfordern bedeutende Bauarbeiten, die mit hohen Kosten verbunden sind. Auch die Frage nach der Schneehöhe ist in aller Munde … 
Mehrere Faktoren sind zu berücksichtigen. Nicht nur die Schneegrenze ist rückläufig, sondern auch der Markt. In der Schweiz haben wir innert 10 Jahren 25 Prozent der Skitage verloren. Alle versuchen an diesem Angebot festzuhalten, indem sie namentlich in künstliche Beschneiungsanlagen investieren. Obwohl meines Erachtens gewisse Skigebiete, die sich unterhalb von 1500 Höhenmetern befinden, besser schliessen oder sich auf Aktivitäten ausserhalb des Skitourismus konzentrieren würden. Für sie liegt die Herausforderung darin, sich nicht mehr ausschliesslich als Skista­tion zu betrachten. Heute können die Berg­bahnen das ganze Jahr hindurch funktionieren, indem sie andere alpine Aktivitäten anbieten. Kann der Klimawandel für den Tourismus sozusagen eine Chance darstellen?
Trotz der Bedrohung kann die Klima­änderung durchwegs neue Möglichkeiten schaffen. Im September und im Oktober regnet es in der Schweiz am wenigsten, doch werden diese Monate aus touristischer Sicht noch verhältnismässig wenig genutzt. Durch die Klimaerwärmung wird diese Periode noch angenehmer, und die Akteure können davon profitieren. Zudem werden die Berge im Sommer dank der Kühle im Vergleich zu Badestationen an Attraktivität gewinnen. Wie können sich die Branchenfachleute den Veränderungen anpassen?
Die Unternehmen und die Tourismusakteure müssen die klimabedingten Veränderungen in ihren Businessplan miteinbeziehen. Dies ist dennoch schwierig, denn viele stehen unter Druck. In den Bergen floriert der Tourismus nicht sonderlich, was Jahr für Jahr zu Überlegungen führt, die nicht langfristig sind. Bei Schneemangel beispielsweise bräuchte es bereits mehrere Monate im Voraus einen Plan B. Und wenn es dann keinen Schnee gibt, sind alle bereit, um zu reagieren. Welche Art von Plan B?
An Weihnachten zieht es bekanntlich viele Gäste in die Berge. Falls jedoch die Hälfte des Gebiets geschlossen bleibt, muss man sich Animationen und andere Aktivitäten überlegen, wie Ausstellungen, Indoorangebote oder Önotourismus. Aber das sind nicht Sachen, die man zehn Tage zuvor zusammenbastelt, wenn man sicher ist, dass es keinen Schnee geben wird. Das muss im Voraus geplant werden. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass man sein Aktivitätsfeld ausweiten und Angebote finden muss, die weniger schneeabhängig sind.
«Man muss Angebote finden, die weniger schneeabhängig sind»
Wie kann der Tourismus im Kampf gegen die Klimaerwärmung seinen Beitrag leisten?
Die lokalen Akteure können im Kleinen wirken, indem sie die öffentlichen Verkehrsmittel und den Langsamverkehr fördern. Die energetische Sanierung der Immobilien, insbesondere der Zweitwohnungen, wäre ebenso wünschenswert. Und vor allem müssten die externen Kosten des Flugverkehrs internationalisiert werden, indem eine Kerosinsteuer erhoben würde. Welches sind Ihrer Ansicht nach Beispiele für vorbildliche Verfahren?
Moléson ist ein oft zitiertes Beispiel. Die Seilbahnen schaffen in den Sommermonaten seit mehreren Jahren eine Diversifizierung des touristischen Angebots. Und das zahlt sich aus, denn im Sommer wird hier heute mehr Umsatz erzielt als im Winter. Im Tessin ist der Monte Tamaro ausschliesslich im Sommer geöffnet. Die Verantwortlichen schufen eine Art Attraktionspark mit einer Sommerrodelbahn und einer Kirche von Mario Botta. In Nax überzeugt das Maya Boutique Hotel, das aus Strohballen gebaut und mit einer Solaranlage für die Elektrizität ausgestattet ist. Zudem lancierte dieses Hotel vor einigen Jahren das Projekt Green Mobility, das den Hoteliers im Eringertal ermöglicht, den Gästen für ihre Erkundungen Elektroautos anzubieten.