Die Gretchenfrage im Tourismus ist letztlich weniger, ob es zu viel oder zu wenig Tourismus gibt, sondern ob Gäste und Gastgeber zufrieden sind. Die UNESCO-Biospähre Entlebuch macht seit 20 Jahren vor, wie das geht. Aber ein Vorbild ist die Region nicht nur hinsichtlich Angebot und Nachfrage im Tourismus, sondern auch organisatorisch. Integrierte Standortförderung etwa ist hier schon längst selbstverständlich.
«Nachhaltigkeit ist zwar dauernd präsent, aber wir arbeiten alles andere als nachhaltig», sagt Theo Schnider mit besonderem Blick auf die Tourismusbranche: Man werde gemessen in «Frequenzen und Übernachtungen», der Druck und das Tempo sei auf allen Seiten gross. «Viele Destinationen stecken in einem Hamsterrad – immer höher, immer weiter, immer schneller, immer unpersönlicher und immer uninformierter», erläutert Schnider, «und wenn man austauschbar ist, geht es notgedrungen über nur noch über den Preis», klingen Dumping und Kannibalisierung in der Wintersportbranche an.
Theo Schnider: «Viele Destinationen stecken in einem Hamsterrad – immer höher, immer weiter, immer schneller, immer unpersönlicher und immer uninformierter.»Seit ein paar Wochen ist Schnider selbst ein zentral verantwortlicher Bergbähnler: Die Generalversammlung der Bergbahnen Sörenberg hat ihn Mitte September zum neuen Verwaltungsratspräsidenten gewählt (siehe Artikel unten). Indes hatte Schnider bereits 10 Jahre lang dem Verwaltungsrat dieser Bahn angehört, und im Entlebuch wie auch im Schweizer Tourismus kann er als einzigartigter Solitaire und als Urgestein gelten: einst Student bei Jost Krippendorf, dann Kurdirektor in Sörenberg ab 1980, schliesslich Promotor und Direktor der UNESCO Biosphäre Entlebuch ab 2000. Zwar mögen manche Schweizer Touristiker nicht nur geografisch auf diese Region herunterschauen (siehe unten). Aber das Entlebuch steht genau für jene Qualitäten, die im späten 18. Jahrhundert den modernen Tourismus ins Rollen brachten. Seither werden diese wahren Werte von Touristikern beschworen, weil der Gast sie immer sucht, aber in der Masse zerstört, sobald er sie besucht (vgl. GJ35). Einen verantwortungsvolleren Weg hat das Entlebuch gefunden: «Wenn unsere Idee geschickt auf den Boden gebracht wird, kann sie der Ansatz für ein Modell des Tourismus sein, das es noch wenig gibt, aber mehr braucht: unterschiedliche Ansprüche breit aufgestellt unter ein Dach bringen.» Zwar ist Schnider einerseits klar, dass die Voraussetzungen überall verschieden sind und nicht alles über einen Leisten eschlagen werden kann. Andererseits geht er auch davon aus, dass es Leidensdruck braucht für entscheidende Veränderungen, die vielerorts notwendig sind: «Häufig wartet man, bis es fast nicht mehr geht.» Im Entlebuch sei es es vorab die Moorschutzinitiative und die damit ungewisse Zukunft des Tourismus gewesen, die vor genau 20 Jahren den Anstoss gaben, erzählt Schnider – und erläutert die nachhaltige Fortsetzung: «Es ist mehr als genug Wissen da, um die Herausforderungen zu bewältigen, aber wir müssen zusammen reden und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es einem selber besser geht, wenn es anderen gut geht.» Eine solche Haltung zu entwickeln, ist laut Schnider entscheidend, aber keineswegs einfach: «Man muss persönlich viel investieren, darf die Fehler nicht bei anderen suchen und braucht eine weitsichtige, kooperative Ressourcenplanung.»
Theo Schnider: «Man muss persönlich viel investieren, darf die Fehler nicht bei anderen suchen und braucht eine weitsichtige, kooperative Ressourcenplanung.»Die Biospähre oder ein Naturpark seien dabei «nicht das Allheilmittel», sondern eher Konstruktionen, um die grundsätzlichen Werte pflegen unter weiterentwickeln zu können. Hinsichtlich der Umsetzung gibt es da freilich keinen Zweifel: Das Entlebuch operiert in einem Umfeld, von dem andere Destinationen kaum zu träumen wagen. Die Dachmarke ist so etabliert, dass sogar Unternehmen sie führen, Tourismusorganisation und Regionalplanung sind unter einem Dach – und nicht zuletzt ist Nachhaltigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt auf allen Schulstufen im Entlebuch längst ein völlig selbstverständliches Schulfach. Das Entlebuch widerspiegelt den Schweizer Tourismus besser als Luzern Marbachegg mit Blick nach Escholzmatt. Laut dem Wertschöpfungsbericht des Kantons Luzern von 2015 sind zwischen 2005 und 2014 «die Hotellogiernächte im Entlebuch um 42 Prozent gestiegen» Überdies ist das Entlebuch «als einzige Region des Kantons Luzern stärker auf die Parahotellerie als die Hotellerie ausgerichtet». Neben diesen qualitativen Aussagen, die das Entlebuch gross erscheinen lassen, stehen quantitative, die es klein machen: eine touristische Bruttowertschöpfung von jährlich gut 40 Millionen mit umgerechnet gut 460 Vollzeitstellen; etwa 600 000 Tagesgäste; knapp 1000 Hotelbetten mit jährlich rund 50 000 Hotelübernachtungen und über 4000 Betten in der Parahotellerie. Demgegenüber steht die Stadtregion Luzern: eine touristische Bruttowertschöpfung von über 700 Millionen Franken mit gegen 8000 Vollzeitstellen; gut 8 Millionen Tagesgäste; rund 1,5 Millionen Hotelübernachtungen über 7500 Betten. Die Stadt Luzern kommt touristisch also etwa 20 Mal grösser daher als das Entlebuch. Aber das ist ökonomisch und gesellschaftlich zu relativieren: Mit etwa 135 000 Übernachtungen in der Parahotellerie ist Luzern nicht viel grösser als das Entlebuch mit seinen rund 100 000 Übernachtungen in Ferienwohnungen – darunter dem Schwergewicht Reka-Dorf in Sörenberg mit über 50 Ferienwohnungen. Und was die Wertschöpfung pro Arbeitsplatz sowie den touristischen Anteil an der Gesamtwirtschaft anbelangt, ist das Entlebuch der Stadt Luzern sogar überlegen: In beiden Regionen beträgt die Wertschöpfung pro Vollzeitstelle rund 90 000 Franken und der Anteil touristischer Stellen an der Gesamtwirtschaft 7 Prozent. Diese 7 Prozent Tourismusbeschäftigte holen in der Stadt Luzern aber nur 5 Prozent der gesamten Wertschöpfung, während sie im Entlebuch 7 Prozent schaffen. Was zur gesellschaftlichen Dimension führt: Insgesamt ist der Schweizer Tourismus quantitativ weit näher am Entlebuch als an Luzern. Qualitativ wiederum sollte man möglichst viel aus der touristischen Arbeit herausholen – und nicht in Billigtourismus machen, der von ausländischen Arbeitskräften und Gästen dominiert wird, um zu guter Letzt doch noch ideologisch zu werden. Das Rothorn samt Sörenberg und Brienz als Erlebnisraum denken Das Rothorn von Brienz aus. Elend ist die Lage beidseits des Rothorns – auf den ersten Blick: hier eine einzigartige Dampfzahnradbahn von 1892, die nur im Sommer fährt und seit Jahren am finanziellen Ruin entlangschrammt; und dort eine erst 1973 gebaute Luftseilbahn, die Teil eines eher tief gelegenen und mittleren Wintersportgebietes ist. Theo Schnider (siehe oben) ist der neue Verwaltungsratspräsident der Bergbahnen Sörenberg, und dass er die Verantwortung übernahm, hat mit einem Grundsatzentscheid und einem zweiten Blick zu tun: Der Grundsatzentscheid geht dahin, dass die finanziell recht solid aufgestellten Bergbahnen Sörenberg darauf verzichten, neue, unbebaute Geländekammern zu erschliessen. Stattdessen soll das anspruchsvolle Gebiet am Rothorn zeitgemäss aufgestellt und das einfachere Gebiet beim Dorf auf Einstiegszwecke ausgerichtet werden – wintersportstrategisch sind beide Absichten plausibel: «Wir wissen relativ gut, was wir wollen und was nicht, darum gehe ich davon aus, dass dies auch finanzierbar ist», sagt Schnider, der Bergbahnen keinesfalls als öffentliche Güter ansieht, sondern als kommerzielle Privatunternehmen. Der zweite Blick sieht nicht nur den Winter und nicht nur Sörenbergs Seite des Rothorns: «Wir sollten den ganzen Berg als Erlebnisraum denken, und da gehört Brienz dazu», erläutert Schnider. Der Ansatz ist bestechend; ein Rothorn samt Biosphäre, Ballenberg und Brienz hätte Potenzial für nationale und für internationale Strahlkraft.