People

Vom Profisportler zum Hotelier in Grindelwald

– 15. November 2021
Hotelier, Familienvater – und bald Lokalpolitiker? Jan Pyott führt mit seiner Frau Justine das Boutiquehotel Glacier in Grindelwald. Die Destination im Berner Oberland schrieb in den letzten Jahren mehr negative als positive Schlagzeilen. Das Ehepaar aber führt den schmucken Betrieb seit vier Jahren mit grossem Erfolg.

«Sorry, darf ich kurz ans Telefon», bittet Jan Pyott (40). Er sitzt im Restaurant seines Hotels Glacier in Grindelwald BE und erzählt eigentlich über den Betrieb. Für einen kurzen Moment wendet er sich ab und erklärt freundlich, dass die Lüftung im Zimmer Ende Oktober nur zum Heizen, nicht aber zum Kühlen funktioniere. Falls es dem Gast zu warm sei, könne er gerne das Fenster öffnen. Die Luft im Berner Oberland sei sehr sauber.

Am anderen Ende der Leitung war ein Hotelgast aus einer fremden Kultur. «Frische Luft kennt er von zu Hause nicht. Er ruft zum wiederholten Mal mit dem gleichen Problem an.» Pyott lächelt. Trotz Marathontag. Heute Abend ersetzt er seinen kurzfristig erkrankten Rezeptionisten. Neben seiner Tätigkeit als Hotelier. Doch Marathontage ist Pyott von 18 Jahren als Profi-Triathlet gewohnt. «Die Ausdauer habe ich bestimmt vom Sport, die Beharrlichkeit auch.» Jan Pyott weiss, was er will, seine aus Paris stammende Frau ebenso.

Vor ihrer Zeit als Hoteliers ist die Region das Habitat, in dem die beiden ihren Sport treiben: Er schwimmt, radelt, rennt, sie springt als Basejumperin im nahen Lauterbrunnen von den Bergen herunter. Er ist indes seit seiner Kindheit von der Gastronomie fasziniert, sie träumt vom eigenen Hotel. Beide haben ein Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen. Der Businessplan für das gemeinsame Hotelprojekt ist schnell verfasst: Der beliebten Destination am Fuss der Eigernordwand fehlt ein Boutiquehotel, ein persönliches, überschaubares Haus mit Charme und Stil mit Fokus auf der Kulinarik.

Fluch und Segen aus Südkorea

Als die beiden ihre Vorgänger Anfang 2017 im Glacier anfragen, ob sie das Hotel übernehmen könnten, findet man sich sogleich. Das 1864 erbaute Chalet-Hotel ist in die Jahre gekommen. Im Sommer baut es das neue Führungspaar komplett um, im Winter wird es eröffnet. Und bald darauf werden die Pyotts komplett überrumpelt. Ein populärer Reiseblogger aus Südkorea berichtet auf seiner Website derart positiv über das Hotel, dass das Glacier quasi über Nacht mit Buchungen überhäuft wird. «Mit diesem Senkrechtstart rechneten wir nicht», erinnert sich Jan Pyott. Er ist Segen und Fluch zugleich. «Nach 100 Tagen als Hoteliers zog Justine die Notbremse.» Es muss sich sofort etwas ändern, andernfalls sieht sie keine gemeinsame Zukunft. «Wir beide arbeiteten sieben Tage die Woche 16 oder mehr Stunden. So konnte es nicht weitergehen.» Gemeinsam ziehen sie sich für zwei Tage zurück, besprechen die Lage in Ruhe und beschliessen, zwölf zusätzliche Mitarbeiter einzustellen. «Das war ein enorm wichtiger Entscheid für unser Berufs- und Privatleben. Wir harmonieren sehr gut miteinander, jeder hat seinen Verantwortungsbereich, wir tauschen uns aus, beraten uns.» Gemeinsam sind sie Eltern zweier Kinder.

Negative Schlagzeilen

Auch aufgrund der unverhofften koreanischen Starthilfe sagt Pyott stolz: «In zwei Jahren gehört das Hotel komplett uns.» Dann ist der Kredit bereits abbezahlt. Die Zimmer sind fast immer ausgebucht. Eine Erfolgsgeschichte, wie sie Grindelwald zuletzt kaum mehr kennt. Schlagzeilen über jahrelang leerstehende Hotels, über verworfene Baupläne, über ein lange nicht realisiertes Bahnprojekt, über fehlendes Vertrauen von potenziellen Investoren prägten die Destination in den letzten Jahren. Nicht jeder hat Freude an der teils komplizierten, wenn auch zahlungskräftigen, neureichen Klientel aus arabischen Ländern und dem Fernen Osten.

Die Kundschaft im Glacier ist durchmischt. Dies haben die Pyotts nicht zuletzt ihrer Gastronomie zu verdanken. Die Küche des erst 27-jährigen Robert Steuri verblüfft. Gourmet in den Bergen verkommt vielerorts zu einem Kniefall gegenüber einer klassisch orientierten Klientel. Rindsfilet, Taube, Steinbutt, Kaviar und Trüffel – spektakulär, aber austauschbar, seelenlos. Nicht so im als Viersterne-Superior-Hotel ausgezeichneten Glacier. Steuris Herbstmenü ist gespickt mit regionalen Produkten und eigenen Ideen. Der Gast wählt drei, fünf oder sieben Gänge – «See und Tal» mit Fisch und Fleisch oder die vegane Option «Wiese und Wald». Auch ein Mix aus beiden Menüs ist möglich.

Stör aus dem wenige Kilometer entfernten Tropenhaus Frutigen, Ravioli mit Randen aus der Nachbarschaft, Wild aus der Region. Die Gerichte sind allesamt frisch und anregend. Prestigeprodukte sind an diesem Abend keine auf dem Teller, sie fehlen nicht. Viele Komponenten baut der Betrieb im Garten selbst an, die meisten weiteren bezieht er von Produzenten aus dem Berner Oberland. Eine hübsche Übersicht dazu ist auf der Website des Hotels ersichtlich. Pâtissière Tina Berger ist ein Glücksfall: Sie arbeitete davor beim deutschen Dreisternekoch Christian Bau und rundet das Menü mit einem saisonalen Apfeldessert spektakulär ab. Pyott: «Wir haben bereits sehr viele regelmässig wiederkehrende Gäste. Im Hotel und im Restaurant.»

Pyotts neuer Triathlon

Die Wahl der passenden Weine bestimmt der Hotelier höchstpersönlich mit. «Bei Robert Steuri in der Küche mische ich mich nicht ein», so Pyott. «Er hat einzig die Vorgabe, eine schwarze Null zu schreiben.» Der Wein hingegen ist längst zur Leidenschaft des ehemaligen Spitzensportlers geworden. Dazu gehören regelmässige Winzerbesuche ebenso wie hochkarätige Degustationsabende im Hotelrestaurant.

Ob er dafür auch im kommenden Jahr Zeit findet, hängt nicht zuletzt vom 28. November ab: Dann steht die Gemeinderatswahl von Grindelwald an. Der gebürtige Bieler kandidiert. Er will die Zukunft des gesamten Orts mitgestalten. Familie, Hotel, Politik – der neue Triathlon des Jan Pyott?