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«Der Bundesrat befindet sich auf einer Gratwanderung»

Reto E. Wild – 09. Dezember 2020
Als Wirtschaftsminister gehört Guy Parmelin zu den für die Branche wichtigsten Mitgliedern des Bundesrats. Im Interview mit dem GastroJournal äussert er sich zum Geschäftsmietegesetz, zur Härtefallverordnung, Kurzarbeit, zur Strukturbereinigung der Branche und wie er Weihnachten ­feiern wird.

Herr Bundesrat, Sie wurden am 9. Dezember mit 188 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Was wollen Sie gerade in Zeiten von Corona erreichen?
Guy Parmelin: Ich stelle nach den letzten Abstimmungen fest, dass unsere Gesellschaft durch verschiedene Strömungen geprägt ist. Es gibt nicht nur den Rösti- oder Spaghettigraben. Alt/Jung oder Stadt/Land beurteilen die Lösungen auf Herausforderungen ganz anders. Ich mache mir Sorgen um den Zusammenhalt in der Schweiz. Ihn möchte ich ins Zentrum meines Präsidialjahres stellen. Reden wir über den politischen Alltag. Das Parlament sagt Nein zum Covid-19-Geschäftsmietegesetz.

Auch Sie waren gegen eine Mietzinsreduktion für die betroffenen Betriebe.
Das Monitoring zu den Geschäftsmieten hat gezeigt, dass diejenigen Mietparteien, die eine Lösung gesucht haben, mehrheitlich eine gefunden haben. Der Bundesrat hat weitere Vorbehalte gegen dieses Gesetz: Erstens wäre es ein staatlicher Eingriff in Vertragsverhältnisse von Privaten. Zweitens würde ein derart pauschaler Eingriff den Vertragsverhältnissen im Einzelfall nicht gerecht. Drittens wirft die vom Parlament geforderte Lösung viele rechtliche Fragen auf. Und viertens haben wir mit den Härtefallregelungen nun ein Instrument, das viel effizienter wirkt als das Geschäftsmietegesetz. Zudem können die Kantone ebenfalls unterstützen, so wie dies Freiburg, Genf oder zuletzt Basel-Landschaft entschieden haben.

Zur Härtefallverordnung: Die französischsprachigen Kantonalverbände von GastroSuisse haben um dringende zusätzliche Massnahmen gebeten. Was ist daraus geworden?
In der Covid-19-Härtefallverordnung, die der Bundesrat am 25.11.2020 verabschiedet hat, hat der Bundesrat auf eine Fokussierung auf einzelne Branchen verzichtet. Die konkreten Härtefallhilfen erfolgen durch die Kantone. Sie können Schwerpunkte setzen. Wenn dies in einem Kanton sinnvoll ist, kann er beschliessen, die Hotellerie und Gastronomie spezifisch zu unterstützen. Selbstverständlich können auch Unternehmen aus der Gastronomie- und Hotelbranche Unterstützungen beantragen, wenn sie die Bedingungen der Verordnung erfüllen. Im Bereich der Kurzarbeitsentschädigung (KAE) wird bis am 31. Dezember 2020 das summarische Verfahren angewendet. Ob auch danach an der vereinfachten Anmeldung und Abrechnung der Kurzarbeitsentschädigung festgehalten werden soll, wird vom Bundesrat ebenso noch geprüft wie eine Erweiterung des Anspruchs auf Kurzarbeitsentschädigung für Personen in befristeten Anstellungsverhältnissen. Die Hilfe bei Härtefällen wurde von 400 Millionen auf eine Milliarde Franken erhöht. Glaubten Sie ursprünglich tatsächlich, 400 Millionen Franken würden genügen?
Diese Hochrechnung war vor der zweiten Welle erfolgt. Die damit verbundene Notwendigkeit für gesundheitspolitische Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens hat die Gefahr einer deutlich stärkeren Zunahme von Härtefällen erhöht. Der Bundesrat hat daher dem Parlament am 18. November 2020 beantragt, dass die Gesamtsumme der Unterstützung von Bund und Kantonen für die Härtefälle auf 1 Milliarde erhöht werden soll.

Und diese Milliarde Franken soll nun ausreichen, um die wirtschaftlichen Folgen der Covid-Pandemie abzufedern?
Diese Milliarde betrifft nur die Härtefallhilfen. Der Bundesrat hat seit Beginn der Pandemie ein umfangreiches Paket an Abfederungsmassnahmen geschnürt. Dieses deckt mit der KAE und dem Corona-Erwerbsersatz bereits ein sehr breites Spektrum ab. Mit den Härtefallhilfen können nun noch bestehende Lücken geschlossen und besonders stark betroffene Unternehmen gezielt zusätzlich unterstützt werden. Alleine im ersten Halbjahr 2020 wurden im Rahmen der Abfederungsmassnahmen rund 18 Milliarden Franken ausgegeben. Dazu kamen noch die vergebenen verbürgten Covid-Kredite in einem ähnlichen Umfang.

Welche Massnahmen sehen Sie vor, falls es nicht ausreicht?
Falls sich die Situation deutlich verschlechtern sollte, hat der Bundesrat dem Parlament eine Delegationsnorm zur Errichtung eines neuen Kreditprogramms vorgeschlagen. Würde die Kreditversorgung nicht mehr ausreichend funktionieren, könnte der Bundesrat damit auf Verordnungsstufe ein neues Solidarbürgschaftssystem errichten. Die Kantone können über die Bedingungen bei der Auszahlung entscheiden.

Wie lange wird das ungefähr dauern?
Erste Kantone werden voraussichtlich diesen Monat bereit sein, andere im Januar oder Februar 2021. Viele Kantone müssen zur Bereitstellung der Unterstützungen bei den Parlamenten zusätzliche Kredite beantragen. Die Kantone sind mit Hochdruck daran, hier rasche Lösungen zu finden. Das Seco wird die von den Kantonen einzureichenden Regelungen so rasch wie möglich prüfen und genehmigen, damit die Kantone Sicherheit betreffend die Bundesunterstützung haben.

Für viele Betriebe wird es zu spät sein, wenn die Gelder erst in ein paar Monaten fliessen, weil die Reserven bereits mit der ersten Welle aufgebraucht wurden.
Wir befinden uns in einer anderen Situation als im Frühling. Die Versorgung mit Geschäftskrediten durch die Banken ist aktuell gewährleistet. Den Unternehmen stehen also normale Bankkredite zur Verfügung, sofern die Banken sie als kreditwürdig einstufen. Mit der Kurzarbeitsentschädigung deckt der Bund zudem einen grossen Teil der Lohnkosten. Gerade in der Gastronomie sind die Lohnkosten ein relevanter Teil der mittelfristigen Fixkosten der Unternehmen.

Weshalb geht es jetzt so lange, bis Geld ausbezahlt wird? Im Mai dauerte es teilweise nur eine halbe Stunde.
Bei den Härtefallhilfen geht es um eine rasche und gezielte Abfederung der negativen Folgen von Covid-19 bei schwer betroffenen Unternehmen. Sie basieren auf einer Einzelfall­- prüfung – nach den Kriterien, wie sie uns das Parlament gestellt hat. Das geht nicht in einer halben Stunde. Die Kantone müssen für jedes Gesuch eines Unternehmens prüfen, ob die Anspruchskriterien erfüllt sind. Da anders als beim Covid-Kreditprogramm im Frühjahr auch nichtrückzahlbare Hilfen ausgezahlt werden können, ist es umso wichtiger, die Gesuche gewissenhaft zu prüfen. Wir dürfen nicht vergessen: Es handelt sich dabei um Steuergelder. Wir sind den Steuer­zahlern einen sorgfältigen Umgang mit Steuermitteln schuldig.

Nur wenige Firmen erfüllen die Kriterien für Härtefallhilfen. Sind die Hürden nicht zu hoch?
Die Verordnung ist bewusst so gestaltet, dass nur Unternehmen unterstützt werden, die eine realistische Überlebenschance haben. Es ist damit zu rechnen, dass dies nicht bei allen Unternehmen der Fall ist. Die Unterstützungen von Bund und Kantonen sind aus Steuermitteln finanziert. Sie sollen denjenigen Unternehmen zugutekommen, die nach der Krise wieder auf eigenen Füssen stehen können. Ein Kriterium besagt, dass Betriebe eine Umsatzeinbusse von mindestens 40 Prozent im Vergleich zu 2019 aufweisen müssen. Was ist mit jenen, die einen Rückgang von 39 Prozent erleiden?
Es ist effektiv so, dass Unternehmen, die die Anforderungen nicht erfüllen, keine Unterstützung erhalten, auch wenn sie die Anforderungen nur knapp verfehlen. Wenn es in einem Kanton sinnvoll ist, kann er beschliessen, Unternehmen, die unter dieser definierten Schwelle sind, ebenfalls zu berücksichtigen. Hier würde der Bund jedoch nicht mitfinanzieren. Ein ordnungspolitischer Grundsatz besagt, dass die Marktteilnehmer die unternehmerischen Risiken tragen. Halten Sie es für richtig, dass die Unternehmen das Risiko tragen müssen, jederzeit vom Staat geschlossen zu werden?
Internationale Studien zeigen, dass der Einbruch der wirtschaftlichen Tätigkeit in verschiedenen Ländern etwa zur Hälfte je auf Regierungsmassnahmen und auf individuelle Verhaltensanpassungen zurückzuführen ist. Der Grundsatz, dass der Staat nicht das Risiko der Eigentümer oder des Investors übernimmt, gilt auch in der aktuellen Krise. Eine umfassende Umsatzentschädigung durch die Steuerzahler, wie sie beispielsweise in Deutschland oder Österreich geplant ist, halte ich für falsch. Es ist dagegen richtig, dass wir mit der KAE einen Teil der Kosten der Unternehmen übernehmen. Zudem setzt sich der Bundesrat auch weiterhin dafür ein, eine gute Balance zwischen den notwendigen gesundheitspolitischen Massnahmen und der Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit zu finden. Es wird sich in den kommenden Wochen zeigen, ob wir dies in der aktuellen zweiten Welle besser schaffen.

Halten Sie eine Strukturbereinigung in der Gastronomiebranche für notwendig? Falls ja, weshalb?
Strukturwandel ist ein stetiger Prozess, oft ausgelöst durch technologischen Wandel oder gesellschaftliche Tendenzen. Meistens erkennen wir den Strukturwandel erst im Nachhinein. Der Bundesrat besitzt leider keine Glaskugel, welche ihm erlaubt, den Strukturwandel vorherzusehen. Niemand weiss derzeit mit Sicherheit, ob nach der Krise die Nachfrage über alle Gastronomieangebote hinweg gleich stark zurückkehrt. Es ist beispielsweise denkbar, dass die Nachfrage nach Geschäftsreisen und -hotels mit der vermehrten Durchführung von Videokonferenzen abnimmt. Es kann aber auch sein, dass dies ein rein temporäres Phänomen ist. Der Bundesrat kann daher auch nicht beurteilen, ob eine Strukturbereinigung notwendig ist.

Was entgegnen Sie Kritikern, die davor warnen, dass langfristig wertvolle Strukturen zerstört werden, wenn nicht umgehend zusätzliche finanzielle Zuschüsse gesprochen werden?
Wie erwähnt, der Bundesrat befindet sich auf einer Gratwanderung. Mit den aktuellen Abfederungsmassnahmen wollen wir den langfristig überlebensfähigen Unternehmen helfen, wir wollen aber den Strukturwandel nicht verhindern. Laut Seco dürfte die Erholung des Tourismus in der Schweiz bis 2024 dauern.

Welche Massnahmen sieht der Bundesrat vor, um die touristischen Unternehmen zu unterstützen?
Gemäss den aktuellsten Tourismusprognosen dürfte es tatsächlich noch länger dauern, bis die Nachfrage das Vorkrisenniveau wieder erreicht hat – bei der Nachfrage aus dem Ausland rechnen wir erst Ende 2023 damit. Am 1. Dezember ist die Härtefallverordnung in Kraft getreten. Damit wird das bestehende Massnahmenpaket des Bundes bedarfsgerecht erweitert. Wir werden die Lage aber weiter genau beobachten. Im Tourismusbericht 2021 werden wir eine umfassende Lagebeurteilung vornehmen und die Stossrichtungen der Tourismuspolitik ab 2022 festlegen. Es ist vorgesehen, dass der Bundesrat den Tourismusbericht 2021 im vierten Quartal 2021 gutheissen wird. Massenmedien und Mitglieder der Task Force fordern härtere Massnahmen im Kampf gegen das Virus.

Inzwischen aber ist der Bundesrat auf einen eigenen, pragmatischen Kurs geschwenkt. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Es hat kein Sinneswandel stattgefunden. Wir haben aber in der ersten Welle und auch im Sommer Erfahrungen gesammelt. Die heutige Ausgangslage ist somit eine andere und mit ihr hat sich auch unsere Lagebeurteilung verändert. Der Bundesrat verfolgt die epidemiologische Lage nach wie vor sehr eng und ist bereit, wenn nötig Massnahmen zu ergreifen.

Wie erlebten Sie persönlich die fünf Tage in der Quarantäne? Wie haben Sie sich mit dem Essen organisiert?
Ich war zu Hause in Bursins VD und hatte selbstverständlich Telefon und Computer dabei. Meine Frau hat wie immer hervorragend dafür gesorgt, dass ich nicht verhungere. Und wie es sich gehört, habe ich im schlimmsten Fall auch einen angemessenen Notvorrat, inklusive einer feinen Flasche Wein (lacht).

Wie verbringen Sie die Feiertage?
Auch in unserer Familie werden wir uns an die dann im Waadtland gültigen Vorschriften bezüglich Menschenansammlungen halten. Es werden zweifellos ruhige Weihnachtstage werden. Aber wie heisst es doch schon im Weihnachtslied: Stille Nacht, heilige Nacht …